Archiv für den Monat: Juni 2020

OWi I: Fahrlässige Geschwindigkeitskeitsüberschreitung?, oder: Verkehrszeichen nur in anderer Richtung

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Für den OWi-Bereich liegen mir derzeit nicht so viele Entscheidungen vor. Aber für einen weiteren OWi-Tag heute reicht es dann doch (noch) 🙂 .

Ich starte mit dem OLG Oldenburg, Beschl. 30.04.2020 – 2 Ss (OWi) 111/20. Die Problematik: Kann eine Geschwindigkeitsüberschreitung auch dann in Betracht kommen, wenn in der Fahrtrichtung, in der der Betroffene gefahren ist, kein Verkehrszeichen passiert wurde?

Das OLG meint: Grundsätzlich ja. Zu entscheiden war folgender Sachverhalt:

„Der Betroffene befuhr in Ort3 eine innerstädtische Straße in nördlicher Richtung. Er passierte dabei das die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h begrenzende Verkehrszeichen 274 in Kombination mit Verkehrszeichen 123 (Arbeitsstelle). Anschließend bog er auf den Parkplatz seiner Arbeitsstätte ab. Nach mehreren Stunden verließ er mit seinem Fahrzeug den Parkplatz, um nunmehr in südlicher Richtung auf der oben genannten Straße zurückzufahren. Bis zur Messstelle passierte er in dieser Fahrtrichtung kein die zulässige Höchstgeschwindigkeit begrenzendes Verkehrszeichen, da dieses nördlich des Parkplatzes aufgestellt war.“

Das AG hat verurteilt. Dagegen die Rechtsbeschwerde des Betroffenen. Er meint, die sei zuzulassen zur Klärung der Frage, ob eine Beschilderung einer Geschwindigkeitsbegrenzung in Verbindung mit dem Hinweis auf eine Baustelle im Bereich der Baustelle auch für den Gegenverkehr gilt, der auf dieser Fahrspur die dort vorhandene Beschilderung der Geschwindigkeitsbegrenzung nicht passiert hat.

Dazu das OLG:

„Die Rechtsbeschwerde ist hier nicht zur Fortbildung des materiellen Rechts zuzulassen.

Die in diesem Zusammenhang relevanten Rechtsfragen sind geklärt.

Das Streckenverbot galt im vom Betroffenen befahrenen Bereich auch in südlicher Richtung. Zwar soll unter anderem das Zeichen 274 hinter Kreuzungen und Einmündungen wiederholt werden, an denen mit dem Einbiegen ortsunkundiger Kraftfahrer zu rechnen ist. Selbst wenn man die Zufahrt zum Parkplatz mit einer Einmündung gleichsetzen würde, wäre allein hierdurch das Streckenverbot aber nicht aufgehoben worden (vergleiche Senat, NJW 2011, 3593).

Grundsätzlich entfalten Verkehrszeichen das Gebot einer Geschwindigkeitsbeschränkung aber nur in der Fahrtrichtung für die sie aufgestellt und für den Betroffenen auch sichtbar sind (Senat VRS 89, 53; OLG Celle DAR 2000, 578; OLG Bamberg Beschluss vom 17. Juli 2013, 3 SsOWi 944/13, juris).

Insoweit unterscheidet sich der hier vorliegende Sachverhalt von demjenigen, der der Entscheidung des Senats NJW 2011, 3593 zugrunde lag, da dort der Betroffene nach Verlassen des Parkplatzes in derselben Richtung weitergefahren war. Auf dem Hinweg war er an dem Verkehrszeichen vorbeigefahren.

Hier hatte der Betroffene jedoch in seiner –späteren- Fahrtrichtung kein Verkehrszeichen passiert.

Der hier zu entscheidende Sachverhalt ist jedoch vergleichbar mit demjenigen, der der Entscheidung BGHSt 11, 7 ff. zugrunde lag. Dort war es so, dass „die Angeklagten“ mit einem unbeladenen Lastzug ein Verkehrszeichen passiert hatten, mit dem die Straße für Fahrzeuge über 6 t Gesamtgewicht gesperrt war. Unterwegs beluden sie den Lastzug in einem abseits gelegenen Waldstück mit Holz, sodass die Grenze von 6 t überschritten war und fuhren anschließend auf dem Waldweg zurück zur Landstraße, um in die Richtung zurückzufahren, aus der sie gekommen waren, wobei in diesem Streckenverlauf kein Verbotsschild aufgestellt war.

Der BGH hat ausgeführt, dass die Verkehrsbeschränkung für den gesamten Straßenabschnitt, ohne dass die Anordnung für denjenigen, der das Schild an einem der beiden Anfangspunkt wahrgenommen hatte, unterwegs durch zusätzliche Verbotstafeln wiederholt zu werden brauchte, gegolten hätte. „Wenn also ein Kraftfahrer sein Fahrzeug vor Erreichen des Endpunktes der Sperrstrecke über das zugelassene Höchstgewicht beladen und die Fahrt in gleicher Richtung fortgesetzt hätte, könnte er nicht erfolgreich geltend machen, das für die ganze Strecke gültige Verbot sei auch nicht in ihrem letzten Teilstück durch amtliche Verkehrszeichen sichtbar gemacht“ (BGH a. a. O.).

Weiter heißt es dort:

„Ob nun die Fahrt in derselben oder in der entgegengesetzten Richtung fortgesetzt wird, in beiden Fällen wird vom Kraftfahrer verlangt, dass er sich ein für längere Strecke geltendes Verbotsschild mindestens dann merkt und einprägt, wenn es zuvor wahrgenommen hat.“ Diese Ansicht bedeute kein Abgehen vom Sichtbarkeitsgrundsatz. Sie wolle nur seiner allzu weitgehenden Übersteigerung, die zu kaum verständlichen Ergebnissen im Verkehr führen würde, entgegentreten. „Die Angeklagten“ hätten das Verbotszeichen auf der einheitlichen Fahrt befolgen müssen, solange sie diese Straße genutzt hätten. Die noch am selben Tag unmittelbar an das Beladen sich anschließende Rückfahrt über die gleiche Strecke könne nämlich nicht unabhängig von der vorangegangenen Benutzung als neue, selbständige Fahrt angesehen werden.

Der BGH hat seine Entscheidung weiter damit begründet, dass die dortige Belastungsbeschränkung erkennbar für beide Fahrtrichtungen gegolten hätte.

Dieser Gedanke lässt sich allerdings nicht in jedem Fall auf die Anordnung einer Geschwindigkeitsbegrenzung übertragen. Zwar mag in der Praxis häufig eine Geschwindigkeitsbeschränkung für beide Richtungen eines Streckenabschnitts gelten, wobei sich die Streckenabschnitte mit beschränkter Geschwindigkeit für die gegenläufigen Fahrtrichtungen aber keineswegs decken müssen (OLG Celle a. a. O.).

Sowohl das OLG Celle als auch das OLG Bamberg halten es in den oben genannten Entscheidungen jedoch für möglich, dass ein Betroffener aufgrund der Umstände davon ausgehen muss, dass auch für die Gegenfahrbahn ein entsprechendes Geschwindigkeitsgebot bestand. Anders als in den Sachverhalten, die den dortigen Entscheidungen zugrunde lagen, sind hier aber vom Amtsgericht Umstände festgestellt worden, aufgrund derer der Betroffene davon ausgehen musste, dass die Geschwindigkeitsbeschränkung auch für seine Fahrtrichtung galt:

Zum einen war die Begrenzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit in Kombination mit dem Verkehrszeichen „Arbeitsstelle“ angeordnet worden. Zum anderen befand sich die Baustelle nach den Feststellungen des Amtsgerichtes mittig auf den nicht durch Leitplanken getrennt Fahrbahnen. Wenn bei einer derartigen Örtlichkeit eine Geschwindigkeitsbegrenzung für eine Fahrtrichtung angeordnet worden ist, drängt sich auf, dass für die entgegengesetzte Fahrtrichtung nichts anderes gilt.

Letztlich ist die Frage, ob dem Betroffenen aufgrund der Örtlichkeit ein Fahrlässigkeitsvorwurf zu machen ist, aber eine solche des konkreten Einzelfalles und deshalb der Fortbildung des Rechts nicht zugänglich, während die sonstigen Fragen in diesem Zusammenhang geklärt sind.“

Ich habe meine Zweifel, ob die Auffassung des OLG zutreffend ist, wobei – hier – allerdings nicht übersehen werden darf, dass der Betroffene ortskundig war. Allerdings stellt sich die Frage, ob man die Sorgfaltsanforderungen nicht überspannt. Letztlich ist die Frage, ob einem Betroffenen aufgrund der (ihm bekannten) Örtlichkeit ggf. ein Fahrlässigkeitsvorwurf zu machen ist, aber eine des konkreten Einzelfalles – so auch das OLG – und kann deshalb wohl mit einem Zulassungsantrag zur Fortbildung des Rechts nicht angegriffen werden. Allerdings bietet das für den Verteidiger wiederum ein Einfallstor, um vorzutragen, warum sich dem Betroffenen im Einzelfall die Geschwindigkeitsbeschränkung nicht aufdrängen musste.

 

Rechtsmittel III: Urteilgründe in der Berufung, oder. Sind Bezugnahmen erlaubt?

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Und die „Nachmittagsentscheidung“, der KG, Beschl. v. 22.10.2019 – (3) 121 Ss 147/19 (83/19) – befasst sich auch mit einer „Berufungsproblematik“. Die Entscheidung nimmt zu den Anforderungen der Urteilsbegründung des Berufungsurteils Stellung.

Dem KG haben die Urteilsgründe zum Schuldspruch nocht gereicht, zu den Rechtsfolgen hingegen nicht (mehr):

„Insbesondere genügen die Urteilsgründe (noch) den sich aus §§ 267 Abs. 1, 328 Abs. 1 StPO ergebenen materiell-rechtlichen Anforderungen an seine Begründung.

Urteilsgründe müssen klar, eindeutig und aus sich heraus verständlich sein (vgl. BGH NStZ-RR 2000, 304; NStZ-RR 1996, 109). Nur wenn der vom erkennenden Gericht aufgrund der Hauptverhandlung für erwiesen erachtete Tathergang und die erhobenen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in einer geschlossenen Darstellung geschildert werden, ist dem Revisionsgericht die Überprüfung des angefochtenen Urteils in rechtlicher Hinsicht verlässlich möglich (vgl. OLG Stuttgart NStZ-RR 2003, 83).

Bezugnahmen auf im gleichen Verfahren ergangene frühere Urteile sind nur unter der Voraussetzung zulässig, dass die Verständlichkeit der Darstellung und die Geschlossenheit der Urteilsgründe nicht darunter leidet (vgl. OLG Thüringen, Beschluss vom 13. Januar 1998 – 1 Ss 302/97 -, juris). Trifft das Berufungsgericht die gleichen Feststellungen wie das Erstgericht ist zur Vereinfachung der Darstellung grundsätzlich eine Bezugnahme auf das – nicht aufgehobene (vgl. BGH, Beschlüsse vom 29. März 2000 – 2 StR 71/00 – und vom 25. August 1987 – 1 StR 394/87 -, juris; NStZ-RR 2013, 22; Stuckenberg in Löwe-Rosenberg a.a.O., § 267 Rn. 32 m.w.N.) – Ersturteil hinsichtlich der Feststellungen zur Sache möglich (vgl. OLG Stuttgart, a.a.O.; OLG Jena NStZ-RR 1998, 119; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 62. Aufl., § 267 Rn. 2a; Quentin in MK-StPO, § 328 Rn. 33). Insbesondere dann, wenn das Berufungsgericht insoweit auf gleicher Beweisgrundlage zu denselben tatsächlichen Feststellungen gelangt wie das Amtsgericht, kann eine Übernahme der insoweit relevanten Textpassagen des Ersturteils in Betracht kommen (vgl. OLG Köln Beschluss vom 28. März 2018 – III-1 RVs 51/18 -, juris). Es muss indessen der konkrete Umfang, in dem das Berufungsgericht die tatsächlichen und rechtlichen Ausführungen des Amtsgerichts übernimmt, deutlich werden (vgl. BVerfG NJW 2004, 209; OLG Hamm NStZ-RR 1997, 369; Stuckenberg, a.a.O., Rn. 33 m.w.N.).

