Und dann zum Schluss des Tages noch einmal der OLG Celle, Beschl. v. 31.03.2023 – 3 Ss 3/23. „Noch einmal“, weil ich über den hier schon einmal berichtet habe (vgl. hier: StPO II: Wirksamkeit des Eröffnungsbeschlusses, oder: Name des Angeklagten und Aktenzeichen fehlen).
Ich komme jetzt auf den Beschluss noch einmal wegen der Ausführungen des OLG zur Tagessatzhöe zurück:
„2. Die Festsetzung der Höhe der Tagessätze auf 200 EUR hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung indes nicht stand.
Gemäß § 40 Abs. 2 StGB bestimmt das Gericht die Höhe eines Tagessatzes unter Berücksichtigung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters, wobei in der Regel von dem Nettoeinkommen auszugehen ist, das der Täter durchschnittlich an einem Tag hat oder haben könnte. Wenn der Angeklagte – der zu Auskünften nicht verpflichtet ist – keine, unzureichende oder gar unzutreffende Angaben zu seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen macht, sind diese grundsätzlich durch Finanzermittlungen aufzuklären (vgl. Nr. 14 RiStBV). Eine Schätzung des Einkommens ist immer dann angezeigt, wenn eine Ausschöpfung der Beweismittel das Verfahren unangemessen verzögern würde oder der Ermittlungsaufwand zu der zu erwartenden Geldstrafe in einem unangemessenen Verhältnis stünde (BeckOK StGB/Heintschel-Heinegg, 45. Ed. 1.2.2020, StGB § 40 Rn. 18). Eine volle Ausschöpfung der zur Verfügung stehenden Beweismittel ist dabei nicht geboten. Jedoch darf nicht „ins Blaue hinein“ geschätzt werden; vielmehr setzt eine Schätzung die konkrete Feststellung der Schätzungsgrundlagen voraus; bloße Mutmaßungen genügen nicht. Die Grundlagen, auf welche sich die Schätzung stützt, müssen festgestellt und erwiesen sein sowie im Urteil überprüfbar mitgeteilt werden (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 1. Juni 2015 – 2 BvR 67/15 –, juris).
Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht in jeder Hinsicht gerecht.
Das Landgericht hat das Einkommen des Angeklagten auf 6.000 € netto nach Abzug seiner Unterhaltsverpflichtungen geschätzt, wobei es berücksichtigt hat, dass der Angeklagte nicht nur Geschäftsführer, sondern auch Gesellschafter eines „größeren“ Handwerksbetriebes mit einer „gewissen“ Anzahl von Angestellten sei. Zudem sei der Betrieb des Angeklagten auch Ausbildungsbetrieb und die Betriebsräumlichkeiten seien großzügig und gut ausgestattet.
Die getroffenen Feststellungen zu dem von dem Angeklagten betriebenen Handwerksbetrieb tragen nicht die Schlussfolgerung, dass der Angeklagte in dem relevanten Betrachtungszeitraum ein monatliches Nettoeinkommen von 6.000 Euro netto nach Abzug seiner Unterhaltsverpflichtungen erzielt hat.
Insoweit bleibt bereits im Ausgangspunkt die vom Landgericht in Ansatz gebrachte Höhe der abgezogenen Unterhaltsverpflichtungen unklar, denn das angefochtene Urteil erschöpft sich in der Mitteilung, ein Sohn des Angeklagten sei noch in der Ausbildung und werde von dem Angeklagten unterhalten. Das Urteil lässt jedoch Informationen dazu vermissen, ob die Ehefrau des Angeklagten ein eigenes Einkommen erzielt oder ob auch Unterhaltszahlungen des Angeklagten an seine Ehefrau in Abzug zu bringen waren.
Im Übrigen stellen sich die dargestellten Erwägungen des Landgerichts zur Höhe des Einkommens als bloße Mutmaßungen dar, denn das Urteil lässt konkrete Feststellungen zur Größe des Betriebes, zur Anzahl der Angestellten und Auszubildenden vermissen.
3. Da die Festsetzung der Tagessatzhöhe in aller Regel losgelöst vom übrigen Urteilsinhalt selbständig überprüft werden kann (vgl. BGHSt 27, 70, 72; 34, 90, 92) und hier keine Anhaltspunkte für eine andere Beurteilung bestehen, führt der festgestellte Mangel lediglich zu einer Aufhebung des angefochtenen Urteils in dem aus dem Beschlusstenor ersichtlichen Umfang und zu einer entsprechenden Zurückverweisung an das Berufungsgericht zur erneuten Festsetzung der Tagessatzhöhe.
Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
Zur Aufklärung der wirtschaftlichen Verhältnisse eines Angeklagten, der hierzu keine Angaben macht, können in zwei Schritten Finanzermittlungen durchgeführt werden. Zunächst kann die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) um Auskunft über die Kontostammdaten des Angeklagten ersucht werden (§ 24c Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 KWG). Ein solches Auskunftsersuchen ist nicht an eine bestimmte Schwere der zu verfolgenden Straftat gebunden und auch in Fällen nur leichter Kriminalität zulässig (vgl. OLG Stuttgart, Beschl. v. 13.2.2015 ? 4 Ws 19/15, NStZ 2016, 48). Nach Erhalt der Auskunft zu den Kontostammdaten können die betreffenden Kreditinstitute um Auskunft zu den dort geführten Konten des Angeklagten ersucht werden (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 27. April 2021 – III-2 RVs 11/21 –, juris). Alternativ kommt hinsichtlich der aufzuklärenden Einkommensverhältnisse auch die Anordnung einer Durchsuchung in Betracht, wobei allerdings die Möglichkeit der Finanzermittlungen sowie die Schätzungsbefugnis gem. § 40 Abs. 3 StGB in die Verhältnismäßigkeitsprüfung einzubeziehen sind (BeckOK StGB/Heintschel-Heinegg, 45. Ed. 1.2.2020, StGB § 40 Rn. 16).“
„Alternativ kommt hinsichtlich der aufzuklärenden Einkommensverhältnisse auch die Anordnung einer Durchsuchung in Betracht,“
Die Anordnung einer Durchsuchung, um die Einkommensverhältnisse aufzuklären?
