Archiv für den Monat: September 2020

StGB III: Bewaffnetes Handeltreiben mit BtM, oder: Mitsichführen

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Und zum Schluss des Tages dann noch eine Entscheidung des BGH, und zwar der BGH, Beschl. v. 12.05.2020 – 5 StR 111/20. Thema: Dauerbrenner „bewaffnetes Handeltreiben mit BtM“:

„Das Landgericht hat den Angeklagten wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz einer Schusswaffe und mit unerlaubtem Besitz von Munition zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und drei Monaten verurteilt. Zudem hat es eine Einziehungsentscheidung getroffen. Das auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Rechtsmittel des Angeklagten führt zur Aufhebung des Urteils.

1. Die Verurteilung wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (§ 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG) begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

a) Das Landgericht hat insoweit im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

Der Angeklagte lagerte gut 1 kg eines ursprünglichen Vorrats von 11 kg Cannabis zum gewinnbringenden Verkauf in einer Nische des Balkons seiner Einzimmerwohnung. Zum Verpacken der Betäubungsmittel nutzte er ein in der Küche stehendes Laminiergerät. Im Badezimmer verwahrte er in einer Tüte hinter dem losen und leeren Waschbeckenunterschrank einen Revolver und in einem verknoteten Zellophanbeutel eingewickelte Patronen verschiedener Kaliber. Sowohl vom Balkon als auch aus der Küche war das Badezimmer „mit wenigen Schritten binnen Sekunden“ zu erreichen.

Das Landgericht hat daraus den Schluss gezogen, dass der Angeklagte die Schusswaffe „ohne nennenswerten Zeitaufwand“ hätte laden und einsetzen können, und daher die Voraussetzungen des Qualifikationstatbestandes des § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG bejaht.

b) Dies hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

Das Mitsichführen einer Schusswaffe im Sinne des § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG liegt vor, wenn der Täter diese bei der Tatbegehung bewusst gebrauchsbereit bei sich hat. Ein Tragen am Körper ist hierfür nicht zwingend erforderlich. Es genügt vielmehr, dass die Schusswaffe sich so in der räumlichen Nähe des Täters befindet, dass er sich ihrer jederzeit – also ohne nennenswerten Zeitaufwand und ohne besondere Schwierigkeiten – bedienen kann. Dies kann zwar auch der Fall sein, wenn Betäubungsmittel und Schusswaffe innerhalb derselben Wohnung in unterschiedlichen Räumen aufbewahrt werden. Allerdings muss das Tatgericht in einer solchen Konstellation die konkreten Umstände des Einzelfalls in der Weise darlegen, dass dem Revisionsgericht die Nachprüfung möglich ist, ob der Täter die Schusswaffe tatsächlich jederzeit verwenden kann (vgl. BGH, Urteil vom 23. Oktober 2019 – 2 StR 294/19, NStZ 2020, 233, 234 mwN). Dies gilt umso mehr, wenn wie hier der sofortige Zugriff auf die – zudem noch nicht gebrauchsbereite – Waffe nur nach Überwindung weiterer Hindernisse möglich ist.

Diesen Anforderungen wird das Urteil nicht in vollem Umfang gerecht. Zwar hat das Landgericht sowohl die räumlichen Verhältnisse als auch den jeweiligen Aufbewahrungsort der Betäubungsmittel und des Revolvers hinreichend konkret beschrieben. Sein Schluss, der Angeklagte habe das Badezimmer und damit den Aufbewahrungsort des Revolvers von jedem anderen Ort der Wohnung „binnen Sekunden“ erreichen können, ist von daher nicht zu beanstanden. Es fehlt aber an den weiteren zur rechtlichen Beurteilung erforderlichen Feststellungen dazu, welcher zeitliche Aufwand damit verbunden gewesen wäre, die Waffe aus dem Versteck hervorzuholen, die passenden Patronen aus dem Zellophanbeutel auszusortieren und den Revolver zu laden. Der Senat kann daher nicht überprüfen, ob der Angeklagte sich des Revolvers tatsächlich „ohne nennenswerten Zeitaufwand“ bedienen konnte.“

StGB II: Beleidigung?. oder: Beleidigungsfreie Sphäre

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In der zweiten Entscheidung des Tages geht es auch noch einmal um eine Verurteilung wegen Beleidigung.