Im Umfang der zulässigen Bezugnahme auf das Ersturteil sind auch grundsätzlich Einrückungen im Hinblick auf die Feststellungen zur Sache möglich. Jedoch ist auch insoweit sicherzustellen, dass die Klarheit der Gesamtdarstellung gewährleistet ist. Zu beachten ist darüber hinaus, dass derartige Einfügungen keine widersprüchlichen oder unklaren Feststellungen des Ersturteils erfassen dürfen (OLG Stuttgart, a.a.O.). Ein Darstellungsmangel kann sich überdies daraus ergeben, dass sich die eingefügten Textpassagen nicht widerspruchfrei in den Kontext des Berufungsurteils einfügen (vgl. OLG Oldenburg, Beschluss vom 13. Oktober 1988 – Ss 435/88).

Die Verwerfung einer unbeschränkten Berufung stellt keine Bestätigung des in erster Instanz ergangenen Schuldspruches dar, sondern beruht auf in eigener Verantwortung getroffenen Schuldfeststellungen, die für sich Bestand haben und allein verbindlich sind (vgl. KG NStZ-RR 1998, 11; OLG Stuttgart NJW 1982, 897). Soweit Einrückungen aus dem Ersturteil in das Berufungsurteil vorgenommen werden, muss daher sichergestellt sein, dass die Urteilsgründe erkennen lassen, dass die Berufungskammer über die Tat und deren Rechtsfolgen eine von der Entscheidung erster Instanz unabhängige eigene Entscheidung aufgrund eigener rechtlicher und tatsächlicher Würdigung getroffen hat (vgl. OLG Köln, a.a.O.; OLG Stuttgart NStZ-RR 2003, 83). Vor diesem Hintergrund kommen derartige Einrückungen im Rahmen der Beweiswürdigung regelmäßig nicht in Betracht, da es sich bei der Vornahme dieses Bewertungsprozesses um eine ureigene Aufgabe des Tatrichters handelt (vgl. OLG Köln, a.a.O.).

Diese Maßstäbe zugrunde legend, genügen die Urteilsgründe im Hinblick auf den Schuldspruch den Begründungserfordernissen……

Zwar hat die Strafkammer die Feststellungen zur Sache aus dem amtsgerichtlichen Urteil durch Einrückung übernommen, doch lassen die Urteilsgründe den genauen Umfang der Übernahme der amtsgerichtlichen Feststellungen durch wörtliche Zitate erkennen. Ebenso ist den Urteilsgründen zu entnehmen, dass das Berufungsgericht insoweit eigene Feststellungen aufgrund eines eigenständigen Bewertungsprozesses im Hinblick auf die erhobenen Beweise getroffenen hat. Denn die Strafkammer hat ausdrücklich die im Berufungsverfahren erhobenen Beweise gewürdigt und in diesem Zusammenhang – unter Mitteilung des Inhalts der Einlassung – dargestellt, dass sich der Angeklagte in der Berufungshauptverhandlung in gleicher Weise wie in der ersten Instanz eingelassen habe. Ferner hat sich das Landgericht mit den Angaben der Zeugen S-Z, Z und S auseinander gesetzt und in nicht zu beanstandender Weise die Einlassung des Angeklagten vor diesem Hintergrund als widerlegt angesehen. Durch Vernehmung der Sachverständigen Dr. med. M hat die Strafkammer überdies Beweis zu dem Vortrag des Angeklagten erhoben, der Verzehr alkoholhaltiger Pralinen habe zu dem von den Zeugen wahrgenommenen schwankenden Gang sowie der lallenden Sprache geführt. Auch mit den Angaben der Sachverständigen, die vor dem Amtsgericht nicht gehört worden war, setzen sich die Urteilsgründe eingehend auseinander. Angesichts dessen bestehen keine Zweifel, dass das Berufungsgericht aufgrund einer eigenen umfassenden Beweiswürdigung zu den – in Übereinstimmung mit jenen des Amtsgerichts stehenden – Feststellungen gelangt ist.“

Aber:

3. Jedoch kann der Rechtsfolgenausspruch keinen Bestand haben, da die Urteilsgründe nicht erkennen lassen, dass das Landgericht insoweit eigenständige Erwägungen vorgenommen hat.

a) Die Strafkammer hat hinsichtlich der Rechtsfolgenentscheidung die Ausführungen des amtsgerichtlichen Urteils unter Einrückung dieser für zutreffend erklärt und mitgeteilt, dass sich die Kammer diesen Ausführungen „mit der Maßgabe angeschlossen [habe], dass die angeordnete Sperrfrist angesichts der bisherigen Verfahrensdauer auf nun noch 3 (drei) Monate herabzusetzen“ sei. Weitere Darlegungen zur Rechtsfolgenentscheidung enthalten die Urteilsgründe nicht.

