Archiv für den Monat: Oktober 2017

Zusicherungen des Gerichts, oder: Selbstbindung bei der Strafzumessung?

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Ein wenig hin und her gegangen ist es in einem beim LG Chemnitz anhängigen Strafverfahren wegen einer Verstoßes gegen das BtM-Gesetz. Und zwar „hin und her“ wegen einer Verständigung (§ 257c StPO), die dann letztlich doch nicht zustande gekommen ist. „Gerungen“ worden ist um die Höhe der Strafe. Von der Verteidigung waren zwei Jahre auf Bewährung in die Diskussion gebracht worden, die Staatsanwaltschaft hätte sich mit drei Jahren „anfreunden“ können. Die Strafkammer hat dann eine Freiheitsstrafe zwischen zwei Jahren und zwei Jahren vier Monaten und auch eine Strafaussetzung zur Bewährung angesprochen. Zu einer Verständigung ist es aber nicht gekommen. Vom Vorsitzenden ist dann wiederholt im Protokoll festgehalten worden, dass es zu keiner Verständigung kommen werde. Der Angeklagte legte dann ein Geständnis in Form einer schriftlich vorbereiteten Verteidigererklärung ab, die er sich zu eigen machte. Der Vertreter der Staatsanwaltschaft beantragte noch mehrere Beweiserhebungen. Die Strafkammer lehnte diese Anträge ab. Zur Begründung führte sie unter anderem aus: „Um Anhaltspunkte für die Strafzumessung zu gewinnen, namentlich für eine Verurteilung des Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt wird, sind die darin unter Beweis gestellten Tatsachen ungeeignet … In diesem Fall wäre das vom Angeklagten abgegebene Geständnis nicht verwertbar. Denn der Angeklagte hat sein Geständnis aufgrund der Zusicherung der Kammer, im Falle eines Geständnisses eine Freiheitsstrafe zu verhängen, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt würde, abgegeben.“ Verurteilt hat die Strafkammer dann zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung. Die Revision der StA hatte Erfolg. Dazu der BGH im BGH, Urt. v. 25.07.2017 – 5 StR 176/17:

Mit ihrer Verfahrensrüge beanstandet die Staatsanwaltschaft im Ergebnis zu Recht, dass die Strafkammer bei der Bemessung der Strafe von einer tatsächlich nicht bestehenden Bindung an die von ihr angenommene Zusicherung einer bewährungsfähigen Strafe ausgegangen ist.

Außerhalb einer Verständigung gemäß § 257c StPO besteht keine Bindung des Tatgerichts an den von ihm für den Fall des Zustandekommens einer Absprache in Aussicht gestellten Strafrahmen (vgl. BGH, Urteil vom 9. Novem-ber 2011 – 1 StR 302/11, Rn. 45; Beschluss vom 4. August 2010 – 2 StR 205/10; Urteil vom 30. Juni 2011 – 3 StR 39/11, NJW 2011, 3463, 3464); erst recht ist es nicht verpflichtet, die dort angesprochene Strafuntergrenze zu verhängen. Ein Fall des § 257c StPO liegt hier mangels Zustimmung der Staatsanwaltschaft indes nicht vor, wie auch das Landgericht nicht verkannt hat. Nachdem die Staatsanwaltschaft in den verständigungsbezogenen Vorgesprächen jeweils angekündigt hatte, ihre gemäß § 257c Abs. 3 Satz 4 StPO erforderliche Zustimmung nicht zu erteilen, hat die Vorsitzende in den von ihr zu Protokoll gegebenen Vermerken zu Recht stets betont, dass eine Verständigung deshalb nicht zustande komme. Auch der am vierten Hauptverhandlungstag protokollierte Hinweis, dass die Strafkammer bei ihrer „Zusage“ nach dem letzten Rechtsgespräch bleibe, lässt sich trotz seiner missverständlichen Formulierung auf den in jenem Gespräch von ihr vorgeschlagenen Strafrahmen beziehen und belegt noch keine von ihr schon zu diesem Zeitpunkt als bindend verstandene Erklärung. Denn im unmittelbaren Fortgang der Verhandlung hat sie eine weitere verständigungsbezogene Erörterung durchgeführt, als deren Ergebnis die Vorsitzende erneut feststellte, dass es zu keiner Verständigung komme.

