Die Frage: „Muss der Strafrichter Sozialrecht können?“ muss man. m.E. mit „Ja“ beantworten, wenn man OLG Hamm, Beschl. v. 16.02.2012 – III-5 RVs 113/11 in der Praxis umsetzt. Denn der 5. Strafsenat des OLG Hamm verlangt, wenn einem Angeklagten vorgeworfen wird, staatliche Sozialleistungen betrügerisch erlangt zu haben, dass die tatrichterlichen Entscheidungsgründe in nachvollziehbarer Weise zu erkennen geben müssen, dass und inwieweit auf die angeblich zu Unrecht bezogenen Beträge nach den sozialhilferechtlichen Bestimmungen tatsächlich kein Anspruch bestand.
Im Rahmen der getroffenen Feststellungen darf sich das erkennende Gericht dabei auch nicht mit dem Hinweis begnügen, dass die Rückzahlungspflicht des Angeklagten bestandskräftig festgestellt sei. Eine Verurteilung nach § 263 StGB wegen betrügerisch erlangter öffentlicher Leistungen setze regelmäßig voraus, dass der Tatrichter selbst nach den Grundsätzen der für die Leistungsbewilligung geltenden Vorschriften geprüft hat, ob und inwieweit tatsächlich kein Anspruch auf die beantragten Leistungen bestand.
Wer ma so einen Bescheid über öffentliche Leistungen gesehen hat, kann den Tatrichtern da nur viel Spaß wünschen. Und: Für die Revision schlummern da natürlich eine ganze Reihe von Angriffspunkten.
Die Entscheidung dürfte auch in Verfahren wegen des Vorwurfs der Verletzung der Unterhaltspflicht Relevanz haben, da die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal ist. Somit dürften familienrechtliche unerlässlich sein.
Beides – familien- und sozialrechtliche – Kenntnisse sind zwingend erforderlich, um beurteilen zu können, ob der objektive Tatbestand überhaupt erfüllt ist. Das trifft neben Straf- auch Bußgeldrichter! In den mir in die Quere gekommen Verfahren mit sozialrechtlichem Bezug wussten die Angeklagten/Betroffenen nicht selten gar nicht, dass die zugrundeliegenden sozialrechtlichen Bescheide falsch und die Forderungen der Behörde rechtswidrig sind; sie hatten nur so ein ungutes Gefühl. Ich will ja keine Behördenschelte betreiben, aber die Erfolgsquote am SG ist immens. Auffallend ist, dass in dieser Materie selten Verteidiger hinzugezogen werden. Dann steht und fällt alles mit dem Richter, ob aus sozialrechtlichem Unrecht nicht noch strafrechtliches Unrecht wird. Doch wieviele Kollegen kennen sich so gut mit Sozialrecht aus, um das zu verhindern? Sozialrecht wurde während meiner Studienzeit eher nicht gelehrt und wer nicht durch Zufall mal am SG war, hat womöglich noch nicht mal ein Bewusstsein für die häufig recht verzwickten Probleme.
Dies und die dem Straf- und vorallem Bußgeldrichter real pro Akte zur Verfügung stehende Zeit, stimmen mich äußerst nachdenklich.
Sehr schön! Bestes Beispiel aus einer derzeit laufenden Hauptverhandlung, bei der sich die Anklage nur auf den Rückforderungsbescheid stützt:
Frage der Verteidigung an den Mitarbeiter der Leistungsabteilung:
>>Können Sie mir und dem Gericht erklären, wie sich die Rückforderung errechnet und im speziellen Fall zusammensetzt?<> Nein, kann ich nicht. Das macht der Computer!<<
Wir sitzen jetzt schon 4 Tage und es zeichnet sich ab, dass der Angeklagten mehr Leistungen zugestanden hätten, als tatsächlich gewährt wurde. 😀
Die Idee, dass der Strafrichter nicht an Bescheide (SGB-Leistungen) und Zivilurteile (Unterhalt) gebunden ist und alles selbst zu prüfen hat, kann aber auch nach hinten losgehen. Vielleicht kommt irgendwann ein Obergericht auf die Idee, dass die Strafgerichte nicht mehr an die Feststellung der Sozialversicherungsfreiheit gebunden sind und selbst beurteilen dürfen, ob jemand nicht doch nach 266a StGB strafbar ist, auch wenn er oder der Arbeitnehmer sich mit ein paar dürftigen Angaben einen Feststellungsbescheid verschafft hat, obwohl klar eine abhängige Beschäftigung vorliegt.