 

Eine solche pauschale Bezugnahme auf die Rechtsfolgenentscheidung des Amtsgerichts versetzt das Revisionsgericht nicht in die Lage nachzuprüfen, ob die Strafkammer unter Berücksichtigung aller bestimmenden Strafzumessungsgesichtspunkte eine eigene Beurteilung und Bewertung vorgenommen und auf dieser Grundlage auf die ausgesprochene Strafe erkannt hat.

 

Die Strafzumessung ist ein vom Tatgericht selbstständig, in eigener Verantwortung und auf Grundlage der jeweiligen Hauptverhandlung durchzuführender Bewertungsvorgang, der in seinen Einzelheiten nicht von verschiedenen Gerichten in gleicher Weise vorgenommen werden kann (vgl. OLG München, Beschluss vom 16. Januar 2006 – 5 St RR 259/05 -, juris; OLG Thüringen, a.a.O.). Eine Bezugnahme auf Strafzumessungserwägungen des erstinstanzlichen Urteils – auch durch Einrücken der entsprechenden Textpassage – wird dieser besonderen Bewertungsaufgabe nicht gerecht und lässt darüber hinaus die Umstände außer Betracht, die sich zwischen der Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts und jener des Berufungsgerichts ergeben haben (vgl. BGH, Urteil vom 19. Mai 1988 – 2 StR 166/88 -, juris; Paul in KK-StPO, a.a.O., § 328 Rn. 8).

 

Die pauschale Bezugnahme des Berufungsgerichts auf die Strafzumessung des erstinstanzlichen Urteils vermag daher nicht die Darstellung der bestimmenden Strafzumessungsgründe zu ersetzen, die gemäß § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO Bestandteil der Urteilsgründe zu sein hat. Ein solches Vorgehen lässt bereits nicht erkennen, dass sich die Strafkammer des Umstandes bewusst war, dass sie über die Rechtsfolgen in eigener Verantwortung – und nicht im Sinne einer Bestätigung oder Nichtbestätigung der amtsgerichtlichen Entscheidung – zu befinden hatte.“

Rechtsmittel II: Wirksame Berufungsrücknahme, oder: Situative Überforderung des Angeklagten?

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Und als zweite Entscheidung stelle ich dann den KG, Beschl. v. 17.02.2020 – 3 Ws 37 u. 38/20 –  vor. Problematik: Wirksamkeit einer Berufungsrücknahme eines unverteidigten Angeklagten im Fall der notwendigen Verteidigung.

Das AG hat den Angeklagten in Anwesenheit seines Wahlverteidigers verurteilt. Gegen das Urteil hat der Angeklagte persönlich Berufung eingelegt. Das LG beraumt Berufungshauptverhandlung an, zu der es auch den Wahlverteidiger geladen hat. Der erklärt, für die Berufung nicht beauftragt zu sein. Daraufhin hat die Vorsitzende der Strafkammer dem Angeklagten mitgeteilt, es liege angesichts dessen, dass er Taxifahrer sei und mit der Entziehung der Fahrerlaubnis gerechnet werden müsse, ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO vor, und hat ihn aufgefordert, innerhalb von zwei Wochen ab Zugang des Schreibens einen Verteidiger seines Vertrauens zu benennen. Darauf teilt der Angeklagte mit:

„In der Strafsache gegen mich, V., ziehe ich hiermit meine eingereichte Berufung zurück.“

Zur Begründung hat er unter anderem ausgeführt:

Ausgehend von all den bisherigen Ungerechtigkeiten und Unrechtmäßigkeiten erwarte ich kein faires und akzeptables Urteil bei der bevorstehenden Gerichtsverhandlung seitens des Landgerichts. […]

Deshalb würde ich mich lieber fernhalten und meinen Fall nicht vor diesem Gericht behandeln lassen. […]

Ich sollte lieber der Empfehlung meines Anwalts folgen und auf eine Berufung verzichten. Er kannte anscheinend die Situation und die Aussichten besser als ich. […]

Dieser Rückzug hat zugleich auch Nachteile für mich, da ich nie mehr zu meinem Recht kommen kann. […]

Bitte streichen Sie den Gerichtsverhandlungstermin vom 4.12.2019.“

Dem Angeklagten wird dann ein Pflichtverteidiger bestellt. Die Vorsitzende der Strafkammer teilt dem dem Angeklagten dann noch mit, seine Berufungsrücknahme genüge nicht den Formvorschriften, weil er diese nicht unterschrieben habe. Darauf antwortet der Anegklagte u.a. mit:

„Die Beschlüsse und das Urteil des AGs in meinem Fall sind noch nicht rechtskräftig, sonst wäre eine Berufung gegen sie nicht erforderlich oder erlaubt sein […].

