Archiv für den Monat: August 2016

Wer nicht verheiratet ist, zahlt mehr Steuern, oder: No Splittingtarif

NichtehelicheDer Samstag ist im BOB ja immer der Tag für ein „Kessel Buntes“. Und daher gibt es dann heute dazu/daraus eine FG-Entscheidung, nämlich das FG Münster, Urt. v. 18.05.2016 – 10 K 2790/14 E. Ja, ganz bunt, denn die im Urteil behandelte Problematik ist die Frage, ob Lebensgefährten einer nicht ehelichen Lebensgemeinschaft – wie Eheleute – unter den steuerlichen „Splittingtarif“ fallen. Ausgangspunkt der Diskussion ist § 2 Abs. 8 des EStG ist geregelt, der aber „Lebenspartner und Lebenspartnerschaften“ anführt, nicht aber „einfache“ nichteheliche Lebensgemeinschaften. Dazu hat dann das FG Münster ausgeführt:

Der Gesetzgeber beabsichtigte bei Einführung des § 2 Abs. 8 EStG durch das EStGBVerfG2013-05-07ÄndG vom 15.07.2013 (BGBl I 2013, 2397) nach Auffassung des Senats – den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts entsprechend – lediglich die einkommensteuerrechtliche Gleichstellung der Ehe mit der eingetragenen Lebenspartnerschaft nach dem Lebenspartnerschaftsgesetz. Dafür, dass der Gesetzgeber eine über den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts hinausgehende Regelung auch für nichteheliche (verschiedengeschlechtliche) oder nichteingetragene (gleichgeschlechtliche) – also nicht rechtlich institutionalisierte – Lebensgemeinschaften schaffen wollte, bestehen keine Anhaltspunkte.

Entgegen der Auffassung der Kläger enthält § 1 Abs. 1 LPartG eine Legaldefinition der Begriffe „Lebenspartnerinnen“ und „Lebenspartner“. Dies sind zwei Personen gleichen Geschlechts, die gegenüber dem Standesbeamten persönlich und bei gleichzeitiger Anwesenheit erklären, miteinander eine Partnerschaft auf Lebenszeit führen zu wollen. Durch diese Erklärung gegenüber dem Standesbeamten begründen sie eine „Lebenspartnerschaft“ im Sinne des Lebenspartnerschaftsgesetzes. Eines Rückgriffs auf das Sozialrecht bedarf es zur Definition des Begriffes „Lebenspartner“ daher nicht.

Nach dem Sinn und Zweck umfasst § 2 Abs.8 EStG nur die eingetragenen Lebenspartner und eingetragenen Lebenspartnerschaften. Denn Anknüpfungspunkt für die einkommensteuerliche Privilegierung durch die Anwendung des Splittingtarifs ist die rechtlich gebundene, institutionalisierte Form des Zusammenlebens, die Ehegatten und Lebenspartner nach dem Lebenspartnerschaftsgesetz für sich gewählt haben. Zwischen verheirateten Paaren und verpartnerten Paaren einerseits und eheähnlichen Lebensgemeinschaften andererseits besteht der Unterschied, dass es sich bei Letzteren – zu denen auch die Kläger zählen – nicht um rechtliche Gemeinschaften handelt. Wie Ehegatten oder eingetragene Lebenspartner können auch Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft sozial und finanziell füreinander einstehen und einen gemeinsamen Haushalt führen. Sie sind hierzu aber rechtlich nicht verpflichtet. Es gibt derzeit keinen Zugewinnausgleichsanspruch, keinen Unterhaltsanspruch und auch keine Versorgungsausgleichsansprüche für sie. Hierdurch wird die Ungleichbehandlung gegenüber Ehen und eingetragenen Lebenspartnerschaften gerechtfertigt.“

