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Bewährungswiderruf wegen neuer Straffälligkeit, oder: Kopfschütteln

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Die zweite Entscheidung in der Reihe der Entscheidungen, die ich in dieser Woche vorstellen möchte/werde, ist der VerfGH Thüringen, Beschl. v. 03.05.2017 – VerfGH 52/16 -, der sich mit einer Bewährungsfrage befasst. Es geht um den Widerruf von Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56f StGB) aufgrund erneuter Straffälligkeit durch das Vollstreckungsgericht in den Fällen, in denen vom Tatgericht noch einmal Strafaussetzung zur Bewährung gewährt worden ist. Dazu sagt der VerfGH:

„4. Aus diesem mit einem besonderen Rang ausgestatteten Grundrecht der Freiheit der Person nach Art. 3 Abs. 1 Satz 2 ThürVerf ergeben sich in Hinsicht auf eine durch einen Bewährungsbruch veranlassten vollstreckungsgerichtlichen Entscheidung über den Widerruf einer Strafaussetzung nach § 56f Abs. 1 StGB besondere verfassungsrechtliche Anforderungen.

a) Zunächst ist das Vollstreckungsgericht gehalten, die grundsätzlich bestehende Entscheidungsprärogative des Tatgerichts zu beachten, das die Strafe trotz des Bewährungsbruchs erneut nach § 56 Abs. 1 StGB zur Bewährung ausgesetzt hat. Will das Vollstreckungsgericht von der Entscheidung des Tatgerichts abweichen, hat es sich intensiv und nicht lediglich formelhaft mit dessen Begründung auseinanderzusetzen. Das bedeutet für die hier vorliegende Konstellation konkret:

aa) Das Vollstreckungsgericht hat seine Entscheidung über den Widerruf eines Strafaussetzung aufgrund einer neuen Prognose zu treffen (Stree/Kinzing, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl., 2014, § 56f, Rn. 9). Neue Straftaten in der Bewährungszeit stellen dabei grundsätzlich ein Indiz dafür dar, dass sich die bei der vorherigen Verurteilung gehegte Erwartung, der Täter werde sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und auch ohne Einwirkung des Strafvollzugs einen rechtstreuen Lebenswandel führen, nicht erfüllt hat. Neue Straftaten führen jedoch nicht zwingend zum Widerruf der Strafaussetzung und stehen einer günstigen Prognose nicht durchweg entgegen (vgl. auch BGH, Beschluss vom 18. Juni 2009 – StB 29/09 -, juris Rn. 4).

bb) Das Vollstreckungsgericht ist bei seiner Prognoseentscheidung grundsätzlich gehalten, sich der sach- und zeitnäheren Prognose des Tatgerichts anzuschließen, das die letzte, während der Bewährungszeit begangene Straftat beurteilt hat; dieses Gericht besitzt aufgrund des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen unmittelbaren Eindrucks von der Erscheinung, des Verhaltens und der Persönlichkeit des Straftäters die besseren Erkenntnismöglichkeiten (vgl. BVerfG-Vorprüfungsausschuss, Beschluss vom 19. April 1985 – 2 BvR 1269/84 -, NStZ 1985, 357; BVerfG, Kammerbeschluss vom 4. Dezember 1986 – 2 BvR 796/86 -, NStZ 1987, S. 118; BVerfG, Kammerbeschluss vom 23. Juli 2007 – 2 BvR 1092/07 -, juris Rn. 4; VerfG-Bbg, Beschluss vom 25. Mai 2012 – 20/12, 2/12 EA -, juris Rn. 22; entsprechende fachgerichtliche Entscheidungen: OLG Köln, Beschluss vom 19. März 1993 – 2 Ws 115 – 116/93, StV 1993, S. 429; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22.Oktober 1996 – 1 Ws 895 – 896/96, StV 1998, 214; OLG Hamm, Beschluss vom 6. Februar 2014 – III-1 Ws 36/14, 1 Ws 36/14, juris Rn. 8). Es würde dem hohen Rang des Grundrechts der Freiheit der Person und dem besonderen Gewicht, der ihm zukommt, nicht gerecht, wenn das Vollstreckungsgericht sich daher ohne weiteres über die Prognoseentscheidung des Tatgerichts hinwegsetzen könnte.

