Heute dann ein StPO-Tag mit der „Unterthematik“ „Anforderungen an die Urteilsgründe“.
Und ich beginne mit dem BayObLG, Beschl. v. 24.09.2021 – 202 StRR 100/21 – zu den Urteilsanforderungen an die Beweiswürdigung bei einem Freispruch aus tatsächlichen Gründen vom Vorwurf des Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge aufgrund einer Bestellung im Darknet.
Das LG hat den Angeklagten frei gesprochen, und dazu im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:
„Der Angeklagte bewohnt gemeinsam mit seinem Vater eine Wohnung in der K.-Straße 3b in C. Die Wohnung befindet sich in einem Gebäudekomplex, der teilweise auch von einem Autohaus genutzt wird. Der Eingang zur Wohnung befindet sich auf der – von der Straßenseite abgewandten – Rückseite des Anwesens. Der zur Wohnung gehörende Briefkasten befindet sich nicht im Eingangsbereich zur Wohnung, sondern auf der der Straßenseite zugewandten Gebäudeseite. Der Zeuge H. betrieb im Darknet über eine Plattform unter den Namen ‚TS‘ und ‚E-Doc‘ einen umfangreichen Handel mit Betäubungsmitteln. Die Bestellungen liefen ohne persönlichen Kontakt ausschließlich über das Internet ab. In einer bei dem Zeugen H. aufgefundenen ‚Bestellliste‘ wurden der Name und die Anschrift des Angeklagten mit einem Vermerk, der auf eine Bestellung von 100 Gramm Haschisch der Sorte ‚VL‘ schließen lässt, aufgefunden. Zudem wurde von einem Gehilfen des Zeugen H. am 09.08.2018 ein Einwurfeinschreiben mit der Nummer RR876273981DE aufgegeben und am 10.08.2018 an eine nicht mehr feststellbare Ad-resse zugestellt. Auf dem Einlieferungsbeleg vom 09.08.2018 war zu dieser Sendungs-nummer handschriftlich der Nachname Angeklagten als Adressat vermerkt.“
Die Berufungskammer hatte „sich bei der gegebenen Beweislage nicht die Überzeugung verschaffen können, dass die Bestellung tatsächlich durch den Angeklagten erfolgt war, weil außer dem Umstand, dass der Name und die Adresse des Angeklagten bei der Bestellung angegeben worden waren, keine weiteren Anhaltspunkte dafür festgestellt werden konnten, dass die Bestellung durch den Angeklagten selbst erfolgte. Ebenso wenig wurde nach Auffassung der Berufungskammer nachgewiesen, dass die auf dem Einlieferungsbeleg mit dem Namen des Angeklagten versehene Sendung tatsächlich an diesen adressiert war und diesem auch zuging. Die von der Verteidigung vorgebrachte Möglichkeit, dass die Bestellung durch eine unbekannte dritte Person unter dem Namen des Angeklagten erfolgt sei und die Sendung von dieser aus dem Briefkasten entwendet worden sein konnte, könne nicht ausgeschlossen wer-den.“
Das gefällt dem BayObLG so nicht. Es hat aufgehoben:
„Gemessen daran begegnet die Beweiswürdigung des Landgerichts trotz des beschränkten Prüfungsmaßstabs durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Die Berufungskammer hat über-spannte Anforderungen an die Überzeugungsbildung gestellt und dabei eine Konstellation in ihre Überlegungen aufgenommen, für die es nicht nur keine Anhaltspunkte gibt, sondern die überdies bei näherer Betrachtung lebensfern ist.
a) Den Gründen des Berufungsurteils kann entnommen werden, dass nach Überzeugung der Berufungskammer unter dem Namen und der Anschrift des Angeklagten im Darknet beim Zeugen H. 100 g Haschisch bestellt wurden und das Betäubungsmittel nach Eingang des Kaufpreises von ca. 300 Euro mittels Bitcoin per Einwurfeinschreiben auch tatsächlich versandt wurde. Nach den Feststellungen des Berufungsurteils wurde die Sendung am 10.08.2019 auch zugestellt, wobei jedoch die Zustelladresse nicht ermittelt werden konnte. Unter Berücksichtigung dieser Beweisergebnisse und des Umstands, dass zusätzlich ein Einlieferungsbeleg, auf dem, wenn auch nur handschriftlich, der Familienname des Angeklagten vermerkt war, ergibt sich eine nahezu erdrückende Beweislage zulasten des Angeklagten, die durch Feststellungen der Berufungskammer, wonach der Angeklagte im August 2018 und Spätsommer 2019 „Kontakt mit Betäubungsmitteln“ gehabt habe, noch abgerundet wird.
