Pflichti I: 2x atypischer, 1x typischer Rückwirkungsfall, oder: Änderung des Vorwurfs bzw. der Gesetzeslage

Bild von mohamed Hassan auf Pixabay

Der letzte „Pflichti-Tag“ liegt schon etwas zurück. Inzwischen sind bei mir wieder einige Entscheidungen von Kollegen eingegangen, so dass ich heute mal wieder nur Entscheidungen zur Pflichtverteidigung vorstelle.

Und ich beginne mit drei Entscheidungen zur rückwirkenden Bestellung, von denen zwei etwas untypisch sind.

Zunächst hier der LG Potsdam, Beschl. v. 19.12.2021 – 23 Qs 37/21. Die Staatsanwaltschaft legt dem Angeklagten mit der Anklageschrift eine gemeinschaftliche räuberische Erpressung in Tateinheit mit gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung begangen zu haben. So wird eröffnet. In der Hauptverhandlung weist das AG nach erfolgter Beweisaufnahme darauf hin, dass sich weder der Tatvorwurf der räuberischen Erpressung noch der Körperverletzung bestätigt hat und eine Nötigung verbleibt. Danach erfolgt mit Beschluss vom 03.09.2021 eine die vorläufige Einstellung des Verfahrens nach § 153a StPO. Mit Schriftsatz vorn 06.09.2021 beantragte der Verteidiger die Beiordnung als Pflichtverteidiger. Das AG lehnt ab, das LG ordnet auf die Beschwerde hin bei:

„Es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StPO vor. Dem Beschwerdeführer wird mit der zugelassenen Anklage ein Verbrechen zur Last gelegt und es ist aufgrund des Eröffnungsbeschlusses die Zuständigkeit des Schöffengerichts gegeben.

Das Verfahren ist bislang nicht endgültig eingestellt worden und kann durch das Amtsgericht nach zwischenzeitlich offenbar ergebnislos verstrichener Zahlungsfrist jederzeit wieder aufgenommen werden. Die damit lediglich vorläufige Einstellung nach § 153a Abs. 2 StPO hat auf die vorgenannten Beiordnungsgründe – anders als auf den Beiordnungsgrund des § 140 Abs. 2 StPO – keine Auswirkungen.

Für die vorgenannten Beiordnungsgründe ist weiterhin gleichgültig, wenn nach dem weiteren Verfahrensverlauf die Verurteilung nicht mehr wegen des angenommenen Verbrechens, sondern nur wegen eines Vergehens – hier: wegen einer Nötigung – zu erwarten ist. Vielmehr bleibt die einmal notwendige Verteidigung solange notwendig, bis rechtskräftig (§ 143 Abs. 1 StPO) entschieden ist, dass kein Verbrechen vorliegt (siehe Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage 2021, § 140 Rz. 21).

Eine rückwirkende Beiordnung kommt zwar nicht in Betracht (vgl. Brandenburgisches Oberlandesgericht 1. Beschluss vom 09. März 2020 – 1 Ws 19/20), ist aber vorliegend auch nicht gegeben, zumal es nach dem Verstreichen der Auflagenfrist nicht mehr allein in der Hand des Beschwerdeführers liegt, das Verfahren zu beenden.“

Zu der Entscheidung passt ganz gut der LG Chemnitz, Beschl. v. 13.12.2021 – 2 Qs 306/21 jug. In dem Verfahren geht es umden Vorwurf des Verbreitens kinderpornographischer Inhalte. Dem Beschuldigten wird zur Last gelegt, am 15.02.2021 von seiner Wohnanschrift aus einen ihm unbekannten Zeugen über die Internetplattform ,,Planetromeo“ kontaktiert und anschließend kinderpornografische Inhalte zugesandt zu haben. Aufgrund Beschlusses des AG Chemnitz vom 20.05.2021 findet dann am 27.07.2021 beim Beschuldigten eine Durchsuchung statt. Der Rechtsanwalt beantragte mit Schriftsatz vom 03.08.2021 seine Beiordnung als Pflichtverteidiger, die das AG ablehnt. Das LG ordnet auf die Bestellung hin dann bei:

„Die sofortige Beschwerde ist gem. § 143 Abs, VII Satz 1 StPO zulässig und hat auch in der Sache Aussicht auf Erfolg, da ein Fall des § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO vorliegt.

Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder vom 16.06.2021 (BGBl, 2021, Teil Nr. 33) am 01.07.2021 ist sowohl die Verbreitung, als auch der Besitz kinderpornografischer Inhalte nach § 184 b Abs. 1 Nr. 1 und § 184 b Abs. 3 StGB in der neuen Fassung mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr und damit als Verbrechen zu ahnden.

Nach dem bisherigen Ermittlungsstand ist nicht davon auszugehen, dass eine Verurteilung wegen Verbreitens kinderpornografischer Inhalte nach der zum 15.02.2021 geltenden Fassung des § 184 b StGB erfolgen kann, da der Zeuge die ihm gesandten Inhalte nur beschrieben hat, die Inhalte selbst aber auf seinen Medien nicht mehr vorhanden sind.

Selbst wenn der Nachweis des Verbreitens kinderpornografischer Inhalte unterstellt wird, besteht zum Besitz kinderpornografischer Inhalte, der erst mit der erfolgten Durchsuchung beendet ist, Tateinheit (zum Konkurrenzverhältnis Fischer, Kommentar zum StGB, 68. Auflage 2021, Rn. 45 zu § 184 b).

Für die Frage der Notwendigkeit der Bestellung eines Pflichtverteidigers war daher auf den 27.07.2021 und die neue Gesetzeslage abzustellen.“

Und dann der „typische“ Fall im AG Karlsruhe, Beschl. v. 04.01.2022 – 31 Gs 13/22:

Die zwischenzeitlich erfolgte Einstellung des Verfahrens hindert die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers ausnahmsweise nicht, wenn im Falle einer unverzüglichen Entscheidung die Beiordnung erfolgt wäre.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert