Die zweite Entscheidung zu § 185 StGB kommt mit dem BayObLG, Beschl. v. 15.08.2023 – 204 StRR 292/23 – auch aus Bayern.
Der Angeklagte ist wegen Beleidigung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Dagegen die Revision, die hinsichtlich des Strafausspruch Erfolg hatte. Insoweit komme ich auf den Beschluss noch einmal zurück. Hier soll es heute um die Frage der Beleidigung (§ 185 StGB) gehen.
Das BayObLG ist von folgenden Feststellungen ausgegangen:
„a) Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass sich der Angeklagte zur Tatzeit nach vorheriger Terminabsprache in den Büroräumlichkeiten des Obergerichtsvollziehers F… zur Abgabe einer Vermögensauskunft eingefunden habe. „Da der Angeklagte sich auf Aufforderung des Obergerichtsgerichtsvollziehers F… weigerte seine Mütze abzunehmen, erachtete der Gerichtsvollzieher ihn als nicht ausreichend identifizierbar und belehrte ihn dahingehend, dass er in diesem Fall von einem unentschuldigten Nichterscheinen ausgehen und gegebenenfalls ein Erzwingungshaftbefehl beantragt werden müsse. Anschließend beendete der Obergerichtsgerichtsvollzieher den Termin.“
Nachdem der Angeklagte sich an die Polizei um Hilfe gewandt habe und durch diese identifiziert worden sei, habe sich der Obergerichtsgerichtsvollzieher bereit erklärt, den Termin mit dem Angeklagten doch noch durchzuführen, diesen jedoch gebeten, noch die Durchführung eines weiteren Termins mit der zwischenzeitlich eingetroffenen Zeugin S… vor dem Büro abzuwarten. Daraufhin habe der sich vor dem Büro aufhaltende Angeklagte den Obergerichtsgerichtsvollzieher über zehn bis fünfzehn Minuten hinweg lauthals und wiederholend mit den Worten „Wichser“ und „Schwuchtel“ bezeichnet, wobei er diese Beleidigungen mit dem Zusatz „meiner Meinung nach, sind sie …“ verbunden habe. Der Angeklagte habe beabsichtigt, durch sein Verhalten seine Missachtung gegenüber dem Obergerichtsvollzieher auszudrücken. Wie vom Angeklagten beabsichtigt habe sich der Geschädigte in seiner Person herabgesetzt und in seiner Ehre verletzt gefühlt…..“
Das BayObLG führt zur Frage, ob „Wichser“ und „Schwuchtel“ Schimpfwörter sind, aus:
„aa) Das Berufungsgericht sieht die Äußerungen „Wichser“ und „Schwuchtel“ zutreffend als gesellschaftlich verbreitete Schimpfwörter an.
(1) Die Verwendung des Begriffes „Wichser“ wird üblicherweise als Beleidigung gemeint und in der Regel auch ebenso aufgefasst; er stellt ein Synonym für „Arschloch“ dar mit der überaus negativen Konnotation eines schlechten („miesen“) Charakters (s. unter wikipedia).
(2) Schwuchtel ist eine meist salopp und abwertend als Schimpfwort verwendete Bezeichnung für Schwule oder einen sich ‚weiblich‘ benehmenden Mann. Seltener kommt es als wertneutrale ironisierende Selbstbezeichnung vor, manchmal zur Differenzierung untereinander. Der Unterschied ist meist im Tonfall zu hören oder aus dem geschriebenen Zusammenhang zu entnehmen (s. unter wikipedia).
Während die Bezeichnung einer Person als „schwul“ je nach dem Kontext teilweise als wertneutral angesehen wird, aber auch als diskriminierend gilt und – etwa von Schülern – häufig als Schimpfwort verwendet wird (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 26.04.2022 – 15 W 15/22 –, juris Rn. 4 unter Hinweis auf eine entsprechende Studie), stellt im Vergleich hierzu die Bezeichnung als „Schwuchtel“ eher eine Herabwürdigung dar.
bb) Auch wenn die Bezeichnung des Geschädigten als „Schwuchtel“ und „Wichser“ verletzend formulierte Aussagen sind, werden sie grundsätzlich vom Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, das jedem das Recht gibt, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten, umfasst (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.10.1995 – 1 BvR 1476/91 –, BVerfGE 93, 266, juris Rn. 108; so auch zur Schmähkritik BVerfG, Kammerbeschluss vom 17.03.2021 – 2 BvR 194/20 –, NStZ 2021, 439, juris Rn. 47).