[…]

Ich bin nicht ganz schlüssig, ob ich meine Berufung zurückziehen soll oder nicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich beim Landgericht zu meinem Recht komme und für all meine Verluste und Einbüße entschädigt werde, ist, wie es bisher aussieht, nicht hoch. Ich habe deshalb einmal versucht, meine Berufung zurück zu ziehen. Die Gründe dafür habe ich dort erwähnt. Aus irgendeinem Grund wurde das nicht akzeptiert. Nun nach einer weiteren Überlegung lasse ich meine Berufung laufen […].“

Das LG hat dann die Berufung des Angeklagten als unzulässig verworfen, weil diese nach Maßgabe von § 322 StPO verspätet eingelegt worden sei. Gegen diesen Beschluss wendet sich der Angeklagte mit seiner durch einen neuen Wahlverteidiger eingelegten sofortigen Beschwerde.

Das KG hat die Wirksamkeit der durch den Angeklagten erklärten Zurücknahme der Berufung durch deklaratorischen Beschluss festgestellt und meint u.a.

„2. Der Wirksamkeit der Berufungsrücknahme steht nicht entgegen, dass der Angeklagte zum Zeitpunkt der Abgabe seiner Prozesserklärung keinen Verteidiger hatte. Zwar ist anerkannt, dass ein Angeklagter im Fall der notwendigen Verteidigung die Gelegenheit haben muss, sich von seinem Verteidiger rechtlich beraten zu lassen und die fehlende Möglichkeit dessen vor Erklärung des Rechtsmittelverzichts bzw. der Rechtsmittelrücknahme zur Unwirksamkeit der Prozesserklärung führt (vgl. BGHSt 47, 238; Senat NStZ-RR 2007, 209 und Beschluss vom 6. Mai 2002 – 3 Ws 43/02 -; KG StV 2013, 11; OLG Hamm, Beschluss vom 26. März 2009             – 5 Ws 91/09 -, juris; OLG Koblenz StraFo 2006, 27; Paul, KK-StPO 8. Aufl., § 302 Rdn. 12 m.w.N.; Allgayer a.a.O. Rdn. 36). Unabhängig davon, ob im vorliegenden Fall tatsächlich ein Fall der notwendigen Verteidigung vorlag, ist indes nicht ausschlaggebend, ob dem Angeklagten zum Zeitpunkt der Abgabe seiner Prozesserklärung ein Pflichtverteidiger bestellt ist oder er einen Wahlverteidiger mit seiner Verteidigung beauftragt hat, sondern ob sich der Angeklagte bei Abgabe der Prozesserklärung der vollen Tragweite seiner Erklärung bewusst ist (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 25. Januar 2008 – 2 BvR 325/06 -; Senat, Beschluss vom 12. Februar 2016 – 3 Ws 77/16 -, juris; OLG Hamm NJW 1983, 302) und er Gelegenheit hatte, sich zuvor ausreichend rechtlich beraten zu lassen (vgl. BGH NStZ 2014, 533 m.w.N.; OLG Koblenz NStZ 2007, 55; Allgayer a.a.O. Rdn. 36). Hierbei ist in den Blick zu nehmen, dass auch ein verteidigter Angeklagter den Rechtsmittelverzicht bzw. die Rechtsmittelrücknahme gegen den Widerspruch seines Verteidigers erklären kann (vgl. BGHSt 45, 51, 56; Paul a.a.O. m.w.N.).