Aufgrund der Formulierung in dem Beweisbeschluss, wonach die Straf-kammer dem Angeklagten eine zur Bewährung auszusetzende Strafe „zugesichert“ habe, ist jedoch zu besorgen, dass sie gleichwohl schon vor den Schlussvorträgen der Verfahrensbeteiligten und der nachfolgenden Urteilsberatung von der verbindlichen Zusage einer solchen Strafe ausgegangen ist. Für eine von ihr angenommene Selbstbindung spricht auch, dass sie für die knapp 13 Kilogramm Marihuana betreffende Einfuhrfahrt tatsächlich eine solche Strafe verhängt hat. Dies hat hier zu einer Verletzung von § 46 StGB geführt.“

Also: Auf ein Neues…..

Sexueller Missbrauch, oder: Abweichen vom Sachverständigengutachten

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So, heute ist Feiertag, bundesweit. Daher gibt es nur zwei Postings, und zwar zunächst das BGH, Urt. v. 12.7.2017 – 1 StR 408/16. Das behandelt u.a. einen Klassiker, nämlich das Abweichen des Tatgerichts vom Ergebnis eines von ihm eingeholten Sachverständigengutachtens. Das hatte im vom BGH entschiedenen Fall die Strafkammer in einem Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs eingeholt. Dem Angeklagten waren sexueller Übergriffe gegenüber seiner Tochter, gegenüber seinen beiden Enkelinnen und gegenüber eine Freundin einer seiner Enkelinnen zur Last gelegt worden. U.a. war ein Glaubwürdigskeitsgutachten zu dieser Freundin eingeholt worden. Die Sachverständige hatte die Glaubwürdigkeit der Freundin in Abrede gestellt. Dem hatte sich die Strafkammer nicht angeschlossen. Die Revision des Angeklagten hatte keinen Erfolg:

2. Soweit die Strafkammer von dem die Nebenklägerin J. be-treffenden aussagepsychologischen Sachverständigengutachten, das die Er-lebnisbezogenheit ihrer Angaben in Frage gestellt hatte, abgewichen ist, liegt darin kein Rechtsfehler.

a) Es kann dahin stehen, ob die Strafkammer überhaupt verpflichtet ge-wesen wäre, zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Geschädigten J. auf die Hilfe einer aussagepsychologischen Sachverständi-gen zurückzugreifen; denn die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Zeugenaus-sagen ist grundsätzlich Aufgabe des Tatgerichts, wobei regelmäßig davon auszugehen ist, dass Berufsrichter über diejenige Sachkunde bei der Anwendung aussagepsychologischer Glaubwürdigkeitskriterien verfügen, die für die Beurteilung von Aussagen auch bei schwieriger Beweislage erforderlich ist. Dies gilt bei jugendlichen Zeugen erst recht, wenn die Berufsrichter – wie vorliegend – Mitglieder der Jugendschutzkammer sind und über spezielle Sachkunde in der Bewertung der Glaubwürdigkeit von jugendlichen Zeugen verfügen (BGH, Urtei-le vom 18. August 2009 – 1 StR 155/09 Rn. 7, NStZ 2010, 51, 52 und vom 26. April 2006 – 2 StR 445/05, NStZ-RR 2006, 241 mwN; Beschluss vom 8. Januar 2013 – 1 StR 602/12, NStZ 2013, 672).