Abgesehen davon dürfte der Revisionserfolg vorläufig sein. Da es in Grenzfällen meist nur darum geht, ob bestimmte Entgeltgrenzen beim Zuverdienst überschritten sind, kann sich das Gericht vermutlich damit begnügen, festzustellen, welcher Anspruch nach SGB mindestens bestand und ob daher ein Zuverdienst überhaupt anzurechnen ist.
Wenn es doch nur so einfach wäre. Von wegen bisschen Anrechnen und das war´s. Haben Sie schon mal einen solchen Bescheid auseinandergenommen? Nichts für ungut.
ich hatte neulich mal einen in der Hand m.d.B. um Prüfung. sorry, habe ich gesagt, das geht gar nicht, oder nur nach einem mehrwöchigen Kurs. Es oist m.E. für jemanden, der nicht täglich damit umgeht, nicht mehr nachvollziehbar.
@meine5cent:
Da es in Grenzfällen meist nur darum geht, ob bestimmte Entgeltgrenzen beim Zuverdienst überschritten sind, kann sich das Gericht vermutlich damit begnügen, festzustellen, welcher Anspruch nach SGB mindestens bestand
Das Problem ist halt, dass die Höhe des Anspruchs gerade auch vom Einkommen abhängig ist. Wenn angegeben wurde, dass überhaupt kein Verdienst erzielt wird und auf dieser Grundlage die Leistungsbewilligung erfolgt ist, aber doch ein Verdienst erzielt wurde, ist das noch relativ(!) einfach – wobei die „Grenzfälle“ in der Regel gar nicht erst zum Gericht gelangen, weil die StA bei nicht allzu großen Schadenssummen wirklich fast alles einstellt, was nicht bei Drei auf den Bäumen ist.
Wirklich übel wird es dann, wenn wir z. B. eine sechsköpfige Familie haben, bei der verschiedene Mitglieder immer mal wieder monatsweise arbeiten, teilweise mehrere Jobs haben, dann vergessen wird, einen davon anzugeben etc. pp.
Es gibt wohl kaum einen Bereich amtsgerichtlicher Praxis, in dem derart viel schief läuft wie in den Fällen des (vermeintlichen) Sozialleistungsbetruges, insbesondere wenn die sog. JobCenter im Spiel sind. Halbwegs „normal“ laufen noch die Fälle, in denen der alleinstehende geständige Angeklagte eine Vollzeittätigkeit nicht mitteilt, bei der er so viel verdient, dass Sozialleistungsansprüche evident ausgeschlossen sind. Ist dagegen der Verdienst gering und leben in der Bedarfsgemeinschaft noch weitere Personen mit mehreren und/oder wechselnden Jobs versteht kein Mensch im Saal, ob die Berechnung richtig ist oder nicht, zumal die von Herrn Franek zitierte Aussage eines Behördenmitarbeiters , der auf die Rechenkünste seines Computers verwies, leider alles andere als ein Einzelfall ist. Letztlich steht nur fest, dass der Angeklagte wohl zuviel Geld bekommen hat, wieviel genau weiß dagegen niemand. Oft wird dann halt zwischen Gericht, StA und Verteidigung irgendein Betrag ausgehandelt, mit dem alle leben können und der mit etwas Glück halbwegs hinkommt, und dann packt man das Ganze unter Berücksichtigung eines großzügig bemessenen Sicherheitsabschlages nach § 153a II StPO ein. Ist der Angeklagte (wieder) arbeitslos, umgeht man das Problem der Schadenshöhe, in dem man statt einer Geld- eine Arbeitsauflage macht. Mit noch etwas mehr Glück hat man einen Sitzungsvertreter da, der sich im eigenen Dezernat mit denselben Problemen herumschlagen muss, dann klappt oft auch § 153 II StPO.