Die Fälle, die den eingangs zitierten Entscheidungen zu Grunde liegen, sind durch eine situativ bedingte Überforderung der dortigen Angeklagten in der Hauptverhandlung gekennzeichnet, die sich zuvor nicht mit einem Verteidiger beraten konnten, der sie vor übereilten Erklärungen hätte abhalten können (vgl.; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 3. November 1993 – 1 Ws 539/93). Gibt der Angeklagte hingegen seine Rücknahmeerklärung in deutlichem zeitlichen Abstand zur Hauptverhandlung ab, ist regelmäßig davon auszugehen, dass er sich der Tragweite seiner Erklärung bewusst ist (vgl. OLG Koblenz a.a.O.; Jesse a.a.O. Rdn. 57) und kann von einer situativen Überforderung des Angeklagten nicht die Rede sein kann.

So liegt der Fall hier. Zwischen der Einlegung der Berufung und deren Rücknahme liegen mehr als zweieinhalb Monate. In dieser Zeit war es dem Angeklagten möglich, sich ausführliche Gedanken über eine etwaige Rechtsmittelrücknahme zu machen, einen Rechtsanwalt zu konsultieren und sich von ihm beraten zu lassen. Davon hat der Angeklagte, der auch in der Lage war, seine Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts – ohne Mitwirkung seines damaligen Verteidigers – selbst einzulegen, offenkundig auch Gebrauch gemacht. Denn in seinem Schreiben vom 1. September 2019 erwähnt er ausdrücklich die Empfehlung seines Anwalts, auf die Berufung zu verzichten, weil dieser anscheinend die Situation besser kenne als er. Zudem hat der Angeklagte seine   Berufungsrücknahme ausführlich begründet. Auch dies spricht gegen eine voreilige und unüberlegte Entscheidung eines situativ überforderten und unzureichend rechtlich beratenen Angeklagten. Soweit der Verteidiger behauptet hat, der Angeklagte verfüge nicht über ausreichende Deutschkenntnisse, sprechen dagegen schon die vom Angeklagten verfassten umfangreichen Schreiben in weitgehend fehlerfreiem Deutsch.

Rechtsmittel I: Isolierte Kostenbeschwerde, oder: Wer ist zuständig?

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Heute dann ein Rechtsmitteltag, den ich mit dem BGH, Beschl. v. 31.03.2020 – 5 StR 116/20 – eröffne.

Es geht (mal wieder) um die Kostenentscheidung und deren Anfechtung. Das LG hat die Unterbringung der Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet und ausgesprochen, dass sie die Kosten des Verfahrens zu tragen hat. Zu den notwendigen Auslagen der Nebenklägerin hat es keine Entscheidung getroffen. Gegen die Kostenentscheidung erhebt die Nebenklägerin sofortige Beschwerde und beantragt, dem Beschuldigten die der Nebenklägerin entstandenen notwendigen Auslagen aufzuerlegen.

Dazu der BGH:

„Der Senat ist für die Entscheidung über die sofortige Beschwerde nicht zuständig. Eine Zuständigkeit des Revisionsgerichts für die Entscheidung über die sofortige Beschwerde gegen die Kostenentscheidung nach § 464 Abs. 3 Satz 3 StPO besteht nur, wenn es zugleich über eine vom Beschwerdeführer eingelegte Revision zu entscheiden hat, weil lediglich in diesem Fall der erforderliche enge Zusammenhang zwischen beiden Rechtsmitteln besteht (vgl. BGH, Beschluss vom 9. März 1990 – 5 StR 73/90, BGHR StPO § 464 Abs. 3 Zuständigkeit 3; Beschluss vom 21. Februar 2017 – 2 StR 431/16, StraFo 2017, 130 f.). Hat – wie hier – nur die Beschuldigte Revision, die Nebenklägerin aber lediglich Kostenbeschwerde eingelegt, so entscheidet über die Beschwerde das Beschwerdegericht (BGH, Beschluss vom 5. Dezember 1996 – 4 StR 567/96, NStZ-RR 1997, 238; Beschluss vom 21. Februar 2017 – 2 StR 431/16, aaO). Das ist hier das Hanseatische Oberlandesgericht Hamburg.“

Also geht es jetzt beim OLG Hamburg weiter. Nichts Besonderes übrigens, muss man aber im Blick haben.

Berufung III: Strafgewalt der Berufungskammer, oder: Mehr als vier Jahre gehen nicht

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Und als dritte Entscheidung des Tages dann noch der OLG Celle, Beschl. v. 18.07.2017 – 1 Ss 32/17. Der hatte sich in meinem Blogordner bisher versteckt 🙂 . Er behandelt eine Strafzumessungsproblematik aus dem Berufungsverfahren.