Die Hinzuziehung eines psychologischen Sachverständigen ist lediglich dann geboten, wenn der Sachverhalt Besonderheiten aufweist, die Zweifel daran aufkommen lassen, ob die eigene Sachkunde des Tatgerichts zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit unter den konkret gegebenen Umständen ausreicht (BGH, st. Rspr.; vgl. Beschlüsse vom 8. Januar 2013 – 1 StR 602/12, NStZ 2013, 672; vom 25. April 2006 – 1 StR 579/05, NStZ-RR 2006, 242, 243 und vom 12. November 1993 – 2 StR 594/93, StV 1994, 173). Solche Besonderheiten sind nicht schon allein deshalb anzunehmen, weil Gegenstand der Aussage eine Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung ist oder der Zeuge zur Zeit des geschilderten Vorfalls in kindlichem oder jugendlichem Alter war oder zum Zeitpunkt seiner Aussage ist.

b) Es ist einem Tatgericht auch nicht verwehrt, vom Gutachten eines Sachverständigen abzuweichen. Es muss dann aber die maßgeblichen Überlegungen des Sachverständigen wiedergeben und seine Gegenansicht unter Auseinandersetzung mit diesen begründen (BGH, Beschluss vom 29. Septem-ber 2016 – 2 StR 63/16 Rn. 6, NStZ-RR 2017, 88, 89, mwN; BGH, Urteil vom 1. April 2009 – 2 StR 601/08 Rn. 11, NStZ 2009, 571, 572).

Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil gerecht. Die konkreten Erwägungen der Strafkammer, die sie der sachverständigen Einschätzung entgegensetzt, sind für den Senat ohne weiteres nachvollziehbar und rechtsfehlerfrei.

Lösung zu: Ich habe da mal eine Frage: Bekomme ich die Beschwerde in der Strafvollstreckung vergütet?

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Meine Antwort auf die Frage vom vergangenen Freitag: Ich habe da mal eine Frage: Bekomme ich die Beschwerde in der Strafvollstreckung vergütet?, war kurz und knapp, und zwar wie folgt:

„Hallo,

bevor ich schreibe „Mal wieder Gebühren (im Burhoff/Volpert konnte ich nix finden)“ würde ich erst mal schauen/lesen. Der Fall ist beschrieben bei § 48 Abs. 6 Rn 17 mit einem Beispiel.“

Nun, die Antwort ist hier vielleicht ein wenig knapp. Daher folgende Erläuterung: § 48 Abs. 6 RVG gilt auch in der Strafvollstreckung. Damit gilt auch Satz 2 mit der Folge, dass die Erstreckung immer nur für die jeweilige Instanz gilt. Die Beiordnung im Beschwerdeverfahren führt also nicht dazu, dass für die Tätigkeiten bei der StVK auch noch die Nr. 4204 Vv RVG geltend gemacht werden könnte.

Und <<Werbemodus an>> wenn wir schon von „Burhoff/Volpert“ schreiben, dann: Hier geht es zum Bestellformular für „Burhoff/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 5. Auflage, 2017“, <<Werbemodus aus>>.

Bewährungswiderruf wegen neuer Straffälligkeit, oder: Kopfschütteln

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Die zweite Entscheidung in der Reihe der Entscheidungen, die ich in dieser Woche vorstellen möchte/werde, ist der VerfGH Thüringen, Beschl. v. 03.05.2017 – VerfGH 52/16 -, der sich mit einer Bewährungsfrage befasst. Es geht um den Widerruf von Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56f StGB) aufgrund erneuter Straffälligkeit durch das Vollstreckungsgericht in den Fällen, in denen vom Tatgericht noch einmal Strafaussetzung zur Bewährung gewährt worden ist. Dazu sagt der VerfGH:

„4. Aus diesem mit einem besonderen Rang ausgestatteten Grundrecht der Freiheit der Person nach Art. 3 Abs. 1 Satz 2 ThürVerf ergeben sich in Hinsicht auf eine durch einen Bewährungsbruch veranlassten vollstreckungsgerichtlichen Entscheidung über den Widerruf einer Strafaussetzung nach § 56f Abs. 1 StGB besondere verfassungsrechtliche Anforderungen.

