Die zweite Entscheidung kommt vom KG. Sie ist schon etwas älter, passt aber ganz gut zur Diskussion um die Überlastung der Gerichte. Es handelt sich um den KG, Beschl. v. 15.01.2018 – (4) 161 HEs 62/17. Ergangen ist er im Haftprüfungsverfahren nach den §§ 121, 122 StPO. Das KG hat den Haftbefehl gegen den Angeklagten aufgehoben. Es verneint die „besondere Schwierigkeit“ der Ermittlungen und verneint dann auch einen „sonstigen wichtigen Grund für die Fortdauer der Untersuchungshaft“:
Dazu führt es u.a. zur Überlastung von Ermittlungsbehörden und Gerichten aus:
aa) Ein solcher Grund ist nur dann gegeben, wenn das Verfahren durch Umstände verzögert worden ist, denen Strafverfolgungsbehörden und Gerichte durch geeignete Maßnahmen nicht haben entgegen wirken können. Maßgeblich ist insoweit, ob die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte alle zumutbaren Maßnahmen getroffen haben, um die Ermittlungen so schnell wie möglich abzuschließen und ein Urteil herbeizuführen (vgl. Senat StV 2015, 45; Meyer-Goßner/Schmitta.O., Rn. 19, 21 m.w.Nachw.). Die in § 121 Abs. 1 StPO bestimmte Sechs-Monats-Frist stellt in diesem Zusammenhang lediglich eine Höchstgrenze dar. Aus der genannten Vorschrift kann nicht etwa der Schluss gezogen werden, dass ein Strafverfahren bis zu diesem Zeitpunkt nicht unter Berücksichtigung des Beschleunigungsgebots geführt werden müsse (vgl. nur Senat, Beschlüsse vom 18. August 2017 – [4] 161 HEs 33/17 [15/17] –, 9. August 2013 – [4] 141 HEs 44/13 [23/13] – und 13. August 2012 – [4] 141 HEs 63/12 [27/12] – m.w.Nachw.). Vielmehr verlangt der in Art. 2 Abs. 2 GG verankerte Beschleunigungsgrundsatz, dass die Strafverfolgungs-behörden und Strafgerichte von Anfang an alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. An den zügigen Fortgang des Verfahrens sind umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft bereits andauert (vgl. Senat, Beschluss vom 26. April 2010 – [4] 1 HEs 7/10 [3-4/10] – m.w.Nachw.). Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch eines Beschuldigten und dem öffentlichen Strafverfolgungs-interesse kommt es in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann (vgl. Senat, Beschluss vom 9. August 2013 – [4] 141 HEs 44/13 [23/13] – m.w.Nachw.). Nicht entscheidend ist dabei, ob eine einzelne verzögert durchgeführte Verfahrenshandlung ein wesentliches Ausmaß annimmt, sondern ob die Verfahrensverzögerungen in ihrer Gesamtheit einen Umfang erreichen, der die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht mehr erlaubt (vgl. BVerfG StraFo 2009, 375; KG StraFo 2007, 26; Senat StraFo 2013, 506; Beschluss vom 4. Dezember 2009 – 4 Ws 123/09 –; jeweils m.w.Nachw.). Je nach Sachlage kann bereits eine vermeidbare Verfahrensverzögerung von wenigen Wochen mit dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen unvereinbar sein (vgl. BVerfG StV 2007, 644; OLG Naumburg StV 2007, 364; Senat StraFo 2013, 505; jeweils m.w.Nachw.), wobei zu beachten ist, dass das in Haftsachen geltende Gebot der besonderen Verfahrensbeschleunigung im Jugendstrafverfahren eine noch einmal gesteigerte Ausprägung findet (vgl. KG, Beschluss vom 19. März 2011 – [5] 1 HEs 24/01 [5/01] – [juris]; Senat StraFo 2013, 502; Beschluss vom 6. Dezember 2011 – [4] 1 HEs 78/11 [60/11] – m.w.Nachw.).
bb) In Bezug auf eingetretene Verzögerungen kommt es nicht auf ein „Verschulden“ der bei den Ermittlungsbehörden oder Gerichten handelnden Amtswalter an, sondern allein darauf, ob die Verzögerungen der Sphäre des Staates zuzurechnen sind oder nicht (vgl. BVerfG StV 2006, 703). Die nicht nur kurzfristige, unvorhersehbare Belastung der mit Untersuchungshaftsachen befassten Spruchkörper infolge Häufung anhängiger Sachen oder unzureichender personeller Ausstattung, der nicht durch alle möglichen gerichtsorganisatorischen Mittel, notfalls unter Heranziehung von Zivilrichtern, begegnet worden ist, stellt grundsätzlich keinen wichtigen Grund dar (vgl. Meyer-Goßner/Schmitta.O., Rn. 22 mit zahlr. Nachw.; zu überlastungsbedingten Verfahrensverzögerungen nochmals ausführlich: OLG Bremen, Beschluss vom 20. Mai 2016 – 1 HEs 2/16; 1 HEs 3/16 – [juris]; s. auch KG, Beschluss vom 3. Juni 2016 – [5] 141 HEs 41/16 [8/16] –; Senat StV 2017, 450).
