Pflichtverteidigung, oder: Der überwiegend abwesende Pflichtverteidiger fliegt raus

© G.G. Lattek - Fotolia.com

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Vor dem Start ins Wochenende dann eine Entscheidung zur Entpflichtung des Pflichtverteidigers in einem Umfangsverfahren. Es ist der OLG Stuttgart, Beschl. v. 14.12.2015 – 2 Ws 203/15 – mit folgendem Sachverhalt: Es handelt sich um ein Verfahren, in dem StA in der Anklage dem Angeklagten Vergehen des gemeinschaftlichen Betruges im besonders schweren Fall zum Nachteil von insgesamt 568 Geschädigten zur Last. Der verursachte Gesamtschaden soll ca. 20 Millionen EUR betragen. Die 185-seitige Anklageschrift benennt insgesamt 645 Zeugen und Sachverständige. Aufgrund des Verfahrensumfangs mit 327 Stehordnern Ermittlungsakten und 118 Kartons Beweismitteln sowie elektronischen Dateien im Umfang von circa sechs Terabyte erfolgte am 11. 06. 2013 die Bestellung von Rechtsanwältin J. N. als weitere Pflichtverteidigerin des Angeklagten P. Auch dem Mitangeklagten wurde ein zweiter Pflichtverteidiger beigeordnet. Die zunächst am 26. 07.2013 begonnene Hauptverhandlung musste aufgrund Schwangerschaft einer Richterin der Strafkammer am 04.02.2014 ausgesetzt werden. In der nunmehr seit dem 25.03.2014 andauernden neuen Hauptverhandlung haben bis zum 19.11.2015 insgesamt 113 Sitzungstage stattgefunden. Weitere Hauptverhandlungstermine sind bereits bis zum 30.06.2016 bestimmt.

Mit Verfügung vom 13. 02. 2015 bestellte der Vorsitzende der Strafkammer auf Antrag der Staatsanwaltschaft dem Angeklagten Rechtsanwalt T. V. als zusätzlichen Pflichtverteidiger. Dem Mitangeklagten wurde ebenfalls ein dritter Pflichtverteidiger beigeordnet. Dies wurde mit der unzureichenden Teilnahme der ursprünglichen Verteidiger an der Hauptverhandlung begründet. Am 27.04.2015 teilte Rechtsanwalt V. mit, seine Einarbeitung in den Verfahrensstoff sei abgeschlossen. Daraufhin nahm der Vorsitzende der Wirtschaftsstrafkammer die Bestellung von Rechtsanwalt Dr. U. E. als Pflichtverteidiger des Angeklagten H. P. sowie von Rechtsanwalt O. W. als Pflichtverteidiger des Mitangeklagten L. B. durch Verfügung vom 27.04.2015 mit sofortiger Wirkung zurück. Auf die Beschwerden der beiden Angeklagten wurde diese Entscheidung mit Beschluss des OLG vom 21.05.2015 aufgehoben, da keine ausreichende Abmahnung des Fehlverhaltens der Pflichtverteidiger erfolgt war. Durch Verfügung des Vorsitzenden der Wirtschaftsstrafkammer vom 23. November 2015 wurde die Bestellung von Rechtsanwalt Dr. U. E. als Pflichtverteidiger dann erneut mit sofortiger Wirkung zurückgenommen.

Hiergegen die Beschwerde – und dieses Mal hat das OLG die Entpflichtung gehalten. Begründung: Es liegt eine gewichtige Pflichtverletzung des Pflichtverteidigers Rechtsanwalt Dr. E. liegt vor. Denn zusammengefasst:

  • Der Verpflichtung zur Teilnahme an der Hauptverhandlung ist der Pflichtverteidiger im vorliegenden Fall nur ungenügend nachgekommen. Die Anwesenheitszeiten des Pflichtverteidigers betragen nur 50,09%.
  • Seit Beginn des Verfahrens ist eine nur fragmentarische Anwesenheit der beiden ursprünglichen Pflichtverteidiger, insbesondere jedoch von Rechtsanwalt Dr. E., in der Hauptverhandlung zu verzeichnen.
  • Rechtsanwalt Dr. E. hat ausgeführt, „dass er auch anlässlich von Familienfeiern oder einem jährlich stattfindenden Stammtischausflug nicht gedenke, an der Hauptverhandlung vor dem LG Stuttgart teilzunehmen. Zwar ist insoweit die „Empfehlung“, die Staatsanwaltschaft möge seine Ehefrau oder ein namentlich benanntes Mitglied seines Stammtisches nach den entsprechenden Daten befragen, ironisch überspitzt, ändert jedoch nichts an der Aussage, private Belange über die Verpflichtungen aus dem Pflichtverteidigermandat zu stellen. Dies zeigt sich auch in einer eigenmächtigen Urlaubsabwesenheit während vier Hauptverhandlungsterminen zwischen dem 11. und 21. August 2015, obwohl für die Zeit zwischen dem 21. August und dem 21. September 2015 eine Sitzungsunterbrechung zur Sommerpause angekündigt war und auch stattfand.“
  • Das OLG hat auch „berücksichtigt, dass die eingeschränkte Anwesenheit in der Hauptverhandlung zumindest teilweise auch auf einer krankheitsbedingten Verhinderung beruhen mag, die der Pflichtverteidiger nicht zu vertreten hat. Führt letztere jedoch wie im vorliegenden Fall zu einer längerfristigen gravierenden Einschränkung der Verteidigertätigkeit, so kann sie ebenfalls eine Abberufung gebieten. Dies insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt des für den Angeklagten nicht disponiblen Beschleunigungsgebots in Haftsachen, das einer – auch den Mitangeklagten treffenden – Verkürzung der Verhandlungsdauerdauer pro Sitzungstag entgegensteht. Die Entpflichtung eines Verteidigers stellt nämlich keine Sanktion für ein pflichtwidriges Verhalten in der Vergangenheit dar, sondern dient ausschließlich dazu, dem Angeklagten einen geeigneten Beistand sowie einen geordneten Prozessablauf für die Zukunft zu sichern. Auf ein Verschulden des Pflichtverteidigers kommt es mithin – zumindest im vorliegenden Fall – nicht an.“

3 Gedanken zu „Pflichtverteidigung, oder: Der überwiegend abwesende Pflichtverteidiger fliegt raus

  1. Thorsten

    Schauen wir mal, was Karlsruhe dazu sagt. Das OLG verliert kein Wort dazu, ob der Angeklagte einen Wechsel eines seiner beiden Pflichtverteidiger ausdrücklich gewünscht hatte. Und in die Frage, ob und wie sich zwei Pflichtverteidiger die Anwesenheit und Arbeit untereinander aufteilen, hat ein Gericht sich meines Erachtens jedenfalls dann nicht einzumischen, wenn sich der Angeklagte darüber nicht beschwert hat.

    Schon die offensichtlich überhastete Verfügung des Vorsitzenden vom 27.04.2015 und die doch ziemlich ausgefallene Begründungen des Verteidigers für seine Abwesenheit lassen sehr stark vermuten, dass zwischen diesem Verteidiger und dem Vorsitzenden ständig heftige Scharmützel stattgefunden haben.

    Diese Entscheidung ist schon ein sehr heftiger Eingriff in die freie Advokatur.

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