a) Zunächst ist das Vollstreckungsgericht gehalten, die grundsätzlich bestehende Entscheidungsprärogative des Tatgerichts zu beachten, das die Strafe trotz des Bewährungsbruchs erneut nach § 56 Abs. 1 StGB zur Bewährung ausgesetzt hat. Will das Vollstreckungsgericht von der Entscheidung des Tatgerichts abweichen, hat es sich intensiv und nicht lediglich formelhaft mit dessen Begründung auseinanderzusetzen. Das bedeutet für die hier vorliegende Konstellation konkret:

aa) Das Vollstreckungsgericht hat seine Entscheidung über den Widerruf eines Strafaussetzung aufgrund einer neuen Prognose zu treffen (Stree/Kinzing, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl., 2014, § 56f, Rn. 9). Neue Straftaten in der Bewährungszeit stellen dabei grundsätzlich ein Indiz dafür dar, dass sich die bei der vorherigen Verurteilung gehegte Erwartung, der Täter werde sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und auch ohne Einwirkung des Strafvollzugs einen rechtstreuen Lebenswandel führen, nicht erfüllt hat. Neue Straftaten führen jedoch nicht zwingend zum Widerruf der Strafaussetzung und stehen einer günstigen Prognose nicht durchweg entgegen (vgl. auch BGH, Beschluss vom 18. Juni 2009 – StB 29/09 -, juris Rn. 4).

bb) Das Vollstreckungsgericht ist bei seiner Prognoseentscheidung grundsätzlich gehalten, sich der sach- und zeitnäheren Prognose des Tatgerichts anzuschließen, das die letzte, während der Bewährungszeit begangene Straftat beurteilt hat; dieses Gericht besitzt aufgrund des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen unmittelbaren Eindrucks von der Erscheinung, des Verhaltens und der Persönlichkeit des Straftäters die besseren Erkenntnismöglichkeiten (vgl. BVerfG-Vorprüfungsausschuss, Beschluss vom 19. April 1985 – 2 BvR 1269/84 -, NStZ 1985, 357; BVerfG, Kammerbeschluss vom 4. Dezember 1986 – 2 BvR 796/86 -, NStZ 1987, S. 118; BVerfG, Kammerbeschluss vom 23. Juli 2007 – 2 BvR 1092/07 -, juris Rn. 4; VerfG-Bbg, Beschluss vom 25. Mai 2012 – 20/12, 2/12 EA -, juris Rn. 22; entsprechende fachgerichtliche Entscheidungen: OLG Köln, Beschluss vom 19. März 1993 – 2 Ws 115 – 116/93, StV 1993, S. 429; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22.Oktober 1996 – 1 Ws 895 – 896/96, StV 1998, 214; OLG Hamm, Beschluss vom 6. Februar 2014 – III-1 Ws 36/14, 1 Ws 36/14, juris Rn. 8). Es würde dem hohen Rang des Grundrechts der Freiheit der Person und dem besonderen Gewicht, der ihm zukommt, nicht gerecht, wenn das Vollstreckungsgericht sich daher ohne weiteres über die Prognoseentscheidung des Tatgerichts hinwegsetzen könnte.

cc) Die Pflicht des Vollstreckungsgerichts, sich der Prognose des Tatgerichts anzuschließen und somit dessen Beurteilungsprärogative zu beachten, besteht gleichwohl nur grundsätzlich.

a) Diese Pflicht findet dann ihre unweigerliche Grenze, wenn das Tatgericht die ihm zu Gebote stehende Möglichkeit, aufgrund der größeren Sach- und Zeitnähe sich eine bessere Erkenntnisgrundlage für die von ihm zu treffende Prognose zu verschaffen, gar nicht oder nur in unzureichendem Maße wahrgenommen hat.