Das ist aber schon ganz schön abgedreht.
Wenn man schon die Kreditinstitute abfragen kann, dann sollte man vielleicht auch mal die Finanzämter fragen.
Insgesamt ist das System, die Höhe der Tagesätze zu schätzen, extrem ungerecht, weil es ungerecht angewendet wird.
Es müsste insgesamt so umgestaltet werden, dass im Urteil nur noch die Anzahl der Tagessätze festgestellt wird und die Höhe der einzelnen Tagessätze dann im Nachgang von Rechtspflegern oder den Strafvollstreckungskammern nach entsprechenden Ermittlungen festgesetzt wird.
„Abgedreht“? Wieso? Wenn die Voraussetzungen vorliegen . .
Und warum noch ein Verfahren nach dem Verfahren? Die Festsetzung einer Strafe ist zudem insgesamt richterliche Aufgabe und nicht, auch nicht teilweise, die eines Rechtspflegers.
Ich wäre Ihnen übrigens sehr verbunden, wenn Sie sich für eine Email-Adresse entscheiden würden…
@Detlef Burhoff
„„Abgedreht“? Wieso? Wenn die Voraussetzungen vorliegen . .“
Naja, wenn die Voraussetzungen vorliegen……..
Wir wissen ja, dass Durchsuchungen recht schnell und unproblematisch genehmigt werden auch wenn die Voraussetzungen nicht vorgelegen haben. Und die hohe Eingriffsintensität einer Wohnungsdurchsuchung ist unstrittig. Aufgrund der Unverletzlichkeit der Wohnung sollten sich erst einmal andere Ermittlungsansätze aufdrängen. Den BVerfG-Beschluss „Unverhältnismäßige Durchsuchungsanordnung wegen sich aufdrängender milderer Ermittlungsmaßnahmen“ haben Sie doch hier vorgestellt, oder?
Eine Abfrage bei anderen Behörden wie dem Finanzamt wäre weniger Eingriffsintensiv.
„Und warum noch ein Verfahren nach dem Verfahren? “
Weil das Schätzen ganz offensichtlich nicht gut funktioniert und Strafen somit ungerecht sind.
Wenn der Richter schon den Anspruch erhebt, dass es seine Aufgabe ist, die Strafe festzusetzen, dann ist schwer verständlich, warum dieser Teil der Aufgabe, nämlich die Ermittlung des tatsächlichen Einkommens, so nachlässig erledigt wird. Es wird ja auch nicht nur „geschätzt“ ob jemand eine Tat begangen hat, oder?
In einem Verfahren nach dem Verfahren könnten die realen Einkommensverhältnisse ruhig und mit der gebotenen Genauigkeit durch Abfrage von Hintergrundinformationen auf Basis von Fakten besser bestimmt werden, als im 20 Minuten Verurteilungs-Takt der AG-Verhandlungen. Aus meiner Sicht besteht keinerlei Notwendigkeit, dass bereits im mündlichen Urteil der genaue Betrag des Tagessatzes festgestellt werden muss, oft genug nachdem der Angeklagte keinerlei Angaben zu seinem Einkommen gemacht hat und es demnach geschätzt wurde.
Und wenn Sie sich – als ehemaliger Richter verständlich – daran stören, dass in meinem Vorschlag ein Rechtspfleger die Höhe festsetzt, ja mei, man kann das ja einem Richter zur Unterschrift vorlegen, wird ja bei Durchsuchungsanordnungen, Haftbefehlen oder sogar Strafbefehlen auch so gemacht, dass der Staatsanwalt vorlegt und der Richter unterschreibt. Warum soll das ausgerechnet bei der Höhe der Tagessätze nicht gehen?
Die Idee Rechtspfleger entspringt dem Gedanken, nicht zu viel kostbare Richterarbeitszeit dafür zu verwenden, was ja offenbar das Ziel bei der erlaubten Schätzung des Einkommens ist. Die Höhe des Tagessatzes, als das vom Täter erzielte Nettoeinkommen an einem Tag, erscheint als eine überwiegend rechnerische Größe, die weniger richterliche Beteiligung erfordert, als die Feststellung der Schuld und der angemessenen Anzahl der Tagessätze.
Aus Amerika ist uns übrigens der Zweiteiler des Strafverfahrens wohl bekannt: Zunächst Erkenntnisverfahren für die Feststellunug der Schuld, dann – später – das eigenständige Bestrafungsverfahren zur Ermittlung der angemessenen Strafe oft sogar unter einem anderen Richter. Ein „Verfahren nach dem Verfahren ist“ also keinesfalls abwegig, sondern würde im Gegenteil vielleicht zu Ergebnissen führen, die auf Fakten und nicht auf Schätzungen beruhen und wäre deswegen möglicherweise gerechter.