Die zweite Entscheidung im heutigen „U-Haft/Haft-Reigen“ ist der OLG Braunschweig, Beschl. v. 25.03.2020 – 1 Ws 47/20. Das OLG hat einen so. Überhaftbefehl wegen nicht mehr gegebener Verhältnismäßigkeit aufgehoben.
Der Angeklagte verbüßt derzeit aufgrund eines Urteils des LG Braunschweig eine Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten. Am 04.04.2019 hat das AG Braunschweig gegen den Angeklagten einen auf den Haftgrund der Verdunkelungsgefahr sowie subsidiär auch den Haftgrund der Wiederholungsgefahr gestützten Haftbefehl erlassen. Mit diesem Haftbefehl werden dem Angeklagten 14 Fälle des bandenmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln, davon in einem Fall in Tateinheit mit Erpressung, sowie weitere 9 Fälle des gewerbsmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln, begangen in der Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel zur Last gelegt. Wegen der Einzelheiten des Vorwurfs bitte im Volltext nachlesen.
Aufgrund der Verdunkelungsgefahr wurden verschiedene Beschränkungen während der Untersuchungshaft gemäß § 119 StPO gegen den Angeklagten angeordnet, so z.B. ein Verbot der Teilnahme an Veranstaltungen mit Strafgefangenen und ehrenamtlichen Mitarbeitern, der Teilnahme am Gottesdienst gemeinsam mit Strafgefangenen und ehrenamtlichen Mitarbeitern und der Teilnahme an Sportveranstaltungen gemeinsam mit Strafgefangenen ab. Zugleich wurden allgemeine unüberwachte Besuche, unüberwachter Schriftverkehr und eine allgemeine Telefonerlaubnis (auch in der Muttersprache) versagt und die Verhinderung von Kontakten zu den Mitangeklagten Pp.1, Pp.2 und der Ehefrau des Angeklagten. Darüber hinaus ordnete die Staatsanwaltschaft die Einzelhaft für den Angeklagten an. Wegen weiterer Einzelheiten bitte auch den Volltext lesen.
Auch wegen des weiteren Verfahrensverlaufs verweise ich auf den Volltext. Das OLG hat den Haftbefehl jetzt aufgehoben. Die Entscheidung ist recht umfangreich. Daher empfehle ich das Selbststudium. Hier zunächst nur (meine) Leitsätze:
1. Der Verweis auf die angespannte Terminslage der Verteidiger eines Angeklagten in Untersuchungshaft kann allenfalls eine kurzfristige Verzögerung des Verfahrensfortgangs rechtfertigen.
2. Zur Berücksichtigung von Terminschwierigkeiten der Verteidiger bei der Anberaumung der Hauptverhandlung im Hinblick auf die Fortdauer der Untersuchungshaft.
Das OLG hat der Entscheidung folgende Leitsätze gegeben:
1. Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen findet grundsätzlich auch dann Anwendung, wenn die Untersuchungshaft nicht vollzogen wird und lediglich Überhaft notiert ist. Allerdings erfährt das Beschleunigungsgebot in solchen Fällen wegen der geringeren Eingriffsintensität eine Abschwächung.
2. Der Grad dieser Abschwächung richtet sich stets nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalles. Entscheidend ist insoweit, in welchem Maße der Gefangene in der Strafhaft Beschränkungen nach § 119 StPO unterliegt und ob die Überhaftnotierung der ansonsten denkbaren Unterbringung im offenen Vollzug und/oder der Gewährung von Lockerungen entgegensteht.
3. Der Verweis auf die angespannte Terminslage der Verteidiger eines Angeklagten in Untersuchungshaft kann allenfalls eine kurzfristige Verzögerung des Verfahrensfortgangs rechtfertigen. Denn das Recht eines Angeklagten, sich von einem Anwalt seines Vertrauens vertreten zu lassen, gilt nicht uneingeschränkt, sondern kann durch wichtige Gründe begrenzt sein. Ein solcher Grund kann in bestimmten Situationen auch das Beschleunigungsgebot in Haftsachen sein.
4. Das Hinausschieben der Hauptverhandlung wegen Terminsschwierigkeiten der Verteidiger ist infolgedessen kein verfahrensimmanenter Umstand, der eine Verzögerung von mehreren Monaten rechtfertigen könnte. Vielmehr muss zwischen dem Recht eines Angeklagten, in der Hauptverhandlung von einem Verteidiger seines Vertrauens vertreten zu werden, und seinem Recht, dass die Untersuchungshaft nicht länger als unbedingt nötig andauert, sorgsam abgewogen werden. Dabei hat auf Grund der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) das Recht des Angeklagten auf Aburteilung binnen angemessener Frist regelmäßig Vorrang.
5. Die Aussetzung der Hauptverhandlung in einer (Über-)Haftsache „zum Schutz vor der Ausbreitung des Corona-Virus“ ist jedenfalls dann nicht gerechtfertigt, wenn sie ohne jegliche Begründung ergeht und der erneute Verhandlungsbeginn ungewiss ist. Der Schutz der Gesundheit der Verfahrensbeteiligten und Dritter kann gegenüber dem Recht des Angeklagten auf Aburteilung binnen angemessener Frist vielmehr nur dann überwiegen, wenn die Aussetzung der Hauptverhandlung tatsächlich erforderlich ist, weil ihre Fortführung auch unter Schutzvorkehrungen nicht verantwortbar wäre.
Auf eins will ich dann aber doch besonders hinweise: Mit Beschluss vom 17.03.2020 hatte das LG die Hauptverhandlung zum Schutz vor der Ausbreitung des Corona-Virus ausgesetzt, ohne das aber in der Aussetzungsentscheidung näher zu begründen. Dazu merkt das OLG an:
„Die Aussetzungsentscheidung der Kammer lässt die Aufrechterhaltung des Haftbefehls vom 4. April 2019 (in der Fassung der Haftfortdauerentscheidung vom 19. Dezember 2019) bereits deshalb als unverhältnismäßig erscheinen, weil sie jegliche Begründung vermissen lässt. Insbesondere lässt sich der Aussetzungsentscheidung nicht entnehmen, dass der Schutz der Gesundheit der Verfahrensbeteiligten diese Maßnahme tatsächlich erfordert und eine Fortführung der bereits fortgeschrittenen Hauptverhandlung auch bei denkbaren Schutzvorkehrungen — z.B. ein größerer Abstand zwischen den einzelnen Sitzplätzen der Verfahrensbeteiligten und das Tragen von Schutzkleidung für Wachtmeister — nicht möglich gewesen wäre (vgl. insoweit Beschluss des Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen vom 20. März 2020, Vf. 39-IV-20, juris, Rn. 23; keine Haftsache). Schließlich rechtfertigt die Verfahrensaussetzung auch nicht, dass Rechtsanwalt pp. aufgrund seiner gesundheitlichen Situation sicherlich die weitere Teilnahme an der Hauptverhandlung derzeit nicht hätte zugemutet werden können. Denn der Beschwerdeführer hat noch zwei weitere Verteidiger, wobei jedenfalls in Bezug auf den erfahrenen Strafverteidiger pp. ein besonders erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf bei einer Infektion mit Covid-19 nicht zu erkennen ist.“