Das BVerfG hat sich hierzu zuletzt (StV 2015, 39 = JR 2014, 488 mit zust. Anm. Schäfer) nochmals in aller Klarheit wie folgt geäußert: „Die Überlastung eines Gerichts fällt – anders als unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse – in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Dem Beschuldigten darf nicht zugemutet werden, eine längere als die verfahrensangemessene Aufrechterhaltung des Haftbefehls nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte zu genügen (BVerfGE 36, 264 <275>). (…) Kann dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot in Haftsachen nicht Rechnung getragen werden, weil der Staat seiner Pflicht zur verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte nicht nachkommt, haben die mit der Haftprüfung betrauten Fachgerichte die verfassungsrechtlich gebotenen Konsequenzen zu ziehen, indem sie die Haftentscheidung aufheben; ansonsten verfehlen sie die ihnen obliegende Aufgabe, den Grundrechtsschutz der Betroffenen zu verwirklichen (vgl. BVerfGK 6, 384 <397>)“.
Diese Grundsätze haben gleichermaßen für die Staatsanwaltschaft und ihre Ermittlungspersonen zu gelten. Auch die – nicht nur kurzfristige, auf unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse zurückgehende – Überlastung der Ermittlungsbehörden infolge einer Häufung anhängiger Untersuchungshaftsachen und/oder unzureichender personeller Ausstattung kann nicht als wichtiger Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO anerkannt werden. Deren Überlastung fällt, wie die eines Gerichts (vgl. BVerfG a.a.O.), in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Der Beschuldigte darf nicht länger als im o.g. Sinne verfahrensangemessen in Untersuchungshaft gehalten werden, nur weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht, (auch) die Ermittlungsbehörden personell und sachlich so auszustatten, dass sie ihren Aufgaben bei der Aufklärung und Verfolgung von Straftaten in angemessener Zeit nachkommen können, zu genügen.“
Und dann wird nichts „gesund gebetet“, sondern:
cc) Bei Anwendung der dargestellten Rechtsgrundsätze zeigt sich, dass die Sachbehandlung im Ermittlungsverfahren den einzuhaltenden Anforderungen an die besondere Verfahrensbeschleunigung in Haftsachen nicht genügt hat.
…….
dd) Die mit der späten Anklageerhebung verbundene Verfahrensverzögerung von zwei Monaten kann die nunmehr mit der Sache befasste Jugendkammer nicht mehr hinreichend ausgleichen.
Zwar genügt die Sachbehandlung im gerichtlichen Verfahren für sich genommen dem Gebot besonderer Verfahrensbeschleunigung. Die Prüfung der Anklageschrift ist schnell geschehen und das Zwischenverfahren umgehend eingeleitet worden. Mit Verfügung der Anklagezustellung am 8. Dezember 2017 ist eine – angesichts des Aktenumfangs und Verfahrensstoffs sicher nicht unangemessen lange – Frist zur Stellungnahme von (nur) zehn Tagen bestimmt worden, mit deren Ablauf frühestens in der 51. Kalenderwoche 2017 Eröffnungsreife eintreten konnte. Mit dem geplanten Beginn der Hauptverhandlung am 1. März 2018 hält sich die Kammer deutlich innerhalb der nach verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung zur Wahrung des Beschleunigungsgebots in der Regel einzuhaltenden Frist von drei Monaten zwischen Eröffnungsreife und Beginn der Hauptverhandlung (vgl. BVerfG StV 2008, 421; Senat, Beschluss vom 5. August 2011 – [4] 1 HEs 39/11 [30-31/11] – jeweils m.w.Nachw.) und des von den Strafsenaten des Kammergerichts regelmäßig noch für hinnehmbar erachteten Zeitraums von vier Monaten zwischen Anklageerhebung und Beginn der Hauptverhandlung (vgl. etwa Senat StraFo 2010, 26 m.w.Nachw.). Auch die von der Kammer vorgesehene weitere Gestaltung der Hauptverhandlung erfüllt die Anforderungen an die in Haftsachen gebotene konzentrierte Durchführung der Hauptverhandlung mit mehr als nur einem durchschnittlichen Hauptverhandlungstag pro Woche (zur Notwendigkeit einer genügenden Verhandlungsplanung und Verhandlungsdichte vgl. BVerfG StV 2008, 198, 199; Senat, Beschluss vom 17. September 2010 – 4 Ws 93/10 –, jeweils m.w.Nachw.).
Ein hinreichender Ausgleich der im Ermittlungsverfahren eingetretenen Verzögerung, der bei einem – unabhängig von der Auslastung der Kammer mit anderen beschleunigungsbedürftigen Haft- und Unterbringungssachen schon im Hinblick auf den umfangreichen Verfahrensstoff und die im Zwischen- und Hauptverfahren einzuhaltenden Fristen unrealistisch erscheinenden – Beginn der Hauptverhandlung vor Ende Januar 2018 hätte angenommen werden können, ist der Jugendkammer aber auch bei Ausschöpfung aller ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht möglich.