b) Die Strafkammer hat trotz dieser starken Indizienlage Zweifel an der Täterschaft des Ange-klagten nicht zu überwinden vermocht, wobei diese auf nicht tragfähigen Überlegungen basieren.
aa) Dass sich die Berufungskammer nicht davon zu überzeugen vermochte, dass die nach den Urteilsfeststellungen tatsächlich zugestellte Sendung an die Adresse des Angeklagten geliefert wurde, weil auf dem Einlieferungsschein nur dessen Familienname handschriftlich vermerkt wurde, lässt bereits besorgen, dass die Strafkammer überspannte Anforderungen im Sinne einer absoluten Gewissheit zugrunde gelegt hat. Denn es bestehen bei der gebotenen, vom Tatrichter aber nicht hinreichend vorgenommenen Gesamtschau nicht die geringsten Anhalts-punkte dafür, dass die Lieferung an eine andere Adresse als diejenige, die auf den im Computer des Lieferanten gespeicherten Bestelllisten auftauchte, geliefert worden wäre. Der Umstand, dass auf dem Einlieferungsschein der Familienname des Angeklagten handschriftlich vermerkt wurde, stellt – entgegen der Annahme der Berufungskammer – bei der erforderlichen Gesamtwürdigung ein zusätzliches gewichtiges Indiz dafür dar, dass die Auslieferung an den Angeklagten und zwar an dessen Adresse, die bei der Bestellung angegeben worden war, übersandt wurde.
bb) Aber auch dafür, dass ein Dritter unter dem Namen des Angeklagten und unter Angabe von dessen Adresse die Bestellung vorgenommen hätte, ergeben sich nach den Beweisergebnissen nicht nur keine Anhaltspunkte. Vielmehr erscheint eine derartige Erwägung gleich-sam völlig aus der Luft gegriffen, sodass sie einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung nicht zugrunde gelegt werden durfte.
(1) Ein einzig greifbarer Anhaltspunkt, der in diesem Zusammenhang sich ergeben könnte, resultiert aus der Einlassung des Angeklagten, wonach ihn sein Bekannter H. einmal gefragt habe, ob er auf den Namen des Angeklagten „etwas bestellen könne“, wobei freilich bereits offen bleibt, wie der Angeklagte darauf reagiert hat. Die Berufungskammer hat diese Angaben des Angeklagten indes als widerlegt angesehen. Auch wenn das Landgericht richtigerweise konstatiert, dass aus einer erwiesenermaßen unzutreffenden Einlassung des Angeklagten allenfalls mit der gebotenen Vorsicht zwingend Schlüsse zu dessen Nachteil gezogen werden dürfen (vgl. hierzu zuletzt BayObLG, Beschl. v. 12.07.2021 – 202 StRR 76/21, bei juris m.w.N.), so ist jedenfalls diese Alternative nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ausgeschlossen.
(2) Unbeschadet der fehlenden Anhaltspunkte für die von der Berufungskammer erwogene Bestellung durch einen Dritten, hat der Tatrichter nicht in den Blick genommen, dass eine der-artige Sachverhaltskonstellation bei den konkreten Gesamtumständen äußerst lebensfern wäre. Zu berücksichtigen wäre in diesem Fall schon, dass nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme die Versendung der Betäubungsmittel erst mit Zahlungseingang veranlasst wurde, der Käufer also Vorkasse leisten musste. Hätte eine dritte Person unter dem Namen des Ange-klagten und mittels dessen Adresse die Bestellung vorgenommen, hätte für diese ein nicht überschaubares Risiko bestanden, den Kaufpreis zu verlieren, ohne eine realistische Chance zu erhalten, an die bestellten Betäubungsmitteln zu gelangen. Sollte die Sendung an die Adresse des Angeklagten geschickt worden sein, wogegen – wie dargelegt – nach den bisherigen Feststellungen nichts spricht, hätte der Dritte in seine Planungen einbeziehen müssen, die Betäubungsmittel entweder vor der Auslieferung an den Angeklagten vorher abzufangen, wo-bei auch insoweit unklar bleibt, wie dies geschehen sollte, oder diese nach Auslieferung, aber vor Entleerung des Postkastens dort zu entnehmen, was letztlich eine mehrtägige Beobachtung der Postauslieferungen voraussetzen würde.“