Ein Vollstreckungsgericht kann insbesondere von der Entscheidung eines Tatgerichts dann abweichen, wenn diese Entscheidung selbst an Mängeln leidet, das Tatgericht etwa ganz ohne Begründung seiner Prognose entschieden (vgl. VerfG-Bbg, Beschluss vom 25. Mai 2012 – 20/12, 2/12 EA -, juris Rn. 24), hinsichtlich dieser Prognose selbst erhebliche Bedenken geäußert, diese aber zurückgestellt (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 23. Juli 2007 – 2 BvR 1092/07 -, juris Rn. 4) oder wesentliche Gesichtspunkte nicht oder unzureichend bewertet hat, was insbesondere dann der Fall ist, wenn das Gericht sich mit den Vorstrafen und den der älteren Aussetzungsentscheidung zugrunde liegenden Erwägungen gar nicht auseinandergesetzt hat (vgl. VerfG-Bbg, Beschluss vom 25. Mai 2012 – 20/12, 2/12 EA -, juris Rn. 26); gleiches gilt selbstverständlich auch, wenn das Tatgericht offensichtlich unzutreffende oder nicht nachvollziehbare Erwägungen zugrunde gelegt hat (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 23. Juli 2007 – 2 BvR 1092/07 -, juris Rn. 4).

b) Darüber hinaus kann das Vollstreckungsgericht sich aber insbesondere auch dann über die tatgerichtliche Prognose hinwegsetzen, wenn es aufgrund neuerer, etwa im Wege einer Anhörung nach § 453 Abs. 1 Satz 2 StPO gewonnener Erkenntnisse die Erwägungen und Begründungen des Tatgerichts entkräften kann oder sich ihm aufgrund solcher neueren Erkenntnisse eine andere Prognose aufdrängt.

b) Ganz unabhängig davon, ob die vorgenannten Voraussetzungen vorliegen, ist das Vollstreckungsgericht aufgrund des bei Eingriffen in das Grundrecht der Freiheit der Person streng zu beachtenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes allerdings auch verpflichtet, mit besonderer Sorgfalt zu prüfen und zu würdigen, ob weniger einschneidende Maßnahmen als ein Widerruf der Strafaussetzung ausreichen, um die verurteilte Person von weiteren Straftaten abzuhalten oder dem Genugtuungsinteresse zu entsprechen. Knappe und allgemeine Wendungen in der Entscheidungsbegründung genügen in einem solchen Falle nicht. Erst recht gilt dies, wenn zwischen dem Zeitpunkt der tatgerichtlichen und dem Zeitpunkt der vollstreckungsgerichtlichen Entscheidung neue Aspekte und Umstände aufgetreten sind, die eine eingehende Prüfung und Würdigung nahelegen, ob die Voraussetzungen für das Absehen von einem Widerruf nach § 56f. Abs. 2 StGB gegeben sind.“

In meinen Augen nichts Neues zur Frage der „Bindung an die Anlassverurteilung“ und ich frage mich kopfschüttelnd – mal wieder – warum man dafür ein Verfassungsgericht braucht. Der VerfGH hat dann allerdings auch nicht wegen der Frage aufgehoben, sondern:

„5. Es kann hier dahinstehen, ob der angegriffene Beschluss des Vollstreckungsgerichts den dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt, die Vollstreckungsgerichte bei Abweichungen von tatgerichtlichen Entscheidungen zu beachten haben.
Auf jeden Fall hat das Vollstreckungsgericht hier die Bedeutung und die Tragweite des Grundrechts der Freiheit der Person hinsichtlich der Frage verkannt, ob nicht aufgrund der Schwangerschaft auch ein milderes Mittel als der Widerruf der Strafaussetzung in Betracht kommt. Bei dieser Prüfung und Würdigung dieser Frage hat ein Vollstreckungsgericht nämlich eine besondere Sorgfalt an den Tag zu legen.
Entgegen dieser Anforderung führte das Vollstreckungsgericht indessen lediglich aus, dass mildere Maßnahmen als der Bewährungwiderruf gemäß § 56f Abs. 2 StGB derzeit keinen Erfolg versprächen und der Widerruf deshalb nicht unverhältnismäßig sei. Diese Ausführung beschränkt sich nur auf die Behauptung der Verhältnismäßigkeit des Widerrufs; eine Begründung gibt das Gericht dafür jedoch nicht.
Im vorliegenden Fall war im Übrigen nicht zuletzt auch deswegen eine eingehendere Prüfung geboten, da die Beschwerdeführerin zum Zeitpunkt der Entscheidung im achten Monat schwanger und dies dem Gericht bekannt war; die fachgerichtliche Rechtsprechung geht offenbar davon aus, dass im Falle einer Schwangerschaft das mildere Mittel einer Verlängerung der Bewährungszeit zumindest näher in Betracht zu ziehen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 11. März 1987 – 1 BJs 76/80 – 2 StB 6/87, StV 1987, 350).“