cc) Die Pflicht des Vollstreckungsgerichts, sich der Prognose des Tatgerichts anzuschließen und somit dessen Beurteilungsprärogative zu beachten, besteht gleichwohl nur grundsätzlich.

a) Diese Pflicht findet dann ihre unweigerliche Grenze, wenn das Tatgericht die ihm zu Gebote stehende Möglichkeit, aufgrund der größeren Sach- und Zeitnähe sich eine bessere Erkenntnisgrundlage für die von ihm zu treffende Prognose zu verschaffen, gar nicht oder nur in unzureichendem Maße wahrgenommen hat.

Ein Vollstreckungsgericht kann insbesondere von der Entscheidung eines Tatgerichts dann abweichen, wenn diese Entscheidung selbst an Mängeln leidet, das Tatgericht etwa ganz ohne Begründung seiner Prognose entschieden (vgl. VerfG-Bbg, Beschluss vom 25. Mai 2012 – 20/12, 2/12 EA -, juris Rn. 24), hinsichtlich dieser Prognose selbst erhebliche Bedenken geäußert, diese aber zurückgestellt (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 23. Juli 2007 – 2 BvR 1092/07 -, juris Rn. 4) oder wesentliche Gesichtspunkte nicht oder unzureichend bewertet hat, was insbesondere dann der Fall ist, wenn das Gericht sich mit den Vorstrafen und den der älteren Aussetzungsentscheidung zugrunde liegenden Erwägungen gar nicht auseinandergesetzt hat (vgl. VerfG-Bbg, Beschluss vom 25. Mai 2012 – 20/12, 2/12 EA -, juris Rn. 26); gleiches gilt selbstverständlich auch, wenn das Tatgericht offensichtlich unzutreffende oder nicht nachvollziehbare Erwägungen zugrunde gelegt hat (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 23. Juli 2007 – 2 BvR 1092/07 -, juris Rn. 4).

b) Darüber hinaus kann das Vollstreckungsgericht sich aber insbesondere auch dann über die tatgerichtliche Prognose hinwegsetzen, wenn es aufgrund neuerer, etwa im Wege einer Anhörung nach § 453 Abs. 1 Satz 2 StPO gewonnener Erkenntnisse die Erwägungen und Begründungen des Tatgerichts entkräften kann oder sich ihm aufgrund solcher neueren Erkenntnisse eine andere Prognose aufdrängt.

b) Ganz unabhängig davon, ob die vorgenannten Voraussetzungen vorliegen, ist das Vollstreckungsgericht aufgrund des bei Eingriffen in das Grundrecht der Freiheit der Person streng zu beachtenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes allerdings auch verpflichtet, mit besonderer Sorgfalt zu prüfen und zu würdigen, ob weniger einschneidende Maßnahmen als ein Widerruf der Strafaussetzung ausreichen, um die verurteilte Person von weiteren Straftaten abzuhalten oder dem Genugtuungsinteresse zu entsprechen. Knappe und allgemeine Wendungen in der Entscheidungsbegründung genügen in einem solchen Falle nicht. Erst recht gilt dies, wenn zwischen dem Zeitpunkt der tatgerichtlichen und dem Zeitpunkt der vollstreckungsgerichtlichen Entscheidung neue Aspekte und Umstände aufgetreten sind, die eine eingehende Prüfung und Würdigung nahelegen, ob die Voraussetzungen für das Absehen von einem Widerruf nach § 56f. Abs. 2 StGB gegeben sind.“

In meinen Augen nichts Neues zur Frage der „Bindung an die Anlassverurteilung“ und ich frage mich kopfschüttelnd – mal wieder – warum man dafür ein Verfassungsgericht braucht. Der VerfGH hat dann allerdings auch nicht wegen der Frage aufgehoben, sondern:

