Am vergangenen Donnerstag habe ich über den BVerfG, Beschl. v. 24.03.2016 – 1 BvR 2012/13 berichtet (vgl. Behindertenparkplatz, oder: Schwerbehinderung als Mitverschulden?). Dazu hat mich ein Kollege darauf hingewiesen, dass das BVerfG sich vor kurzem in einerm anderen Beschluss ebenfalls mit einer Behinderung und einem darauf gestützten Mitverschulden befasst hat. Stimmt, den Beschluss hatte ich übersehen. Der hing zwar in meinem Blogordner, aber, wie gesagt, übersehen. Dabei hätte er thematisch gut gepasst. Ich liefere ihn dann aber hier jetzt nach.
Es ist der BVerfG, Beschl. v. 10.06.2016 –1 BvR 742/16. In ihm geht es um das Verbot der Benachteiligung Behinderter gem. Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG bei der Würdigung der Frage eines Mitverschuldens nach § 254 BGB. Das BVerfG hat ein Urteil des AG Bretten aufgehoben. Es ging um die Schmerzensgeldklage eines Rollstuhlfahrer, der aufgrund einer Muskelatrophie, einem sich kontinuierlich fortsetzenden Muskelschwund und damit einhergehendem Verlust körperlicher Kraft an den Rollstuhl gebunden ist. Sein Elektrorollstuhl verfügt über einen Beckengurt, der dazu dient, den Rollstuhlfahrer zu sichern, wenn dieser in seinem Rollstuhl sitzend in Kraftfahrzeugen transportiert wird. Im November 2014 überquerte der Kläger&/Rollstuhlfahrer – ohne den Beckengurt geschlossen zu haben – in seinem Rollstuhl sitzend auf dem Weg zu seiner Schule einen Fußgängerüberweg (§ 42 Abs. 2 StVO, Zeichen 350). Dabei wurde er von dem Beklagten des AG-Verfahrens mit seinem Pkw angefahren, fiel durch die Kollision aus dem Rollstuhl und zog sich dabei eine linksseitige Schädelprellung zu. Das AG hat seiner Klage stattgegeben, aber ein Mitverschulden von 1/3 angerechnet.Das Schmerzensgeld sei jedoch nach § 254 Abs. 1 BGB um einen Mitverschuldensanteil des Beschwerdeführers von einem Drittel zu reduzieren, da dieser den Beckengurt seines Rollstuhls nicht angelegt gehabt habe. Zwar bestehe keine dahingehende Rechtspflicht; jedoch habe der Beschwerdeführer durch das Nichtanlegen des Beckengurts eine Obliegenheitsverletzung begangen, die er sich anspruchsmindernd anrechnen lassen müsse. Einem Geschädigten sei es grundsätzlich freigestellt, auf Vorkehrungen zum Schutz seiner Rechtsgüter zu verzichten; er müsse dann aber die Kürzung seines Schadensersatzanspruchs hinnehmen.
Das BVerfG sieht es anders und meint:
b) Nach diesen Grundsätzen ist die vom Amtsgericht in dem angegriffenen Urteil vorgenommene Anspruchskürzung gemäß § 254 Abs. 1 BGB mit dem Verbot der Benachteiligung behinderter Menschen (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG) unvereinbar, weil sie die Ausstrahlungswirkung von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ins Zivilrecht nicht hinreichend berücksichtigt hat.
Der Vorschrift des § 254 BGB liegt der allgemeine Rechtsgedanke zugrunde, dass der Geschädigte für jeden Schaden mitverantwortlich ist, bei dessen Entstehung er in zurechenbarer Weise mitgewirkt hat. Da die Rechtsordnung eine Selbstgefährdung und Selbstbeschädigung nicht verbietet, geht es im Rahmen von § 254 BGB nicht um eine rechtswidrige Verletzung einer gegenüber einem anderen oder gegenüber der Allgemeinheit bestehenden Rechtspflicht, sondern nur um einen Verstoß gegen Gebote der eigenen Interessenwahrnehmung, also um die Verletzung einer sich selbst gegenüber bestehenden Obliegenheit. Ein Mitverschulden des Verletzten im Sinne von § 254 Abs. 1 BGB ist bereits dann anzunehmen, wenn dieser diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt. Er muss sich „verkehrsrichtig“ verhalten, was sich nicht nur durch die geschriebenen Regeln der Straßenverkehrsordnung bestimmt, sondern durch die konkreten Umstände und Gefahren im Verkehr sowie nach dem, was den Verkehrsteilnehmern zumutbar ist, um diese Gefahren möglichst gering zu halten (vgl. BGH, NJW 2014, S. 2493 <2494 Rn. 8 f.>).
Danach wäre es für eine den Beschwerdeführer nicht in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verletzende Anspruchskürzung gemäß § 254 Abs. 1 BGB erforderlich, aber auch ausreichend, wenn für Rollstuhlfahrer zum Zeitpunkt des Unfalls das Anlegen eines beim Fahrzeugtransport des im Rollstuhl sitzenden Fahrers als Sicherungsmittel vorgesehen Beckengurts auch bei der eigenständigen Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr nach allgemeinem Verkehrsbewusstsein zum eigenen Schutz geboten war. Das ist hier jedoch nicht festgestellt. Das Amtsgericht hat weder dargetan noch ist sonst ersichtlich, dass ein allgemeines Verkehrsbewusstsein das Anlegen eines am Rollstuhl aus anderen Gründen angebrachten Beckengurts geböte, weil ein ordentlicher und verständiger, auf den Rollstuhl angewiesener Mensch diesen zum eigenen Schutz auch dann anlegen würde, wenn er selbst mit seinem Rollstuhl eigenständig am öffentlichen Straßenverkehr teilnimmt. Denn der Beckengurt dient allein der Sicherung des behinderten Nutzers, wenn dieser in seinem Rollstuhl sitzend in einem Fahrzeug transportiert wird (Rollstuhlrückhaltesystem mit 4-Punkt-Gurt und zusätzlichem Beckengurt zur Sicherung des Fahrgastes), um so sein Herausfallen während der Fahrt zu verhindern.
Das Amtsgericht ist in der angegriffenen Entscheidung aufgrund des bloßen Vorhandenseins eines Beckengurts am Rollstuhl des Beschwerdeführers von höheren Sorgfaltsanforderungen bei der eigenständigen Teilnahme am Straßenverkehr ausgegangen, als sie an Verkehrsteilnehmer ohne Behinderung oder an Verkehrsteilnehmer mit Behinderung gestellt werden, die – erlaubterweise – lediglich einen nicht mit Beckengurt ausgestatteten Rollstuhl eigenständig nutzen. Dies ist mit dem Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG unvereinbar und erweist sich hier nicht nur als Rechtsanwendungsfehler im Einzelfall, sondern deutet zugleich auf eine generelle Vernachlässigung der Bedeutung des Verbots der Benachteiligung behinderter Menschen für die Beurteilung eines Mitverschuldens und damit auf einen geradezu leichtfertigen Umgang mit grundrechtlich geschützten Positionen hin (vgl. BVerfGE 90, 22 <25>).“