(Unfall)Gaffen und Autorennen – beides wird teuer

© Berlin85 - Fotolia.com

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Ja, wenn es nach dem BMJV und dem Bundesrat geht, gilt demnächst: (Unfall)Gaffen und Autorennen ist/sind verboten, wer sich nicht dran hält, wird bestraft, also wird beides „teuer“. Beides gehört nämlich zu dem in meinen Augen schier unerschöpflichen Reservoir an Gesetzesvorhaben, die das BMJV/der Bundesrat noch vor Ende der Legislaturperiode umsetzen will. Über zwei andere Gesetzesvorhaben hatte ich ja bereits schon berichtet, nämlich hier bei: Sommerloch, oder: Mal wieder Fahrverbot und Richtervorbehalt….. Für (Unfall)Gaffen und Autorennen gilt:

„Unfallgaffer“ (§ 115 StGB-E)

Im Gesetzgebungsverfahren ein Stück weiter als das „Fahrverbot für alle“ ist ein Gesetzesvorhaben des Bundesrates. Der hat nämlich bereits den Gesetzesentwurf zu dem neuen § 115 StGB-E auf den Weg gebracht und dem Bundestag zugeleitet (vgl. BT-Drs. 18/9327). Danach soll gegen Schaulustige, die nach einem (Verkehrs)Unfall knipsen und filmen statt zu helfen, vorgegangen werden können. Bisher macht sich nur strafbar, wer mit Gewalt oder durch Androhen von Gewalt Rettungsarbeiten nach einem Unfall behindert. Dies soll „im Interesse des Opferschutzes“ geändert werden. Dem Entwurf zufolge soll „mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bestraft werden, wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not Hilfeleistende der Feuerwehr, des Katastrophenschutzes oder eines Rettungsdienstes behindert“. Damit würde auch „bloßes Sitzen- und Stehenbleiben“ von der Neuregelung umfasst.

Autorennen (§ 315d StGB-E)

Bislang werden illegale Autorennen im öffentlichen Straßenverkehr nur von § 29 StVO erfasst. Es drohen eine Geldbuße und ein Fahrverbot nach § 25 Abs. 1 S. 1 StVG. Das ist angesichts einiger spektakulärer illegaler Rennen, die in der letzten Zeit zu schweren Folgen geführt haben, nach Auffassung des Bundeslandes NRW nicht (mehr) ausreichend. NRW hat daher einen Gesetzentwurf in den Bundesrat eingebracht, der künftig mit einem neuen Straftatbestand in § 315d StGB-E illegale Kraftfahrzeugrennen nicht mehr nur als Ordnungswidrigkeiten verfolgen, sondern unter Strafe stellen will. Wer ein Rennen veranstaltet oder daran teilnimmt, dem drohen  danach bis zu drei  Jahren Freiheitsstrafe (vgl. BR-Drs 362/16). Außerdem soll dann i.d.R. die Fahrerlaubnis entzogen und eine Sperrfrist verhängt werden. Dazu wird das illegale Rennen zum Katalog der Regelbeispiele in § 69 Abs. 2 StGB hinzugefügt werden. Werden bei einem solchen Rennen Leib und Leben eines Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet, soll nach dem Entwurf der Tatbestand der Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315c StGB) erfüllt sein. Schließlich wird die Vorschrift des § 315d StGB-E qualifiziert, wenn zumindest fahrlässig durch die Tat der Tod oder eine schwere Gesundheitsschädigung einer großen Zahl von Menschen verursacht wurde. § 315d Abs. 2 StGB-E ist ein Verbrechenstatbestand, d.h., dass eine Mindeststrafe von einem Jahr droht. In minder schweren Fällen kann ausnahmsweise eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten verhängt werden.

Mal sehen, was draus wird. Mit den Autorennen kann ich mich anfreunden, bei den Unfallgaffern ist das so eine Sache. Da bin ich mir nicht so ganz im Klaren, ob die zu einer Unfallstelle herbei gerufenen Polizeibeamten dann demnächst erst mal die Personalien der Gaffer feststellen, bevor geholfen wird 🙂 .

Ich habe da mal eine Frage: Verfahrensgebühr für das Revisionsverfahren auch bei/nach Wiedereinsetzung?