„5. Es kann hier dahinstehen, ob der angegriffene Beschluss des Vollstreckungsgerichts den dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt, die Vollstreckungsgerichte bei Abweichungen von tatgerichtlichen Entscheidungen zu beachten haben.
Auf jeden Fall hat das Vollstreckungsgericht hier die Bedeutung und die Tragweite des Grundrechts der Freiheit der Person hinsichtlich der Frage verkannt, ob nicht aufgrund der Schwangerschaft auch ein milderes Mittel als der Widerruf der Strafaussetzung in Betracht kommt. Bei dieser Prüfung und Würdigung dieser Frage hat ein Vollstreckungsgericht nämlich eine besondere Sorgfalt an den Tag zu legen.
Entgegen dieser Anforderung führte das Vollstreckungsgericht indessen lediglich aus, dass mildere Maßnahmen als der Bewährungwiderruf gemäß § 56f Abs. 2 StGB derzeit keinen Erfolg versprächen und der Widerruf deshalb nicht unverhältnismäßig sei. Diese Ausführung beschränkt sich nur auf die Behauptung der Verhältnismäßigkeit des Widerrufs; eine Begründung gibt das Gericht dafür jedoch nicht.
Im vorliegenden Fall war im Übrigen nicht zuletzt auch deswegen eine eingehendere Prüfung geboten, da die Beschwerdeführerin zum Zeitpunkt der Entscheidung im achten Monat schwanger und dies dem Gericht bekannt war; die fachgerichtliche Rechtsprechung geht offenbar davon aus, dass im Falle einer Schwangerschaft das mildere Mittel einer Verlängerung der Bewährungszeit zumindest näher in Betracht zu ziehen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 11. März 1987 – 1 BJs 76/80 – 2 StB 6/87, StV 1987, 350).“

Auch an der Stelle: Zumindest leichtes Kopfschütteln.

Und täglich grüßt das Murmeltier, oder Neues aus dem Osten? VerfGThüringen zum BVV bei Verletzung des Richtervorbehalts (§ 81a Abs. 2 StPO)

Der Kollege Melchior hat mich gestern dankenswerter Weise auf den Beschl. des VerfGH Thüringen v. 25.03.2010 – verfGH 49/09 und VerfGH 50/09 hingewiesen.

Auch Backe, das sind rund 30 Seiten (warum muss ein Verfassungsgericht eigentlich immer so viel schreiben?), die ich bislang nur habe überfliegen können. Auf den ersten Blick bringt der Beschluss nichts wesentlich Neues, aber auf zwei Dinge will ich nach einem ersten Lesen doch hinweisen:

  1. Der VerfGH betont ausdrücklich, dass § 81a StPO auch für die Anordnung einer Blutentnahme zum Nachweis einer Trunkenheitsfahrt gilt. Davon sind bisher zwar alle Gerichte ausgegangen – sonst hätten wir die Diskussion ja nicht, aber keins hat es so ausdrücklich erwähnt (ist mir jedenfalls nicht aufgefallen, kann man aber bei der Vielzahl der Entscheidungen auch überlesen haben).
  2. Zur in der Praxis vornehmlich interessierenden Frage :“Beweisverwertungsverbot?“ hält sich die Entscheidung, die sich auch mit der Frage der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde auseinandersetzt, auf dem Level der dazu vorliegenden Rechtsprechung: Abwägung und Verstoß gegen Willkürverbot? (so ganz gut kommen AG und LG aber nicht weg).

Aber halt Stopp!! Von Bedeutung ist m.E. dass von den entscheidenden neun Richtern drei abweichender Auffassung waren und das auch ausgeführt haben. Sie sehen die Frage des Beweisverwertungsverbotes teilweise anders. Insofern also: Ein wenig Neues aus dem Osten.

Man wird die Entscheidung dann mal in Ruhe lesen müssen, um zu sehen, was sie sonst ggf. noch Neues bringt.