Wenn ich mich mit Kollegen über gebührenrechtliche Fragen unterhalte, werden immer zwei Dinge besonders beklagt: Einmal die restriktive „Bemessungspraxis“ der Justiz betreffend die anwaltlichen Rahmengebühren – also eine Problematik des § 14 RVG – und dann die lange Dauer von Vergütungsfestsetzungsverfahren – also § 55 RVG. Manchmal müssen die Kollegen monatelang – zum Teil noch länger – auf ihre – eh schon nicht hohen – gesetzlichen Gebühren warten. In dem Zusammenhang weise ich dann immer auf die §§ 198 f.- GVG und das OLG Zweibrücken, Urt. v. 26.01.2017 – 6 SchH 1/16 EntV– hin (dazu Verzögerte Kostenfestsetzung, oder: Hiermit kann man der Staatskasse ggf. Beine machen).
In Zukunft kann ich meinen Hinweis erweitern. Denn jetzt gibt es eine weitere OLG-Entscheidung, auf die man wegen der verzögerten Vergütungsfestsetzung und sich daraus ergebender Ansprüche hinweisen kann. Es handelt sich um das OLG Karlsruhe, Urt. v. 16.10.2018 – 16 EK 10/18, das sich mit der Entschädigung eines Pflichtverteidigers wegen unangemessener Dauer eines Vergütungsfestsetzungsverfahrens befasst. In dem Verfahren ist das Land Baden-Württemberg zur Zahlung einer Entschädigung von 924,00 € nebst Zinsen verurteilt worden. Der klagende Pflichtverteidiger hatte mit Schriftsatz vom 21.12.2015, beim AG Karlsruhe eingegangen am 04.01.2016, beantragt, seine Vergütung auf insgesamt 2.144,74 € festzusetzen. Nach einigem Hin und Her betreffend Aktenanforderung hat der Kollege dann unter dem 17.05.2016 erstmals Verzögerungsrüge erhoben. Nach weiterem Hin und Her wegen nicht vorliegender/greifbarer Aktenhat der Kollege unter dem 03.03.2017, Eingang 06.03.2017, gegenüber dem AG Karlsruhe nochmals Verzögerungsrüge erhoben. Festgesetzt worden ist dann endlich am 21.03.2017.
Das OLG führt zunächst aus, dass die Vorschriften der §§ 198 ff. GVG auch auf das Vergütungsfestsetzungsverfahren anzuwenden sind. Auch könne eine Entschädigungsklage gemäß § 198 Abs. 5 GVG bereits vom Moment des Verfahrensabschlusses an erhoben werden, wenn das als verspätet gerügte Verfahren vor Ablauf der Sechs-Monats-Frist abgeschlossen wurde. Die Verfahrensdauer sei auch unangemessen i.S.d. § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG, wobei es allerdings auch das Verhalten des Kollegen berücksichtigt.
Und:
„5) Dem Kläger ist auch ein immaterieller Nachteil im Sinne des § 198 Abs. 2 S. 1 GVG entstanden.
a) Ein immaterieller Nachteil wird dabei gemäß § 198 Abs. 2 S. 1 GVG vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Dabei handelt es sich um eine widerlegbare Vermutung, die dem Betroffenen die Geltendmachung eines immateriellen Nachteils erleichtern soll, weil in diesem Bereich ein Beweis oft nur schwierig oder gar nicht zu führen ist. Diese Vermutungsregel entspricht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (BGH, Urteil vom 13.04.2017 – III ZR 277/16 -, juris, Rn. 20). Dieser nimmt eine starke, aber widerlegbare Vermutung dafür an, dass die überlange Verfahrensdauer einen Nichtvermögensschaden verursacht hat, aber auch anerkennt, dass der immaterielle Schaden in bestimmten Fällen sehr gering sein oder gar nicht entstehen kann. In diesem Fall müsse der staatliche Richter seine Entscheidung mit einer ausreichenden Begründung rechtfertigen (EGMR [Große Kammer], Urteil vom 29.03.2006 – 36813/97Scordino/Italien, Nr. 1, NJW 2007, 1259, Rn. 204).
Im Entschädigungsprozess ist die Vermutung widerlegt, wenn der Beklagte das Fehlen eines immateriellen Nachteils darlegt und beweist, wobei ihm, da es sich um einen Negativbeweis handelt, die Grundsätze der sekundären Behauptungslast zugutekommen können. Dabei dürfen – wie allgemein im Beweisrecht – an den Beweis des Gegenteils keine übertriebenen Anforderungen gestellt werden. Die Vermutung eines auf der Verfahrensdauer beruhenden immateriellen Nachteils ist dann widerlegt, wenn das Entschädigungsgericht unter Berücksichtigung der vom Kläger gegebenenfalls geltend gemachten Beeinträchtigungen nach einer Gesamtbewertung der Folgen, die die Verfahrensdauer mit sich gebracht hat, die Überzeugung gewinnt, dass die (unangemessene) Verfahrensdauer nicht zu einem Nachteil geführt hat (BGH, Urteil vom 13.04.2017 – III ZR 277/16 -, juris, Rn. 21; Urteil vom 12.02.2015 – III ZR 141/14 -, juris, Rn. 41).
b) Dem beklagten Land ist es vorliegend nicht gelungen, die gesetzliche Vermutung eines immateriellen Nachteiles gemäß § 198 Abs. 2 S. 1 GVG zu widerlegen.