Auch an der Stelle: Zumindest leichtes Kopfschütteln.

Wenn der Strafgefangene Jura studiert, oder: Immer Ausbildungsbeihilfe?

entnommen wikimedia.org
Urheber Photo: Andreas Praefcke

Schon etwas älter ist die Entscheidung, mit der ich heute die 43. KW. eröffne. Es ist der OLG Hamm, Beschl. v. 28.04.2017 – 1 Vollz (Ws) 127/17. In ihm hat das OLG zu der  Frage Stellung genommen, ob ein Strafgefangener, der ohne Genehmigung seitens der JVA ein Fernstudium aufnimmt und betreibt, keinen Anspruch auf Gewährung von Ausbildungsbeihilfe hat. Der Strafgefangene verbüßt(e) wegen Verstoßes gegen das BtM-Gesetz eine mehrjährige Freiheitsstrafe in der JVA Bochum. Im Herbst 2015 hatte er ohne Genehmigung der JVA ein Jura-Fernstudium aufgenommen. Eine ihm zugewiesene Tätigkeit in einem Unternehmensbetrieb der Anstalt stellte der Strafgefangene im Januar 2016 ein, um sich seinem Studium in Vollzeit widmen zu können. Seinen Antrag, ihm eine Ausbildungshilfe für sein Studium zu gewähren, wies die JVA unter Hinweis auf das nicht genehmigte Studium zurück. Die StVK des LG Bochum verpflichtete die JVA, den Antrag des Strafgefangenen auf Gewährung einer Ausbildungsbeihilfe erneut zu prüfen, wobei sie die Auffassung vertrat, dass ein selbst organisiertes Studium eines Gefangenen – soweit Ordnungs- oder Sicherheitsbelange nicht berührt seien – grundsätzlich genehmigungsfrei und zulässig sei. Dagegen die Rechtsbeschwerde des Leiters der JVA, die erfolgreich war:

„Die Rechtsbeschwerde erweist sich auch als begründet. Die JVA hat den Antrag des Betroffenen auf Gewährung einer Ausbildungsbeihilfe zu Recht zurückgewiesen, da ihm ein Anspruch auf Ausbildungsbeihilfe für das Studium in Vollzeit als Aus- oder Weiterbindungsmaßnahme nicht zusteht. § 32 Abs. 2 StVollzG NW gewährt Gefangenen einen Anspruch auf Ausbildungsbeihilfe nur, wenn die betroffenen Gefangenen zum Zwecke der Ausbildung von der Arbeitspflicht freigestellt sind und mithin die Durchführung der Ausbildung während der üblichen Arbeitszeit seitens der Vollzugsanstalt zumindest konkludent genehmigt worden ist.