Das AG hatte den Angeklagten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Die dagegen eingelegte Berufung des Angeklagten hat das Landgerichts mit der Maßgabe als unbegründet verworfen, dass der Angeklagte unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus einem Urteil des Landgerichts Aurich  und Auflösung der dort gebildeten Gesamtstrafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und zwei Monaten verurteilt wird.

Das geht so nicht, sagt das OLG Celle und hebt auf:

„2. Die Aufhebung des Urteils im Fall 2 bedingt die Aufhebung auch des Gesamtstrafenausspruchs. Dieser hätte allerdings aus den nachfolgend dargelegten Gründen ohnehin keinen Bestand haben können.

Zwar war ausweislich der im Urteil getroffenen Feststellungen zu den Vorverurteilungen des Angeklagten und des mitgeteilten Vollstreckungsstandes der Vorverurteilungen die von der Strafkammer – abweichend vom ursprünglichen Urteil des Amtsgerichts Stadthagen – vorgenommene Gesamtstrafenbildung unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus dem Berufungsurteil des Landgerichts Aurich vom 10. November 2016 grundsätzlich geboten, da im Zeitpunkt der Entscheidung des Landgerichts Bückeburg eine Gesamtstrafenlage gegeben war.

Indes hat die kleine Strafkammer mit der vorgenommenen Verhängung einer Gesamtstrafe von vier Jahren und zwei Monaten ihre Strafgewalt überschritten. Die Strafgewalt des Berufungsrichters reicht nicht über die des Amtsrichters hinaus; sie ist nach oben hin gemäß § 24 Abs. 2 GVG begrenzt auf vier Jahre Freiheitsstrafe. Dies gilt auch im Falle einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung, also in der hier vorliegenden Fallkonstellation (vgl. OLG Jena, Beschluss vom 8. März 2016 – 1 OLG 171 Ss 5/16, BeckRS 2016, 17321; OLG Jena, Beschluss vom 8. Januar 2003 – 1 Ss 280/02, NStZ-RR 2003, 139; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl. 2017, § 328 Rn. 9, § 24 GVG Rn. 11).

Weil das Berufungsgericht vorliegend eine (nachträgliche) Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als vier Jahren für schuldangemessen erachtet hat, hätte es in Ermangelung hinreichender eigener Strafgewalt von der eigentlich nach § 55 StGB zwingenden nachträglichen Gesamtstrafenbildung absehen müssen. Statthaft und angezeigt ist es in einem solchen Fall einer nicht ausreichenden Strafgewalt des Berufungsgerichts aufgrund einer nach Ergehen des erstinstanzlichen Urteils erforderlich gewordenen nachträglichen Gesamtstrafenbildung, dass das Berufungsgericht lediglich für die Tat(en) eine (Gesamt-)Freiheitsstrafe festsetzt, die Gegenstand der Verurteilung durch das mit der Berufung angefochtene amtsgerichtliche Urteil war(en), und die nachträgliche Gesamtstrafenbildung in diesem Fall dem Beschlussverfahren nach § 460 StPO überlässt (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Juni 1989 – 4 StR 236/89, NStZ 1990, 29; BGH, Urteil vom 30. Oktober 1986 – 4 StR 368/86, BGHSt 34, 204 [206]; OLG Jena, Beschluss vom 8. März 2016 – 1 OLG 171 Ss 5/16, BeckRS 2016, 17321; OLG Jena, Beschluss vom 8. Januar 2003 – 1 Ss 280/02, NStZ-RR 2003, 139; KK-StPO/Appl, 7. Aufl. 2013, § 460 Rn. 6; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl. 2017, § 328 Rn. 12, § 460 Rn. 2). Für die Beschlussentscheidung nach § 460 StPO ist in einem solchen Fall gemäß § 462a Abs. 3 Satz 4 StPO eine große Strafkammer des Landgerichts zuständig (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl. 2017, § 462a Rn. 28).

Sollte die zur neuen Verhandlung und Entscheidung berufene Strafkammer wiederum zu dem Ergebnis kommen, dass die Verhängung einer vier Jahre übersteigenden Gesamtfreiheitsstrafe geboten ist, wird sie wie vorstehend skizziert zu verfahren haben.“