© AllebaziB - Fotolia

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Recht frisch, nämlich aus dieser Woche ist folgende Frage eines Kollegen, die eine Problematik aus dem Bereich der Revision betrifft. Und zwar:

„Hallo Herr Burhoff,

Ich habe gerade eine Revisionsbegründung fertig gestellt und nebenbei kam mir da eine gebührenrechtliche Frage in den Sinn. Ich gebe zu, dass ich noch nicht die einschlägige Fachliteratur gewälzt habe, aber vielleicht eignet sich der Fall auch für das Wochenendrätsel:“

Ja, die Frage eigent sich für das RVG-Rätsel. Sie lautet(e) dann wie folgt:

„In einer Berufungshauptverhandlung ist der Mandant nicht erschienen, die Berufung wurde im 2.Termin gem. § 329 IV StPO verworfen. Hiergegen habe ich im Namen des Mandanten Wiedereinsetzung beantragt und gleichzeitig Revision eingelegt. Die Berufungskammer hat über die Wiedereinsetzung noch nicht entschieden, weshalb ich die Revision nunmehr begründen musste. Steht mir dafür die Gebühr VV Nr. 4130 zu, wenn das Landgericht dem Wiedereinsetzungsantrag doch noch stattgeben sollte? Oder kann die Begründung der Revision in diesem Fall nur über eine Erhöhung der Verfahrensgebühr im Berufungsverfahren Berücksichtigung finden?“

Nur Mut 🙂 .

Pflichti II: Pflichtverteidigertausch, oder: Der Wahlanwalt muss auch (noch) wollen

© santi_ Fotolia.com

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Auch die zweite „Pflichtverteidigerentscheidung“ des heutigen Tages betrifft eine Rücknahmeproblematik (vgl. dazu auch schon den KG, Beschl. v. 21.04.2016 – 2 Ws 122/16 und Pflichti I: Mal einfach eben so den zweiten Pflichtverteidiger entpflichten geht nicht………..). Der Beschluss kommt ebenfalls vom KG und betrifft die Frage der Rücknahme der Pflichtverteidigerbestellung nach Wahl eines anderen Verteidigers nach § 143 StPO. Dazu sagt das KG im KG, Beschl. v.  30.06.2016 – 3 Ws 309 und 310/16: Die Rücknahme der Bestellung eines Rechtsanwaltes als Pflichtverteidiger setzt jedenfalls voraus, dass der Wahlverteidiger zum Zeitpunkt der Rücknahme der Bestellung noch mandatiert ist sowie dauerhaft und nicht nur punktuell zur Übernahme der Verteidigung des Angeklagten bereit und in der Lage ist. Denn:

„Nach § 143 StPO ist grundsätzlich die Bestellung eines Pflichtverteidigers zurückzunehmen, wenn ein anderer Verteidiger gewählt wird und dieser die Wahl annimmt. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz liegt dann vor, wenn ein unabweisbares Bedürfnis dafür besteht, den Pflichtverteidiger neben dem Wahlverteidiger tätig bleiben zu lassen (vgl. Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 5. März 2014 – 1 Ws 18/14 – m.w.N,  juris).

a) Die Rücknahme der Bestellung setzt jedenfalls voraus, dass der Wahlverteidiger zum Zeitpunkt der Rücknahme der Bestellung des Pflichtverteidigers noch mandatiert ist sowie dauerhaft und nicht nur punktuell zur Übernahme der Verteidigung des Angeklagten bereit und in der Lage ist.

Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.

Rechtsanwalt E. hat von Anfang an gegenüber dem Gericht klar zum Ausdruck gebracht, dass seine Beauftragung als Wahlverteidiger temporär sein sollte und zwar bezogen auf die Sitzungstage am 3., 4. und später auch am 24. Mai 2016. Sie habe auf die Dauer der Vernehmung des ehemaligen Mitangeklagten als Zeugen beschränkt sein sollen, nur insoweit habe er die Pflichtverteidigerin unterstützen sollen. In diesen Ausschnitt der Beweisaufnahme sei er eingearbeitet. Seine Beauftragung sei danach beendet.