Während der bis zum Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes NRW maßgebliche § 44 Abs. 1 StVollzG (Bund) die Zahlung einer Ausbildungsbeihilfe ausdrücklich nur für den Fall vorsieht, dass der Gefangene aufgrund seiner Teilnahme an einer Bildungsmaßnahme von seiner Arbeitspflicht freigestellt, und zudem wegen der Bezugnahme auf § 37 StVollzG die Teilnahme an der Maßnahme genehmigt worden ist, weist § 32 Abs. 2 Satz 1 StVollzG NW seinem Wortlaut nach eine solche Einschränkung nicht auf. Aus dieser geänderten Formulierung ergibt sich aber nicht die Pflicht der JVA, für jede Bildungsmaßnahme auch eine Ausbildungsbeihilfe zu zahlen. Vielmehr ist § 32 Abs. 2 Satz 1 StVollzG dahin auszulegen, dass eine Ausbildungsbeihilfe nur gewährt wird, wenn dem Gefangenen die Teilnahme an der Bildungsmaßnahme genehmigt und er zur Teilnahme an dieser Bildungsmaßnahme von seiner Arbeitspflicht gemäß § 29 Abs. 1 Satz 2 StVollzG NW freigestellt worden ist.

Aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich nicht, dass beabsichtigt war, auf das Erfordernis einer Freistellung von der Arbeitspflicht gemäß § 44 Abs. 1 StVollzG (Bund) oder einer Genehmigung zu verzichten. Vielmehr wird dort ausgeführt, dass die §§ 32 ff. StVollzG NW die in § 43 StVollzG (Bund) getroffenen Regelungen aufgreifen und neu ordnen (vgl. LT- Drucksache 16/5413, S. 114). Aus der weiteren Begründung ergibt sich, dass den Gefangenen, die an einer schulischen oder beruflichen Fortbildungsmaßnahme teilnehmen, ein Anspruch auf Ausbildungsbeihilfe zustehen soll, „der an die Stelle des Arbeitsentgelts tritt“. Hiermit wird jedoch der Grundsatz des § 44 StVollzG aufgegriffen, dass Ausbildung und Arbeit grundsätzlich gleichwertig sind und dementsprechend die Ausbildungsbeihilfe an die Stelle des Arbeitsentgelts tritt (Arloth/Krä, StVollzG, 4. Aufl., § 44 Rn. 1, Callies/Müller-Dietz, StVollzG, 11. Aufl., § 44 Rn. 2).

Im Anwendungsbereich des § 44 Abs. 1 StVollzG (Bund) ist aber allseits anerkannt, dass eine Ausbildungsbeihilfe nicht bereits dann zu bewilligen ist, wenn dem Gefangenen die Genehmigung zur Teilnahme an einer Weiterbildung erteilt wird. Zusätzlich ist erforderlich, dass er zu diesem Zweck von seiner Arbeitspflicht freigestellt wird (vgl. Callies/Müller-Dietz, a.a.O., § 44, Rn. 1 u. 2; Laubenthal in Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, StVollzG, 5. Aufl., § 44 Rn. 3, Däubler/Spaniol in Feest, StVollzG, 5. Aufl., § 44 Rz. 1, Arloth/Krä a.a.O., Rn. 2, KG Berlin ZfStrVo 1988, S. 312 f.). Denn die Vorschrift des § 44 StVollzG (Bund) verfolgt das Ziel, Ausbildungsmaßnahmen gleichwertig neben Arbeitsleistung treten zu lassen. Dem Gefangenen soll kein Nachteil daraus erwachsen, dass er anstelle einer Arbeit, für die er Lohn erhalten würde, einer genehmigten Ausbildung nachgeht.