Das KG hat in dem Zusammenhang im KG, Beschl. v. 14.07.2020 – (4) 161 Ss 33/20 (43/20) noch einmal zum Begriff der sog. „beleidigungsfreie Sphäre“ Stellung genommen.

Zur Tathandlung der Beleidigung hatte das LG  im Wesentlichen Folgendes festgestellt:

„Der Angeklagte und der mit ihm befreundete Zeuge K waren im April 2018 Polizeimeisteranwärter in der Klasse xx der Polizeiakademie Berlin; die kollegial miteinander befreundeten Zeugen Z, R, S und L waren dort Polizeimeisteranwärter in der Parallelklasse yy. Als am Freitag, dem 6. April 2018, der Unterricht an der Polizeiakademie […] um etwa 15 Uhr endete, wollten die Anwärter, die sich nach dem Sportunterricht in ihren Zimmern im „Haus 3“ umgezogen hatten, das Akademiegelände verlassen und den Heimweg antreten. Die „Männerstuben“ der genannten Klassen befanden sich im ersten Stockwerk des Gebäudes, jene der Anwärterinnen im zweiten Stockwerk.

Die Polizeimeisteranwärterinnen Z und R liefen aus dem zweiten Stockwerk kommend gemeinsam die Treppe in dem Gebäude in Richtung des Ausgangs hinunter. Ihnen folgten etwa einen Treppenabsatz dahinter aus dem ersten Stockwerk kommend der Angeklagte und dessen Kollege und Freund, der Zeuge K. In einer Entfernung von etwa einem Meter hinter dem Angeklagten und dem Zeugen K ging – wie dem Angeklagten bewusst war – der Polizeimeisteranwärter und Zeuge S, ein befreundeter Klassenkollege der beiden Zeuginnen, die Treppe hinunter; er war hinter dem Angeklagten und seinem Begleiter aus dem Bereich der „Männerstuben“ zur Treppe gegangen. Ein Stück hinter ihm folgte der Zeuge L. S und L hatten mit der Zeugin R vereinbart, dass diese beide mit ihrem Auto ein Stück des Heimwegs mitnehmen würde.

Der Angeklagte äußerte in dieser Situation gegenüber dem Zeugen K in normaler Sprechlautstärke mit Blick auf eine der beiden vor ihnen laufenden Zeuginnen: „Der würd’ ich geben, der Kahba“. Damit brachte er in jugendlicher Vulgärsprache zum Ausdruck, er würde gerne mit „der Kahba“ geschlechtlich verkehren. Das Wort „Kahba“ ist arabisch und bedeutet „Schlampe“ oder „Prostituierte“ und wird mit dieser Bedeutung in der deutschen Jugendsprache – insbesondere in der Rap-Musik – verwendet; in diesem abwertenden Sinne und mit der Zielrichtung, seine Missachtung gegenüber der von ihm gemeinten Frau auszudrücken, verwendete der Angeklagte das Wort „Kahba“. Zusätzlich wies er mit einem Nicken und einer Armbewegung in Richtung der beiden Zeuginnen. Der Zeuge S hörte die an den Zeugen K gerichtete Bemerkung des Angeklagten, wie dieser billigend in Kauf genommen hatte, und sah die Gesten in Richtung der Zeuginnen…“

Das hatte das LG wie folgt gewürdigt.

„In Bezug auf die – für die Strafzumessung möglicherweise relevante und vom Revisionsführer ausdrücklich angegriffene – Feststellung, dem Angeklagten sei bewusst gewesen, dass der Zeuge S zum Zeitpunkt der Tat etwa einen Meter hinter ihm ging, er habe billigend in Kauf genommen, dass der Zeuge S die hier verfahrensgegenständliche Beleidigung hören werde, begegnet die Beweiswürdigung nach den maßgeblichen Rechtsgrundsätzen (vgl. BGH, Urteil vom 24. November 2016 – 4 StR 289/16 – [juris] m.w.N.; Senat, Beschluss vom 29. November 2019 – [4] 161 Ss 115/19 [203/19] – m.w.N.) durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Das Landgericht hat sich insoweit im Wesentlichen von folgenden Erwägungen leiten lassen:

„Die Feststellungen der Strafkammer, dass dem Angeklagten bewusst war, dass der Zeuge S direkt hinter ihm ging, und dass er billigend in Kauf nahm, dass auch der Zeuge S seine Äußerung gegenüber dem Zeugen K hören konnte, fußt insbesondere auf einer Würdigung der festgestellten Personenanordnung auf der Treppe im Zeitpunkt des Ausspruchs durch den Angeklagten in Zusammenschau mit der festgestellten Sprechlautstärke.

aa) Zwar ging der Zeuge S hinter dem Angeklagten und war dessen Augenmerk nach den Feststellungen auf die vor ihm gehenden Zeuginnen Z und R gerichtet, dennoch schließt die Strafkammer es mit Blick insbesondere auf die Wahrnehmungen der Zeuginnen Z und R, die die Personenanordnung auf der Treppe übereinstimmend mit den Zeugen S und L übereinstimmend derart beschrieben haben, dass sie beide vor dem Angeklagten und dem Zeugen K die Treppe hinunter liefen und diesen in geringem Abstand der Zeuge S und diesem der Zeuge L folgten, aus, dass dem Angeklagten nicht bewusst war, dass S nur etwa einen Meter hinter ihm lief, als er die Äußerung gegenüber K tätigte. In der Situation des Dienstschlusses an der Polizeiakademie für jedenfalls zwei Anwärterklassen war die Anwesenheit weiterer Polizeischüler auf dem Weg von den Stuben zum Ausgang selbstverständlich; es kann dem Angeklagten hier mit Blick auf den geringen Abstand, in dem S hinter ihm lief, nicht verborgen geblieben sein, dass unmittelbar hinter ihm eine weitere Person – der Zeuge S – die Treppe hinabging.

bb) Aus dem Umstand, dass sich der Angeklagte in normaler Sprechlautstärke wie festgestellt äußerte, schließt die Strafkammer, dass er billigend in Kauf nahm, dass S den Ausspruch hören würde. Denn die Hauptverhandlung hat keinen tatsächlichen Anhaltspunkt dafür ergeben, dass der Angeklagte darauf hätte vertrauen können, der unmittelbar hinter ihm gehende S höre das in normaler Sprechlautstärke Gesagte nicht. Es blieb in der festgestellten Konstellation – wie dem Angeklagten mit Blick auf die Personenanordnung und insbesondere den geringen Abstand zum Zeugen S bewusst war – dem Zufall überlassen, ob S die Äußerung hören oder aber nicht wahrnehmen würde.“

Und das KG meint:

„Der Revisionsführer beanstandet zu Recht, dass die Schlussfolgerung des Landgerichts in Bezug auf den bedingten Vorsatz hinsichtlich der Wahrnehmung seiner Äußerung durch den Zeugen S auf einer unzureichenden Tatsachengrundlage beruhte.

Die Tatsache, dass sich der Zeuge S zum Zeitpunkt der beleidigenden Äußerung etwa einen Meter hinter dem Angeklagten befand, rechtfertigt nicht den von der Strafkammer gezogenen Schluss, dass dem Angeklagten die Anwesenheit des Zeugen S „nicht verborgen geblieben sein kann“. Es gibt keinen Erfahrungssatz, der besagt, dass man eine Person, die im Abstand von einem Meter auf einer Treppe folgt, immer wahrnimmt. Zutreffend beanstandet der Revisionsführer, dass die Feststellungen keine Anhaltspunkte dafür bieten, dass der Angeklagte den Zeugen S auf andere Weise als optisch hätte wahrnehmen können, etwa durch lautes Trampeln, vom Zeugen S geführte Gespräche oder andere sensorische Wahrnehmungen. Eine optische Wahrnehmung ließ sich jedoch gerade nicht nachweisen, weil der Blick und die Aufmerksamkeit des Angeklagten nach vorn gerichtet waren.