Die Annahme eines immateriellen Nachteils ist in Fallgestaltungen vorliegender Art nicht von vornherein ausgeschlossen, da im Rahmen der Vergütungsfestsetzung der Kläger als Rechtsanwalt eigene finanzielle Interessen verfolgt (vgl. zur Kostenfestsetzung im PKH-Verfahren: LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 08. Juni 2016 – L 12 SF 9/14 EK AS -, juris, Rn. 20).
Angesichts dessen, dass der Kläger als Rechtsanwalt unter anderem von aus der Staatskasse zu zahlenden und festzusetzenden Vergütungen lebt, hat diese Frage im Hinblick auf Art. 12 GG auch durchaus Grundrechtsrelevanz.
6) Dem Kläger ist eine immaterielle Entschädigung in Höhe von 800,00 € zuzusprechen. Die bloße Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war, reicht als Wiedergutmachung der Verzögerung nicht aus.
a) Gemäß § 198 Abs. 2 S. 2 GVG kann für einen Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, Entschädigung nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß Abs. 4 ausreichend ist. Als Möglichkeit der Wiedergutmachung auf andere Weise sieht § 198 Abs. 4 Satz 1 GVG insbesondere vor, dass das mit der Entschädigungsentscheidung befasste Gericht die ausdrückliche Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer treffen kann. Damit wird deutlich gemacht, dass die Geldentschädigung für Nichtvermögensnachteile bei überlangen Gerichtsverfahren kein Automatismus ist. Ein Anspruch setzt vielmehr voraus, dass die Ausschlussregelung nicht eingreift. Dementsprechend stellt § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG ein „negatives Tatbestandsmerkmal“ für einen Entschädigungsanspruch nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG dar, soweit Entschädigung für immaterielle Nachteile begehrt wird (BGH, Urteil vom 23.01.2014 – III ZR 37/13 -, BGHZ 200, 20-38, juris, Rn. 61).
Die für die Entschädigung maßgebliche Frage, ob eine Wiedergutmachung auf andere Weise im konkreten Fall ausreichend ist, kann nicht pauschal beantwortet, sondern nur unter Abwägung aller Belange im Einzelfall entschieden werden. Ausreichen kann eine schlichte Feststellung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer beispielsweise in Verfahren, in denen der Anspruchsteller durch sein Verhalten erheblich zur Verzögerung beigetragen hat oder die Überlänge des Verfahrens den einzigen Nachteil darstellt (BGH, a.a.O., Rn. 62). Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in Längeverfahren zum Teil entschieden, dass es nicht angezeigt sei, über die Feststellung einer Konventionsverletzung hinausgehend eine Entschädigung zu gewähren. Dies kann etwa auch in Verfahren, die für den Beteiligten keine besondere Bedeutung hatten, der Fall sein (BT-DS 17/3802, S. 20).
b) Gemessen daran ist nach den Umständen des vorliegenden Falles Wiedergutmachung der unangemessenen Verzögerung auf andere Weise, insbesondere durch entsprechende Feststellung im Urteilsausspruch, nicht ausreichend.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Kläger vorliegend die Festsetzung einer Verteidigervergütung in Höhe eines namhaften Betrages von über 2.000,00 € begehrte. Dass es für funktionierende und reibungslose Abläufe sowie die Planungssicherheit einer Rechtsanwaltskanzlei wesentlich ist, dass verdiente Zahlungen zeitnah liquidiert werden können oder zumindest Gewissheit darüber erlangt werden kann, dass etwa geltend gemachte Ansprüche nicht bestehen, ist nicht in Abrede zu stellen. Vor diesem Hintergrund beschränkte sich der Nachteil des Klägers nicht allein auf die reine Überlänge des Verfahrens. Soweit der Kläger mit seiner unklaren Antragstellung zur Verzögerung beigetragen hat, wurde dies bereits im Rahmen der Bemessung der Dauer der unangemessenen Verzögerung berücksichtigt.
c) Unter Berücksichtigung der vorliegenden Umstände ist dem Kläger eine Entschädigung in Höhe von 800,00 € zuzusprechen.
Gemäß § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG beträgt der Richtwert einer Entschädigung regelmäßig 100,00 € monatlich. Gemäß § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG kann das Gericht jedoch einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen, wenn der Betrag gemäß Satz 3 nach den Umständen des Einzelfalles unbillig ist. Ein Abweichen von der Entschädigungspauschale ist nur ausnahmsweise in atypischen Sonderfällen gerechtfertigt, wenn ein Verfahren nur eine außergewöhnlich geringe Bedeutung des Verfahrens für den Betroffenen hat oder aber eine nur kurzzeitige Verzögerung vorliegt. Dabei muss sich das zu beurteilende Verfahren durch eine oder mehrere entschädigungsrelevante Besonderheiten in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht von vergleichbaren Fällen abheben (BSG, Urteil vom 12. Februar 2015 – B 10 ÜG 11/13 R -, BSGE 118, 102-110, SozR 4-1720 § 198 Nr. 9, juris, Rn. 37 ff.)….“
Geht doch 🙂 .