Die Auslegung des § 32 Abs. 2 Satz 1 StVollzG NW hat sich an diesen Vorgaben zu orientieren und ergibt sich auch aus der Gesetzessystematik. Gemäß § 29 Abs. 1 Satz 2 StVollzG NW sind Gefangene verpflichtet, eine ihnen zugewiesene Beschäftigung auszuüben, so dass in Nordrhein-Westfalen für Strafgefangene grundsätzlich eine Arbeitspflicht besteht. Für die Ausübung zugewiesener Arbeit besteht ein Anspruch auf Arbeitsentgelt gemäß § 32 Abs. 1 Satz 1 StVollzG NW. Da aber Arbeit und Ausbildung grundsätzlich gleichgestellt sein sollen (vgl. Arloth/Krä, a.a.O.), soll derjenige, der statt der Arbeit eine Ausbildungsmaßnahme gemäß § 30 StVollzG NW durchläuft, ebenso entlohnt werden und zu diesem Zweck eine Ausbildungsbeihilfe erhalten. Dies ergibt sich  für das Strafvollzuggesetz NW zudem aus dem Wortlaut des § 32 Abs. 2 Satz 1 StVollzG NW, der voraussetzt, dass die Teilnahme an der Maßnahme während (Unterstreichung durch den Senat) der Arbeitszeit zu erfolgen hat („Gefangenen, die während der Arbeitszeit ganz oder teilweise an einer schulischen oder beruflichen Orientierungs-, Aus- und Weiterbildungsmaßnahme teilnehmen, wird Ausbildungsbeihilfe gewährt, …“). Insofern soll die Ausbildungsbeihilfe sicherstellen, dass ein Gefangener, der an einer Maßnahme der beruflichen oder schulischen Fortbildung teilnimmt, nicht schlechter gestellt ist als der Gefangene, der eine ihm zugewiesene Arbeit verrichtet (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 10.02.1999 – 5 Ws 4/99 -, Rn. 7, juris). Hieraus folgt, dass bei Bestehen einer Arbeitspflicht Gefangene zum Zwecke der Teilnahme an der Bildungsmaßnahme von der Arbeitspflicht freigestellt werden müssen und darüber hinaus auch die Teilnahme an der schulischen oder beruflichen Fortbildungsmaßnahme genehmigt sein muss. Aus diesem Grund erhält z.B. auch ein Gefangener, der arbeitslos ist und aus eigener Initiative ein Fernstudium aufnimmt, keine Ausbildungsbeihilfe (vgl. Feest/Lesting/Lindemann, StVollzG, 7. Auflage, Teil II, § 55 Rn. 4, 5).

Vorliegend ist dem Betroffenen die Aufnahme des Studiums nicht gemäß § 30 Abs. 1 StVollzG NW genehmigt worden. Er hat das Studium aus eigener Initiative heraus ohne Genehmigung seitens der JVA aufgenommen und betreibt es weiter ohne Genehmigung seitens der Vollzugsbehörde. Mangels Genehmigung besteht daher auch kein Anspruch auf Gewährung von Ausbildungsbeihilfe im Sinne des § 32 Abs. 2 StVollzG NW.

Hieran ändert sich auch dadurch nichts, dass der Betroffene seit dem 17.03.2016 als unverschuldet ohne Arbeit geführt wird. Insoweit besteht keine Arbeitspflicht des Betroffenen mehr. Dies hat allerdings nicht zur Folge, dass das Studium nunmehr quasi als konkludent durch die Vollzugsbehörde genehmigt und der Betroffene als von der Arbeitspflicht freigestellt zu gelten hat.

Da der Betroffene aus eigener Initiative die Arbeit niedergelegt hat und zudem seit dem 17.03.2016 als unverschuldet ohne Arbeit geführt wird, ist der Betroffene dementsprechend als arbeitslos einzustufen. Als arbeitsloser Strafgefangener hat er allerdings auch keinen Anspruch auf Arbeitsentgelt gemäß § 32 Abs. 1 StVollzG NW, so dass auch eine Ausbildungsbeihilfe nicht gewährt werden kann, da durch diese – wie oben ausgeführt wurde – an die Stelle des Arbeitsentgelts tritt, um zu verhindern, dass allein aus monetären Erwägungen heraus durch den Gefangenen die Aufnahme einer Maßnahme der beruflichen oder schulischen Bildung abgelehnt wird. Durch die Justizvollzugsanstalt wurde der Antrag auf Gewährung einer Ausbildungsbeihilfe ab dem 01.01.2016 daher zu Recht abgelehnt.