Im Moment bringt das OLG Stuttgart Bewegung ins Bußgeldverfahren. Nach dem OLG Stuttgart, Beschl. v. 25.04.2016 – 4 Ss 212/16 zur „Handyaufweichung“ 🙂 ? (vgl. dazu Aufweichung beim Handyverbot, wirklich?, oder: Neue „Verteidigungsansätze“?) nun der OLG Stuttgart, Beschl. v. 04.05.2016 – 4 Ss 543/15. Der behandelt – soweit ich das sehe: erstmals – die Frage der Verwertbarkeit einer privaten Dashcam-Aufzeichung im Bußgeldverfahren, und zwar als Beweismittel bei der Verurteilung wegen eines Rotlichtverstoßes. Ein anderer Verkehrsteilnehmer hatte in seinem Pkw eine Dashcam laufen lassen – aus welchen Gründen auch immer. Die Aufnahme ist dann als Beweismittel gegen den Betroffenen verwendet worden.
Dre umfangreiche Beschluss des OLG enthält m.E. drei Kernaussagen:
- Die Fertigung der Bildaufzeichnung stellte einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Betroffenen aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar.
- Ob der Zeuge durch den Betrieb seiner On-Board-Kamera in der von ihm gewählten Betriebsform gegen das datenschutzrechtliche Verbot des § 6b BDSG, nach dem die Beobachtung öffentlich zugänglicher Räume mit optisch-elektronischen Einrichtungen (Videoüberwachung) nur unter bestimmten Umständen zulässig ist, verstoßen hat oder ob sich die Zulässigkeit aus § 6b Abs. 1 Nr. 3 BDSG ergab, laässt das OLG offen. Die Frage kann es nicht abschließen beurteilen, da das AG „hierzu nicht sämtliche prüfungsrelevanten Tatsachen mitteilt.“ Insbesondere fehlen dem OLGAngaben zu den „Zwecken, die der Zeugen H. mit seiner Videoaufzeichnung verfolgt hat. Es bleibt offen, ob er einen solchen Zweck vorher überhaupt festgelegt hat. Es ist denkbar, dass er die Kamera deshalb verwendet hat, um mögliche Beweismittel bei einem Verkehrsunfall vorlegen zu können und so auch zivilrechtliche Ansprüche zu sichern; möglicherweise war bestimmendes Motiv aber auch, bei einem anderen verkehrsrechtlichen Sachverhalt Verkehrsteilnehmer anzeigen zu können. Da der genaue Zweck offen bleibt, kann der Senat nicht abschließend entscheiden, ob er als berechtigtes Interesse i. S. v. § 6b Abs. 1 Nr. 3 BDSG anzuerkennen wäre. Ebenso finden sich keine Feststellungen zur Betriebsform, in der die Kamera genutzt wurde (wurden bei eingeschalteter Zündung permanent Filmaufnahmen gemacht und auf einer SD-Karte gespeichert, bis deren Kapazität erschöpft ist? Wurden die Aufzeichnungen permanent gespeichert? Wer entscheidet bei der verwendeten Kamera, wann und wie welche Sequenzen der Videoaufzeichnung gesichert bzw. längerfristig gespeichert werden, um eventuell ein Überschreiben der Daten zu verhindern?). Auch diese Umstände könnten eventuell für die datenschutzrechtliche Beurteilung relevant sein.“
- Aber: Selbst wenn eines Verstoß gegen § 6b BDSG vorliegen würde: Ein Beweisverwertungsverbot folgt daraus nicht. Und an der Stelle argumentiert das OLG mit der Rechtsprechung der Obergerichte, insbesondere des BVerfG zur Videomessung (BVerfG, Beschl. v. 20. 05. 2011 — 2 BvR 2072/10, vgl. dazu 3. Reparaturentscheidung (?) aus Karlsruhe – oder: 2 BvR 941/08 und (k)ein (?) Ende) und verneint mit der dortigen Argumentation ein Beweisverwertungsverbot:#
- Bei der Abwägung ist zunächst zu sehen, dass es hier lediglich um die Ahndung einer Ordnungswidrigkeit und keiner Straftat geht. Die Videoaufzeichnung durch den Zeugen war geeignet, auch in das informationelle Selbstbestimmungsrecht einer unbestimmten, letztlich vom Zufall abhängigen Vielzahl weiterer Verkehrsteilnehmer einzugreifen. Sie wurde vom Betroffenen und allen anderen zufällig aufgezeichneten Verkehrsteilnehmern nach aller Lebenserfahrung nicht wahrgenommen, sondern geschah für sie verdeckt. Eine verdeckte Datenerhebung führt regelmäßig zur Erhöhung der Eingriffsintensität.
- Andererseits sind die hohe Bedeutung der Verkehrsüberwachung für die Sicherheit des öffentlichen Straßenverkehrs und das Gewicht des Verstoßes im Einzelfall (Rotlichtverstoß sehr deutlich über einer Sekunde) zu berücksichtigen. Es handelt sich nicht nur um eine Ordnungswidrigkeit im Verwarnungs- bzw. Bagatellbereich, sondern um eine solche, die bereits der Verordnungsgeber der Bußgeldkatalog-Verordnung nicht nur mit deutlich erhöhter Geldbuße, sondern im Regelfall wegen des groben Fehlverhaltens auch mit einem Fahrverbot sanktioniert sehen möchte. …
- „Die Videoaufzeichnung wurde weder durch den Staat veranlasst, um grundrechtliche Sicherungen planmäßig außer Acht zu lassen, noch wurde ein Privater gezielt mit der Fertigung beauftragt, um Beweise zu erlangen, deren sich der Staat durch die Verkehrsüberwachungsbehörden selbst nicht hätte bedienen dürfen. Das wäre allenfalls dann der Fall, wenn Privatpersonen wiederholt bzw. dauerhaft aus eigener Machtvollkommenheit zielgerichtet mittels „dashcam“-Aufzeichnungen Daten, insbesondere Beweismittel, für staatliche Bußgeldverfahren erheben, sich so zu selbsternannten „Hilfssheriffs“ aufschwingen und die Datenschutz- und Bußgeldbehörden dies dulden bzw. sogar aktiv fördern. Derartiges ist hier allerdings nicht festgestellt. Sollten die Bußgeldbehörden bzw. deren Aufsichtsbehörden einen „Orwellschen Überwachungsstaat“ durch Private befürchten (vgl. hierzu bzw. ähnlichen Überlegungen: LG Memmingen, Urteil vom 14. Januar 2016, 22 0 1983/13, juris; LG Heilbronn, Urteil vom 3. Februar 2015 — 3 S 19/14, NJW-RR 2015, 1019 ff.; AG München, Beschluss vom 13. August 2014 — 345 C 5551/14, ZfSch 2014, 692 ff.; Beschluss der Aufsichtsbehörden für den Datenschutz im nicht-öffentlichen Bereich, Düsseldorfer Kreis am 25./26. Februar 2014), stünde es ihnen zudem frei, im Rahmen des das Ordnungswidrigkeitenverfahren beherrschenden Opportunitätsgrundsatzes (§ 47 OWiG) ausschließlich auf der Ermittlungstätigkeit von Privaten mittels „dashcam“ beruhende Verfahren nicht weiter zu verfolgen. Die Bußgeldbehörden werden ihrerseits bereits bei Einleitung von Verfahren die Verwertbarkeit derartiger Aufnahmen zu prüfen und dabei auch die erforderlichen Abwägungen im Hinblick auf Bedeutung und Gewicht der angezeigten Ordnungswidrigkeit vorzunehmen haben.“