Soweit die Strafkammer „insbesondere mit Blick auf die Wahrnehmungen der Zeuginnen Z. und R“ ausschließt, dass dem Angeklagten nicht bewusst gewesen sei, dass der Zeuge S nur etwa einen Meter hinter ihm ging, teilt sie lediglich das Ergebnis der Wahrnehmungen der Zeuginnen (nämlich die Personenanordnung auf der Treppe) mit, ohne darzulegen, auf welche Weise die Zeuginnen ihre Wahrnehmungen gemacht haben. Nach den Feststellungen liefen die Zeuginnen etwa einen Treppenabsatz vor dem Angeklagten nach unten. Naheliegend ist, dass sich die Zeuginnen umdrehten und die Treppe nach oben blickten, weil sie Ausschau nach den Zeugen S und L hielten, mit denen sie verabredet waren. Anhaltspunkte dafür, dass die Zeuginnen die Personenanordnung auf der Treppe auf andere Weise als durch einen Blick nach oben wahrnahmen, bieten die Urteilsgründe jedenfalls nicht. Wenn jedoch die Zeuginnen die Personenanordnung auf der Treppe durch einen Blick nach oben wahrnahmen, erklärt dies nicht, weshalb der nach vorn schauende und seine Aufmerksamkeit nach vorn richtende Angeklagte gewusst haben muss, dass der Zeuge S hinter ihm lief.

Auch die Tatsache, dass der Angeklagte sich in „normaler Sprechlautstärke“ (somit keineswegs besonders laut) äußerte, trägt die Schlussfolgerung auf einen bedingten Vorsatz nicht. Denn auch insoweit argumentiert die Strafkammer damit, dass der Angeklagte schließlich wusste, dass sich der Zeuge S nur einen Meter hinter ihm befand. Dieses Wissen ist jedoch nicht rechtsfehlerfrei festgestellt.

Die Argumentation, in Anbetracht des Dienstschlusses zweier Anwärterklassen sei die Anwesenheit weiterer Polizeischüler im Treppenhaus selbstverständlich gewesen, greift zu kurz. Die Feststellungen belegen nicht, dass sich zur Tatzeit so viele Personen im Treppenhaus aufhielten, dass es selbstverständlich war, dass sich andere Personen nicht nur ebenfalls im Treppenhaus aufhielten, sondern sich darüber hinaus auch in unmittelbarer Hörweite befanden. Der ebenfalls im Treppenhaus in der Nähe des Angeklagten befindliche Zeuge L hat die Äußerung gerade nicht gehört. Die Anwesenheit weiterer Personen in Treppenhaus belegt somit noch nicht, dass die Äußerung zwangsläufig für andere Personen im Treppenhaus zu hören war.

Den Feststellungen lässt sich nicht – auch nicht näherungsweise – entnehmen, wie viele Personen sich zur Tatzeit im Treppenhaus aufhielten. Die Größe der Anwärterklassen wird nicht mitgeteilt. Zudem weisen die Feststellungen gerade nicht aus, dass sich nach Beendigung der letzten Unterrichtseinheit alle Anwärter sofort ins Treppenhaus begaben, was eine gleichzeitige Anwesenheit aller Anwärter im Treppenhaus nahe legt. Vielmehr begaben sich die Anwärter nach dem Sportunterricht zurück in ihre Stuben und zogen sich um. Hierfür dürften sie nicht exakt dieselbe Zeit benötigt haben. Eher dürfte es zu einer gewissen zeitlichen Dehnung beim Verlassen der Stuben gekommen sein, so dass sich die gleichzeitige Anwesenheit aller Anwärter im Treppenhaus – und damit eine zwangsläufige Anwesenheit weiterer Personen in unmittelbarer Hörweite – nach den Feststellungen jedenfalls nicht aufdrängt.“

Der Senat hebt daher die Feststellungen zur subjektiven Tatseite in Bezug auf den Zeugen S auf. Die übrigen Feststellungen sind hingegen rechtsfehlerfrei getroffen, sie können bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Die neue Strafkammer ist nicht gehindert, ergänzende Feststellungen zu treffen, die mit den bisherigen nicht in Widerspruch stehen dürfen.“

 

StGB I: Meinungsfreiheit versus Schmähkritik, oder: BVerfG stellt klar

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Heute stelle ich dann drei Postings zu StGB-Fragen ein, und zwar zunächst:

Wer sich mit Beleidigungsdelikten (§§ 185 ff. StGB) befasst, muss sich zwangsläufig auch mit der Rechtsprechung des BBerfG zur Meinungsfreiheit (Art. 5 GG) befassen. Und das Zusammenspiel dieser beiden Regelungen ist nicht einfach. Letztlich geht es immer um die Frage: Noch straffrei oder schon Beleidigung? Und in dem Zusammenhnag spielt die Rechtsprechung des BVerfG eine große Rolle.