Der Senat hat keinen Anlass, an diesen Angaben zu zweifeln. Das Wahlmandat war von vornherein auf diese Sitzungstage beschränkt, so dass am 27. Mai 2016, also zum Zeitpunkt der Entscheidung der Vorsitzenden, die Voraussetzungen des § 143 StPO nicht mehr vorlagen. Anhaltspunkte dafür, dass doch eine dauerhafte Beauftragung zur Verteidigung des Angeklagten in der zum Zeitpunkt des Auftretens des Rechtsanwalts bereits 19 Verhandlungstage andauernden Hauptverhandlung und damit bereits fortgeschrittenen Beweisaufnahme über den 24. Mai 2016 hinaus erfolgt ist, ergeben sich weder aus der angegriffenen Entscheidung noch anderweitig. Auch fehlen tatsächlich belastbare Hinweise darauf, dass sich Rechtsanwalt E., wie in dem angefochtenen Beschluss behauptet, in den gesamten Verfahrensstoff eingearbeitet hat. Auf der Grundlage seines eigenen, nachvollziehbaren und nicht widerlegten Vorbringens ist er auch nicht geeignet, das Verfahren sichern zu können. Seinem Beschwerdevorbringen, er könne aufgrund der räumlichen Distanz zwischen D. und B., bestehender Terminskollisionen und seinem Tätigkeitsschwerpunkt „Zivilrecht“ eine ordnungsgemäße Verteidigung nicht gewährleisten, kann der Senat folgen. Selbst wenn die Vorsitzende der Strafkammer bestehende Terminskollisionen nach der Beschwerdeentscheidung durch Absprachen beseitigen will, ändert dies an dem bereits beendeten Mandat und der darüber hinaus fehlenden Bereitschaft des Rechtsanwalts E. zur ordnungsgemäßen Verteidigung nichts.“

Offen lassen konnte das KG auf der Grundlage zwei Fragen, nämlich:

  • ob das Verhalten der Pflichtverteidigerin während der Hauptverhandlung, geeignet erschien, den Widerruf ihrer Bestellung aus wichtigem Grund zu rechtfertigen, und,
  • ob die unterbliebene Anhörung der Verteidiger und des Angeklagten vor der angegriffenen Entscheidung durch das Beschwerdeverfahren geheilt worden ist. Dazu sagt der Senat nur: „Der Senat neigt jedoch zu der Auffassung, dass er im Falle einer angefochtenen Ermessenentscheidung nicht die ordnungsgemäße Ausübung des Ermessens der Vorinstanz zu überprüfen hat, sondern an ihre Stelle auch hier seine Ermessensentscheidung zu setzen und dazu alle wesentlichen Tatsachen nach § 308 Abs. 2 StPO aufzuklären hat (vgl. Zabeck in Karlsruher Kommentar, StPO 7. Aufl., § 309 Rdnr. 6).“ Also insoweit ein sog. Neigungsbeschluss 🙂 .

Pflichti I: Mal einfach eben so den zweiten Pflichtverteidiger entpflichten geht nicht………..

© pedrolieb -Fotolia.com

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Vor dem RVG-Rätsel heute Nachmittag dann zunächst zwei Entscheidungen mit einer Problematik aus dem Pflichtverteidigungsbereich. Zunächst den KG, Beschl. v. 21.04.2016 – 2 Ws 122/16 zur Dauer der Pflichtverteidigerbeiordnung und/bzw. zur Rücknahme aus wichtigem Grund. Das ist eine Problematik, die in der Praxis immer wieder eine Rolle spielt. Da waren dem Angeklagaten zwei Pflichtverteidiger beigeordnet worden, der zweite weil aus Sicht des Schöffengerichts der erste Pflichtverteidiger unter Umständen als Zeuge in Betracht kam. Als im Berufungsverfahren einer der beiden Pflichtverteidigers Terminsverlegung beantragt, wird die Bestellung des ersten Pflichtverteidigers aufgehoben. Das KG sagt: So nicht, denn – und er rückt die Stellungnahme der GStA ein:

„Hiernach gilt die Bestellung eines Pflichtverteidigers gemäß § 140 StPO grundsätzlich für das gesamte Verfahren bis zur Rechtskraft. Ist die Frage der Notwendigkeit der Verteidigung in irgendeinem Verfahrensstadium positiv beantwortet worden, muss es – abgesehen von den gesetzlich geregelten Ausnahmen nach den §§ 140 Abs. 3 Satz 1, 143 StPO – insbesondere dann bei der Bestellung bleiben, wenn das Gericht lediglich seine rechtliche Auffassung über das Vorliegen der Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung ändert. Denn der Eintritt einer Änderung ist nach objektiven Kriterien zu bestimmen. Insofern ist es grundsätzlich unbeachtlich, wenn das Gericht im Laufe des Verfahrens nur seine subjektive Auffassung hinsichtlich der Notwendigkeit der Pflichtverteidigung durch eine andere Beurteilung ersetzen will oder ein während des Verfahrens neu zuständig werdendes Gericht die Auffassung des Vorderrichters nicht zu teilen vermag. Dies gebietet der Grundsatz des prozessualen Vertrauensschutzes (vgl. nur Senat, Beschluss vom 10. September 2014 – 2 Ws 49/14 –).

Zutreffend hat die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme u.a. folgendes ausgeführt:

„Nach der Bestellung von Rechtsanwalt Dr. B. erfolgte mit Beschluss des Schöffengerichts vom 3. September 2013 die Bestellung von Rechtsanwalt T. zum zweiten Pflichtverteidiger, weil laut Hauptverhandlungsprotokoll vom 19. August 2013 eine Entpflichtung des Rechtsanwalts Dr. B. im Raume stand, da dieser als Zeuge über die Umstände des Abschlusses eines ggf. für die spätere Strafzumessung relevanten Täter-Opfer-Ausgleichs vom 31. Juli 2013 zwischen dem Angeklagten und den Zeugen K., G. und B. in Betracht kam, und die Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers daher als geboten erachtet wurde. Zur Entpflichtung kam es in der Folge jedoch nicht. Bis zu der angefochtenen Entpflichtungsentscheidung hatte sich die Sach- und Rechtslage nicht in einer Weise geändert, dass die angefochtene Entscheidung gerechtfertigt gewesen sein könnte. Denn eine Vernehmung des Pflichtverteidigers zur Frage des Zustandekommens des Täter-Opfer-Ausgleichs vom 31. Juli 2013 und damit das Bedürfnis der Sicherung der Hauptverhandlung kann auch noch in der Berufungsinstanz – also bis zum Abschluss des Tatsachenrechtszugs – als erforderlich erachtet werden. Die Vorsitzende der 65. Strafkammer hat stattdessen ihre eigene – von der des Schöffengerichts abweichende – Auffassung, die Verteidigung des Angeklagten durch einen Pflichtverteidiger sei ausreichend, und Rechtsanwalt Dr. B. habe angekündigt, den Fortsetzungstermin am 28. Juni 2016 nicht wahrnehmen zu können, zur Grundlage der Aufhebung der Beiordnung gemacht.