Die Schadenshöhe ist aber beileibe nicht das einzige Problem: so landen immer wieder Unschuldige auf der Anklagebank, weil Mitteilungen beim JobCenter untergehen. Hierzu ein selbst erlebtes Beispiel: der Angeklagte erklärt nach Zustellung der Anklageschrift, er habe seine Arbeitsaufnahme telefonisch mitgeteilt und benennt die Sachbearbeiterin, gegenüber der die Mitteilung erfolgte, namentlich. Aufgrund dieser Einlassung geht die Akte zurück zum HZA mit dem Auftrag, die Mitarbeiterin zu befragen. Nach einer Woche geht die Akte wieder bei Gericht ein mit der Aussage der Mitarbeiterin, sie habe in der Akte keine entsprechende Gesprächsnotiz gefunden, also habe es den Anruf nicht gegeben.
In der Hauptverhandlung bleibt der Angeklagte, inzwischen der Verzweiflung nahe, bei seiner Einlassung. Die geladene Behördenmitarbeiterin erklärt zunächst, es gebe eine Dienstanweisung, wonach über alle Gespräche ein Vermerk zu fertigen sei. Daher: kein Vermerk, kein Anruf.
Auf die Nachfrage, ob denn immer entsprechend dieser Dienstanweisung gehandelt werde, hieß es dann, dass dies gar nicht möglich sei, da sie täglich zwischen 60 und 80 Anrufe erhalte und schon zeitlich gar nicht in der Lage sei, alles aufzuschreiben, was am Telefon besprochen wird. Es könne also durchaus sein, dass der Angeklagte angerufen hat, das HZA habe hiernach aber nicht gefragt. Auf die Frage, warum trotz des wohl erfolgten Anrufs eine Strafanzeige erfolgte, hieß es, dass dafür eine andere Abteilung zuständig sei. Am Ende der Verhandlung stand dann ein auch von der StA beantragter Freispruch, und der Steuerzahler durfte mal wieder ein kropfunnötiges Strafverfahren bezahlen.
In einem anderen Verfahren erklärte die Angeklagte, sie habe alle Veränderungen stets per Email mitgeteilt, die Email-Adresse habe sie von der Behörde erhalten. Der vom HZA als sachverständiger (!) Zeuge benannte Mitarbeiter wusste hierzu nichts zu berichten, da er nicht Sachbearbeiter sei und deshalb den Fall eigentlich gar nicht kenne. Also gab es einen Fortsetzungstermin, bei dem der nunmehr geladene Sachbearbeiter zunächst mitteilte, durchaus einige Emails von der Angeklagten erhalten zu haben. Leider leider könne deren Inhalt nicht mehr überprüft werden, da es in seiner Abteilung üblich sei, eingegangene Emails nach 2 Wochen zu löschen. Die Frage, ob denn wenigstens Ausdrucke zur Akte genommen werden, verneinte er mit dem Hinweis, dass Papier gespart werden solle. Leider haben sie dann das Papier für die Anzeige nicht gleich miteingespart…
Wenn ich das so lese, fällt mir auf – ich kann es nicht nachvollziehen, es stimmt mich nachdenklich. Da muss sich ein Sozialrecht Fachanwalt für mich speziell nochmal Zeit nehmen. Gruß, Thorsten
Die Frage stimmt schon traurig. In einem Rechtsstaat erwarte ich als Angeklagter, das der Strafrichter den Anklagevorwurf umfassend rechtlich prüft und würdigt und dies nicht Dritten überlässt.