Dazu hat das BVerfG vor einiger Zeit noch einmal vier Entscheidungen veröffentlicht, die die verfassungsrechtlichen Maßgaben für strafrechtliche Verurteilungen wegen ehrbeeinträchtigender Äußerungen noch einmal zusammen stellen. Es sind die BVerfG, Beschl. v.  19.05.2020 – 1 BvR 2459/19, 1 BvR 2397/19, 1 BvR 1094/19 und 1 BvR 362/18.

Die stelle ich hier heute aber nicht im Einzelnen vor, sondern ich zitiere aus der dazu vorliegenden PM Nr. 49/2020 vom 19.06..2020 des BVerfG. Darin heißt es u.a.:

„…..Die Kammer hat diese Verfahren zum Anlass genommen, um die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Spannungsverhältnis von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht bei ehrverletzenden Äußerungen klarstellend zusammenzufassen. Dabei hat sie bekräftigt, dass die Beurteilung, ob eine ehrbeeinträchtigende Äußerung rechtswidrig und unter den Voraussetzungen der §§ 185, 193 StGB strafbar ist, in aller Regel von einer Abwägung der widerstreitenden grundrechtlichen Interessen abhängig ist, die eine Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen einer Äußerung und ihrer Bedeutung erfordert. Dabei hat sie wesentliche Kriterien zusammengefasst, die bei dieser Abwägung von Bedeutung sein können. In Abgrenzung dazu hat die Kammer wiederholt, dass eine Abwägung nur in besonderen Ausnahmefällen und nur unter engen Voraussetzungen entbehrlich sein kann, nämlich in den – verfassungsrechtlich spezifisch definierten – Fällen einer Schmähkritik, einer Formalbeleidigung oder einer Verletzung der Menschenwürde. Sie hat die speziellen Voraussetzungen solcher Fallkonstellationen klargestellt und hervorgehoben, dass deren Bejahung von den Fachgerichten klar kenntlich zu machen und in gehaltvoller Weise zu begründen ist. Umgekehrt hat die Kammer betont, dass die Ablehnung eines solchen Sonderfalls, insbesondere das Nichtvorliegen einer Schmähung, das Ergebnis der Abwägung nicht präjudiziert.

Unter Anwendung dieser Maßstäbe hat die Kammer entschieden, dass in zwei Verfahren die von den Fachgerichten vorgenommene Abwägung, wonach die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts die Meinungsfreiheit überwiege, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Demgegenüber genügt die Abwägung in den anderen beiden Verfahren auch unter Berücksichtigung des fachgerichtlichen Wertungsrahmens den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht, weil jeweils keine hinreichende Auseinandersetzung mit den konkreten Situationen erkennbar ist, in denen die Äußerungen gefallen sind.

Sachverhalte:

  1. Dem Verfahren 1 BvR 2397/19, in dem die Kammer die auch für die anderen Verfahren maßgeblichen Maßstäbe übergreifend zusammenfasst, liegen Äußerungen des Beschwerdeführers in einem von ihm geführten Internetblog zugrunde. Der Beschwerdeführer hatte sich 2002 von seiner damaligen Partnerin getrennt und führte anschließend vor verschiedenen bayerischen Gerichten zahlreiche rechtliche Auseinandersetzungen um das Umgangsrecht mit der gemeinsamen Tochter, das ihm ab 2012 ganz verwehrt wurde. 2016 verfasste er in seinem Internetblog aus Anlass einer für ihn nachteiligen Berufungsentscheidung drei weitere Einträge. Darin nannte er unter anderem die an der Entscheidung beteiligten Richter sowie diverse andere Personen namentlich, stellte Fotos von ihnen ins Netz und bezeichnete sie mehrfach als „asoziale Justizverbrecher“, „Provinzverbrecher“ und „Kindesentfremder“, die Drahtzieher einer Vertuschung von Verbrechen im Amt seien. Sie hätten auf Geheiß des namentlich genannten „rechtsradikalen“ Präsidenten des Oberlandesgerichts offenkundig massiv rechtsbeugend agiert. Der Beschwerdeführer wurde deshalb von den Strafgerichten wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt. Zwar handele es sich wegen des sachlichen Bezugs und der verständlichen schweren emotionalen Situation des Beschwerdeführers nicht um Schmähkritik. Bei einer Abwägung der widerstreitenden grundrechtlichen Interessen überwiege jedoch der Ehrschutz. Die Kammer beurteilte das als verfassungsgemäß.
  2. Dem Verfahren 1 BvR 2459/19 liegen Äußerungen des Beschwerdeführers in einer verwaltungsgerichtlichen Klageschrift zugrunde. Die Stadtbibliothek hatte – nach Rücksprache mit dem dortigen Rechtsamt – bei der Bestellung eines Buchs von ihm verlangt, das Bestellformular selbst auszufüllen. Hintergrund war, dass der Beschwerdeführer vorher eine Fernleihgebühr für ein Buch nicht entrichtet hatte, weil er der Ansicht gewesen war, ein anderes Buch bestellt zu haben. Schon zuvor hatte die Leiterin des Rechtsamtes in einer anderen Angelegenheit Strafanzeige gegen den Beschwerdeführer gestellt, aufgrund derer ein Strafverfahren wegen Urkundenfälschung gegen ihn eingeleitet worden war. In diesem Verfahren hatte er die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens über deren Geisteszustand beantragt. Noch ehe über diesen Antrag entschieden wurde, erhob der Beschwerdeführer wegen des Streits mit der Stadtbibliothek Klage vor dem Verwaltungsgericht. In der Klageschrift äußerte er, „unter Berücksichtigung, … dass in der Sache die Leiterin des Rechtsamtes R., eine in stabiler und persönlichkeitsgebundener Bereitschaft zur Begehung von erheblichen Straftaten befindlichen Persönlichkeit, deren geistig seelische Absonderlichkeiten und ein Gutachten zu deren Geisteskrankheit Gegenstand von gerichtlichen Auseinandersetzungen sind, involviert ist“, behalte er sich vor, „ein Ordnungsgeld in angemessener Höhe zu beantragen“. Aufgrund dieser Äußerung verurteilten die Strafgerichte den Beschwerdeführer wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe. Zwar handele es sich nicht um einen Fall der Schmähkritik, da ein Sachbezug nicht völlig fehle. Die gebotene Abwägung falle jedoch zugunsten des Persönlichkeitsrechts aus. Auch dies beurteilte die Kammer als verfassungsgemäß.
  3. Dem Verfahren 1 BvR 362/18 liegen Äußerungen des Beschwerdeführers im Rahmen einer Dienstaufsichtsbeschwerde zugrunde. Der als Rechtsanwalt tätige Beschwerdeführer vertrat 2015 einen Tierschutzverein, für den er vor einem Veterinär- und Lebensmittelüberwachungsamt ein Erlaubnisverfahren führte, an dessen Ende die vom Verein beantragte Erlaubnis erteilt wurde. Anschließend erhob der Beschwerdeführer eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den zuständigen Abteilungsleiter, in der er die Ansicht vertrat, das Amt habe eine unglaubliche materielle Unkenntnis, langsame Bearbeitungszeiten und eine offensichtlich vorsätzliche Hinhaltetaktik in der Sache gezeigt. Nach Schilderung von aus Sicht des Beschwerdeführers kritikwürdigen Vorfällen äußerte er, nunmehr gehe es noch um die Verfahrenskosten des Vereins. Diese habe die Behörde zwar bereits formell anerkannt, es scheine aber so, als ob der zuständige Abteilungsleiter durch immer wieder neue Vorgaben letztlich die Kosten nicht erstatten möchte. Weiter hieß es, dessen Verhalten „sehen wir mittlerweile nur noch als offenbar persönlich bösartig, hinterhältig, amtsmissbräuchlich und insgesamt asozial uns gegenüber an“. Die Strafgerichte verurteilten den Beschwerdeführer daraufhin wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe. Durch die verwendete Formulierung „persönlich“, „hinterhältig“ und „asozial“ sei es nur noch um eine konkrete Diffamierung des von ihm namentlich ausdrücklich benannten Abteilungsleiters gegangen, ohne dass dabei noch ein konkreter Bezug zur Sache erkennbar sei. Die Kammer beurteilte dies als eine Verletzung der Meinungsfreiheit.
  4. Dem Verfahren 1 BvR 1094/19 liegen Äußerungen des Beschwerdeführers in einem einkommensteuerrechtlichen Festsetzungsverfahren zugrunde. Im Rahmen des Verfahrens, in dem insbesondere die Abzugsfähigkeit der Kosten für ein gerichtliches Vorgehen gegen den Rundfunkbeitrag strittig war, erhielt der Beschwerdeführer ein beigelegtes Rundschreiben des nordrhein-westfälischen Finanzministers. Dort hieß es unter anderem, Steuern machten „keinen Spaß, aber Sinn. Die Leistungen des Staates, die wir alle erwarten und gern nutzen, gibt es nicht zum Nulltarif“. Daraufhin verfasste der Beschwerdeführer ein weiteres Schreiben an die Finanzbehörden, das hauptsächlich die Frage der Absetzbarkeit der Kosten des rechtlichen Vorgehens gegen den Rundfunkbeitrag zum Gegenstand hatte. Am Ende erklärte er, weitere Dienstaufsichtsbeschwerden jetzt zu erheben, dürfte sinnlos sein: „Solange in Düsseldorf eine rote Null als Genosse Finanzministerdarsteller dilettiert, werden seitens des Fiskus die Grundrechte und Rechte der Bürger bestenfalls als unverbindliche Empfehlungen, normalerweise aber als Redaktionsirrtum des Gesetzgebers behandelt.“ Wegen dieser Äußerung verurteilten die Strafgerichte den Beschwerdeführer wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe. Der Beschwerdeführer überschreite die Grenze eines Angriffs auf die Ehre des Finanzministers, den er als Person herabwürdige. Zwar werde nicht verkannt, dass die freie Meinungsäußerung ein hohes Rechtsgut sei und dass in der Öffentlichkeit stehende Personen deutliche Kritik auszuhalten hätten. Doch seien auch diese Personen wie andere Bürger geschützt, wenn die Grenze eines persönlichen Angriffs überschritten werde. Auch dies beurteilte die Kammer als Verletzung der Meinungsfreiheit.