(1) Konstitutiv für die Bestimmung dessen, was als Äußerung einer „Meinung“ vom Schutz des Grundrechts umfasst wird, ist das Element der Stellungnahme, des Dafürhaltens, des Meinens im Rahmen einer geistigen Auseinandersetzung. Meinungen sind im Unterschied zu Tatsachenbehauptungen durch die subjektive Einstellung des sich Äußernden zum Gegenstand der Äußerung gekennzeichnet. Sie enthalten sein Urteil über Sachverhalte, Ideen oder Personen. Auf diese persönliche Stellungnahme bezieht sich der Grundrechtsschutz (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13.04.1994 – 1 BvR 23/94 –, BVerfGE 90, 241, juris Rn. 26 m.w.N.).
So verhält es sich bei den Äußerungen des Angeklagten, denen mangels anderweitiger Feststellungen des Berufungsgerichts jeglicher Tatsachenbezug fehlt und die somit als Werturteil anzusehen sind (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 22.06.1982 – 1 BvR 1376/79 –, BVerfGE 61, 1, juris Rn. 13 und 15).
(2) Werturteile genießen grundsätzlich den Schutz der Meinungsfreiheit, ohne dass es dabei auf deren Begründetheit, Werthaltigkeit, Richtigkeit oder Vernünftigkeit ankäme (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13.04.1994 – 1 BvR 23/94 –, BVerfGE 90, 241, juris Rn. 26 m.w.N.). Er besteht deswegen unabhängig davon, ob die Äußerung rational oder emotional, begründet oder grundlos ist und ob sie von anderen für nützlich oder schädlich, wertvoll oder wertlos gehalten wird. Dass eine Aussage scharf, übersteigert, polemisch oder verletzend überzogen formuliert ist, entzieht sie nicht schon dem Schutzbereich des Grundrechts der Meinungsfreiheit (BVerfG, Beschlüsse vom 13.04.1994 – 1 BvR 23/94 –, BVerfGE 90, 241, juris Rn. 26; vom 10.10.1995 – 1 BvR 1476/91 –, BVerfGE 93, 266, juris Rn. 108, jeweils m.w.N.; BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 14.06.2019 – 1 BvR 2433/17 –, NJW 2019, 2600, juris Rn. 16; vom 19.05.2020 – 1 BvR 2397/19 –, NJW 2020, 2622, juris Rn. 12 m.w.N.).
cc) Nach Artikel 5 Abs. 2 GG findet die Meinungsfreiheit ihre Schranken jedoch in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze und dem Recht der persönlichen Ehre. Dazu gehört auch § 185 StGB (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 10.10.1995 – 1 BvR 1476/91 –, BVerfGE 93, 266, juris Rn. 111; BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 14.06.2019 – 1 BvR 2433/17 –, NJW 2019, 2600, juris Rn. 17; vom 19.05.2020 – 1 BvR 2397/19 –, NJW 2020, 2622, juris Rn. 14 m.w.N.; vom 16.10.2020 – 1 BvR 2805/19 –, NJW 2021, 298, juris Rn. 13). Diese Vorschrift ist aber wiederum im Licht des eingeschränkten Grundrechts auszulegen, damit der wertsetzenden Bedeutung der Grundrechte auch auf der Ebene der Auslegung und Anwendung des Strafrechts Rechnung getragen werden kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.10.1995 – 1 BvR 1476/91 –, BVerfGE 93, 266, juris Rn. 117; st. Rspr.).
….“
Wegen der weiteren umfangreichen Ausführungen des BayObLg verweise ich auf den verlinkten Volltext. Hier dann nur noch die Leitsätze zu der Entscheidung:
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- Sofern weder eine Schmähung oder Schmähkritik noch eine Formalbeleidigung noch ein Angriff auf die Menschenwürde vorliegen, die eng umgrenzte Ausnahmekonstellationen darstellen, ist eine Einzelfallabwägung zwischen dem Persönlichkeitsrecht des Geschädigten und der Meinungsfreiheit des Angeklagten erforderlich.
- Wenn der Angeklagte einen Obergerichtsvollzieher während dessen rechtmäßiger Dienstausübung bei Anwesenheit Dritter über einen längeren Zeitraum als „Wichser“ und „Schwuchtel“ beschimpft, liegt eine nicht gerechtfertigte Beleidigung vor.