Heute dann auch noch einmal drei OWi-Entscheidungen, und zwar ebenfalls zum Verfahrensrecht.
Zunächst stelle ich den OLG Stuttgart, Beschl. v. 27.08.2020 – 6 Rb 34 Ss 577/20 – vor. Das ist eine der Entscheidungen, bei denen man nach dem ersten Lesen denkt: Nicht schon wieder 🙂 . ja, nicht schon wieder Dauerbrenner § 74 OWiG. In dieser Entscheidung geht es zwar nicht um die Frage der Entbindung des Betroffenen, aber es geht auch um eine Frage der Verletzung des rechtlichen Gehörs, nämlich um die Frage, wie mit Vortrag des Betroffenen, der vor der Hauptverhandlung vorgetragen worden ist, zu behandeln ist. Dazu – noch einmal – das OLG:
„Der Betroffene beantragt mit Verteidigerschriftsatz vom 19. Mai 2020 die Zulassung der Rechtsbeschwerde; er rügt die Verletzung rechtlichen Gehörs, da das Amtsgericht kein Sachurteil gefällt und deshalb seinen Vortrag im Schriftsatz vom 7. Mai 2020 unberücksichtigt gelassen habe. Darin hatte der Verteidiger unter Beifügung von Nachweisen vorgetragen, der Betroffene habe sich freiwillig und auf eigene Kosten zu einem Fahreignungsseminar angemeldet, welches wegen der Corona-Pandemie erst in den Kalenderwochen 20 und 21 stattfinden könne. Er bitte um wohlwollende Prüfung, ob angesichts des positiven Nachtatverhaltens des Betroffenen eine Reduzierung der Geldbuße möglich sei. Sofern keine höhere Geldbuße als 55 Euro verhängt werde, sei man mit einer Entscheidung im Beschlussverfahren einverstanden. Darüber hinaus hatte der Verteidiger „aus Kostengründen“ sein Nichterscheinen in der Hauptverhandlung angekündigt. Das Amtsgericht führte in den Gründen seines Verwerfungsurteils dazu aus, dass die Ausführungen im Schriftsatz vom 7. Mai 2020 eine Herabsetzung der Geldbuße auf 55 Euro nicht tragen würden, allenfalls wäre eine Herabsetzung auf den nicht erhöhten Regelsatz in Betracht gekommen.
Das zulässige Rechtsmittel hat mit der Gehörsrüge vorläufigen Erfolg. Die Generalstaatsanwaltschaft hat hierzu folgendes ausgeführt:
„Die Rüge der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör wurde durch den Betroffenen zulässig unter genauer und vollständiger Angabe der den Mangel enthaltenden Tatsachen (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO i. V. m. SS 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 80 Abs. 3 OWiG) in Form der Verfahrensrüge erhoben (vgl. OLG Thüringen, Beschluss vom 18.03.2004 – 1 Ss 40/04 juris).
Die Rüge ist auch begründet.
Von einer Versagung des rechtlichen Gehörs ist insbesondere dann auszugehen, wenn dem Betroffenen Gelegenheit gegeben worden ist, sich dem Gericht gegenüber zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern, das Gericht jedoch seine Äußerungen nicht zur Kenntnis genommen hat (vgl. BVerfGE 11, 218, 220; BGHSt 28, 44, 46). Da jedoch grundsätzlich davon auszugehen ist, dass ein Gericht das von ihm entgegengenommene Vorbringen eines Betroffenen auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat und es darüber hinaus nicht verpflichtet ist, jedes Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu bescheiden, lässt sich die Feststellung, ob das Gericht seine Pflicht, den Vortrag des Betroffenen zur Kenntnis zu nehmen und zu erwägen, verletzt hat, nur dann feststellen, wenn sich dies aus besonderen Umständen des einzelnen Falles ergibt (vgl. BVerfGE 22, 267, 274; Senatsbeschluss vom 26. August 1996 – 3 Ws (B) 299/96 KG Berlin, Beschluss vom 30.12.1998 – 2 Ss 354/98, 3 Ws (B) 666/98 juris).
So liegt der Fall hier. Das Gericht hat ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls den Sachvortrag des Betroffenen aus dem vorangegangenen Schriftsatz zwar zur Kenntnis genommen. Es hat diesem Vortrag auch hinsichtlich der Bußgeldhöhe für den Fall eines Sachurteils eine „hypothetische Relevanz“ zugestanden. Das Gericht hat sich jedoch in versehentlicher Verkennung (vgl. BI. 105 d. GA) der vorausgegangenen Befreiung vom persönlichen Erscheinen daran gehindert gesehen, diesen Vortrag aufgrund der vermeintlich zwingend vorgegebenen Verfahrensweise nach § 74 Abs. 2 OWiG zu berücksichtigen. Bei richtiger Vorgehensweise hätte das Gericht den Vortrag gemäß § 74 Abs. 1 S. 2 OWiG durch Mitteilung des wesentlichen Inhalts eingeführt und – ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls sowie der schriftlichen Urteilsgründe – eine Reduzierung der Geldbuße auf den Regelsatz in Betracht gezogen. Bei der Frage der Verletzung des rechtlichen Gehörs kann es jedoch keinen Unterschied machen, ob das Gericht Verteidigungsvorbringen des Betroffenen nicht zur Kenntnis nimmt, oder ob es – wie vorliegend – dies zwar tut, sich aber irrtümlich daran gehindert sieht, dieses Vorbringen trotz Relevanz in seine Sachentscheidung einzubeziehen.
Aufgrund der Gehörsverletzung kann das Urteil des Amtsgerichts Stuttgart vom 08.05.2020 keinen Bestand haben.“