Also eine Quote von 2 : 2. Wegen der Einzelheiten der Erwägungen des BVerfG verweise ich auf die Beschlüsse und die PM.

U-Haft III: Haftentschädigung, oder: Demnächst 75 EUR

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Und als drittes Posting dann noch ein Hinweis auf eine gesetzliche Neuregelung.

Die Meldung, die dazu über die Ticker gelaufen ist, liegt schon etwas zurück. Der Bundesrat hat nämlich bereits am 18.09.2020 der Erhöhung der Haftentschädigung für zu Unrecht erlittene Freiheitsstrafe auf 75 EUR pro Tag zugestimmt. Der Bundestag hatte das Gesetz wenige Tage zuvor verabschiedet und damit eine Bundesratsinitiative aus dem Vorjahr umgesetzt (vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (StrEG) [BT-Drucks. 19/17035]). .

Die Entschädigung für zu Unrecht erlittene Freiheitsentziehung steigt danach von bisher 25 EUR auf künftig 75 EUR pro Tag. Ausgeglichen werden soll damit der so genannte immaterielle Schaden des Betroffenen.

Die Änderungen gelten für zu Unrecht erlittene Untersuchungshaft. Aber auch nach einer rechtskräftigen Verurteilung können Betroffene Haftentschädigung bekommen, wenn ein Wiederaufnahmeverfahren mit Freispruch oder Aufhebung der Strafe endet.

Die letzte Anpassung der Tagespauschale erfolgte 2009.

Jetzt fehlt nur noch die Verkündung im BGBl, dann treten die Änderungen am Tag darauf in Kraft .