Auch eine Rücknahme der Bestellung, die neben der in § 143 StPO genannten Fallgestaltung aus wichtigem Grund möglich ist, kommt vorliegend nicht in Betracht. Zwar ist anerkannt, dass über den Wortlaut des § 143 StPO hinaus der Widerruf der Bestellung des Pflichtverteidigers aus wichtigem Grund zulässig ist. Als wichtiger Grund kommt jeder Umstand in Frage, der den Zweck der Pflichtverteidigung, dem Angeklagten einen geeigneten Beistand zu sichern und den ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten, ernsthaft gefährdet (vgl. KG, Beschluss vom 27. Januar 2015 – 5 Ws 2/15 -). Hierfür ist indes nichts ersichtlich. Die angekündigte Nichtteilnahme am Fortsetzungstermin am 28. Juni 2016 reicht für sich genommen nicht aus, da hierin eine gewichtige Pflichtverletzung nicht gesehen werden kann, zumal der zweite Pflichtverteidiger seine Anwesenheit zugesagt hat und Anhaltspunkte für eine verfahrenswidrige wechselseitige Vertretung nicht auszumachen sind (vgl. dazu OLG Stuttgart, Beschluss vom 14. Dezember 2015-2 Ws 203/15-, juris). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Buchung des Familienurlaubs  versehentlich und ohne Kenntnis der vorherigen telefonischen Absprache der Hauptverhandlungstermine zwischen der Vorsitzenden und dem Büro des Rechtsanwalts Dr. B. erfolgt ist. Auch konnte dieser mit der Entpflichtung nicht rechnen. Denn die Vorsitzende hatte ihm noch mit Schreiben vom 21. März 2016 Gelegenheit gegeben, binnen 10 Tagen mitzuteilen, ob er die Vertretung des Angeklagten im Fortsetzungstermin am 28. Juni 2016 gewährleisten könne oder ob er einen Wechsel des Pflichtverteidigers befürworte. Die Stellungnahme des Pflichtverteidigers Dr. B. vom 29. März 2016 ging vor Ablauf der von der Vorsitzenden gesetzten Frist am 31. März 2016 bei den Justizbehörden ein. Warum die Aufhebung der Beiordnung – vorzeitig und ohne Berücksichtigung der Stellungnahme – bereits am 29. März 2016 erfolgte, erklärt sich vor diesem Hintergrund nicht.

Die Aufhebung der Beiordnung mit Beschluss vom 29. März 2016, die einen zentralen Bereich des Rechtsinstituts der Verteidigung berührt und dem Angeklagten denjenigen Verteidiger, der sein grundsätzlich beachtliches Vertrauen genießt, nimmt (vgl. OLG Stuttgart, aaO), verletzt vorliegend vielmehr das Recht des An­geklagten auf ein faires Verfahren. Wegen des aus § 142 Abs. 1 Sätze 2 und 3 StPO zu erkennenden Bestrebens des Gesetzgebers, dem Angeklagten zu ermöglichen, sich von einem Pflichtverteidiger seines Vertrauens verteidigen zu lassen, wenn dem keine wichtigen Gründe entgegenstehen, soll sich aus Gründen der gerichtlichen Fürsorgepflicht die Pflichtverteidigung möglichst wenig von der Wahlverteidigung unterscheiden (vgl. KG, Beschluss vom 13. April 2012 – 2 Ws 171/12 –).

Ein Vertrauenstatbestand ist vorliegend gegeben. Bei dem Pflichtverteidiger Dr. B. handelt es sich um den ursprünglichen Wahlverteidiger des Angeklagten, der ihn von Anfang an vertreten hat. Rechtsanwalt T. hingegen wurde erst nachträglich vorsorglich als zweiter Pflichtverteidiger zur Sicherung der Hauptverhandlung bestellt. Sowohl das Schöffengericht, das eine Entpflichtung des Pflichtverteidigers Dr. B. bis zum erstinstanzlichen Urteil am 3. Juni 2015 nicht mehr in Erwägung gezogen hat, als auch die Berufungskammer, die den beigeordneten Verteidiger Dr. B. zu den Hauptverhandlungsterminen am 21. und 28. Juni 2016 geladen hat, haben das Vertrauen des Angeklagten bestärkt, dass es bei der Bestellung seines ersten Pflichtverteidigers bleibt. Einen wichtigen Grund, der dem entgegenstehen könnte, hat auch das Gericht ausweislich des Schreibens vom 21. März 2016 offenbar zunächst nicht angenommen. Denn die Vorsitzende hatte hiermit dem Pflichtverteidiger Dr. B. noch Gelegenheit gegeben, die Vertretung des Angeklagten im Fortsetzungstermin am 28. Juni 2016 sicherzustellen.“

Passt m.E.