U-Haft II: Unterbringung zur Beobachtung, oder: Verhältnismäßigkeit

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Die zweite Entscheidung kommt mit dem LG Flensburg, Beschl. v. 07.09.2020 – II Qs 33/20 -, den mir der Kollege Fülscher aus Kiel geschickt hat, auch aus dem Norden. Die Thematik ist nicht direkt U-Haft, aber die Entscheidung hat auch Freiheitsentziehung zum Gegenstand. Das LG nimmt nämlich zu Verhältnismäßigkeit einer Anordnung der Unterbringung zur Beobachtung des Angeklagten Stellung. Es hat die Verhältnismäßigkeit verneint und die vom AG angeordnete Unterbringung aufgehoben:

„Die sofortige Beschwerde des Angeklagten hat Erfolg. Der Beschluss war aufzuheben und der Antrag abzulehnen.

Die Voraussetzungen des § 81 Abs. 1 StPO liegen nicht vor.

Nach dieser Vorschrift kann das Gericht zur Vorbereitung eines Gutachtens über den psychischen Zustand des Beschuldigten nach Anhörung eines Sachverständigen und des Verteidigers anordnen, dass der Beschuldigte in ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus gebracht und dort beobachtet wird.

Die Rechtmäßigkeit einer Unterbringungsanordnung richtet sich, den verfassungsrechtlichen Vor-gaben (Verhältnismäßigkeit) folgend, danach, ob vor einer Anordnung nach § 81 StPO alle anderen Mittel ausgeschöpft sind, um zu einer Beurteilung von Persönlichkeitsstörungen des Beschuldigten zu kommen. Ferner bedarf es eines tauglichen Mittels zur Beurteilung, das grundsätzlich nur bei der Untersuchung durch einen Psychiater oder Neurologen als Sachverständigen gewähr-leistet ist. Das konkrete Untersuchungskonzept muss zudem zur Erlangung von Erkenntnissen über eine Persönlichkeitsstörung geeignet sein, und die Geeignetheit muss wiederum in Gutachten und Beschluss dargelegt werden (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 09. Oktober 2001 — 2 BvR 1523/01 —, Rn. 23, juris).

Danach ist die avisierte Unterbringung nicht verhältnismäßig.

Die Unterbringung soll dem Zweck der Abgrenzung zwischen einer drogeninduzierten Psychose und einer paranoiden halluzinatorischen Schizophrenie dienen. Eine hinreichend sichere Abgrenzung ist aber binnen der in § 81 Abs. 5 StPO normierten Höchstgrenze von sechs Wochen nicht möglich. Der Kammer ist aus einer Vielzahl von Straf- und insbesondere Unterbringungsverfahren bekannt, dass mit einem Rückgang der aus einer drogeninduzierten Psychose resultierenden Symptomatik erst nach ca. sechs Monaten gerechnet werden kann. Demnach könnte die mit der Unterbringung bezweckte Abgrenzung auch erst ab diesem Zeitpunkt vorgenommen werden.

Zwar ist es nicht auszuschließen, dass sich mit dem Absetzen des Cannabiskonsums ein zeit-naher Rückgang der Symptomatik ankündigt. Allerdings können sich auch Patienten, die an einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis leiden, durch das engmaschige, strukturgebende Setting einer forensischen Psychiatrie – einhergehend mit einer Reduktion der Symptomatik -zunächst stabilisieren.

Diese vage Aussicht kann im Hinblick auf die geringe Aussagekraft dieser unter Umständen kurzfristigen Reduzierung den erheblichen Grundrechtseingriff – freiheitsentziehende Maßnahmen über einen Zeitraum von sechs Wochen -, der mit der Unterbringung verbunden ist, nicht rechtfertigen. Vor allem auch deshalb nicht, weil sich der Angeklagte auf sein – ebenfalls verfassungsrechtlich verankertes – Schweigerecht beruft und die Mitwirkung an einer Exploration (zulässiger-weise) verweigert hat. Eine 24-stündige Beobachtung durch geschultes Personal käme vor diesem Hintergrund einer mittelbaren Umgehung seines Schweigerechtes gleich.“