Sorry, aber manchmal versteht man es wirklich nicht bzw. ist erstaunt, zu welchen Fragen der BGH Stellung nehmen muss. Der ein oder andere Leser des BGH, Beschl. v. 20.03.2014 – 3 StR 353/13 – wird es anders sehen und wahrscheinlich bekomme ich auch Kommentare. Aber ich war jedenfalls mehr als irritiert über die Beweiswürdigung des LG Stralsund, die der BGH als rechtsfehlerhaft beanstandet hat. M.E. ein landgerichtlicher „Anfängerfehler“, den man so nicht erwartet. Die Gründe des BGH, Beschlusses sprechen für sich:
II. Das angefochtene Urteil kann keinen Bestand haben, weil sich die Beweiswürdigung im Fall II. 2. der Urteilsgründe als rechtsfehlerhaft erweist; dies entzieht dem Schuldspruch in allen abgeurteilten Fällen die Grundlage.
1. Das Landgericht hat seine Überzeugung von den getroffenen Feststellungen in erster Linie aufgrund der Angaben des Zeugen W. gewonnen. Dieser machte zu allen abgeurteilten Fällen Angaben, die die schweigenden Angeklagten belasteten. Zu Fall II. 2. der Urteilgründe gab er unter anderem an, einem Auftrag des Angeklagten L. entsprechend den Angeklagten B. am Tag der gefährlichen Körperverletzung, dem 6. Juli 2012, von D. nach S. in die Nähe des Tatorts gefahren zu haben. Die den entgegenstehenden Angaben der Eltern des Angeklagten B. , dieser habe sich zur Tat-zeit auf dem elterlichen Grundstück aufgehalten, hat die Kammer als vorsätzliche Falschaussage gewertet. Diesen Schluss hat sie „vor allem“ aus dem langen, von beiden Zeugen nicht plausibel erklärten Schweigen zum Alibi ihres Sohnes gezogen. Es widerspräche jeglicher Lebenserfahrung, dass Eltern einen entlastenden Umstand gegenüber den Strafverfolgungsbehörden verschweigen und ihren Sohn über sechs Monate in Untersuchungshaft verbringen lassen. Auf Frage, warum sie diese Angaben nicht früher gemacht habe, habe die Mutter des Angeklagten B. mit der Gegenfrage geantwortet, warum man sie nicht früher gefragt habe.
2. Diese Würdigung ist rechtsfehlerhaft. Die Eltern eines Angeklagten sind zur Aussage nicht verpflichtet, § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO. Der unbefangene Gebrauch dieses Schweigerechts wäre nicht gewährleistet, wenn der verweigerungsberechtigte Zeuge die Prüfung und Bewertung der Gründe für sein Aussageverhalten befürchten müsste (BGH, Beschluss vom 2. April 1968 – 5 StR 153/68, BGHSt 22, 113, 114). Deshalb dürfen weder aus der durchgehenden noch aus der nur anfänglichen Zeugnisverweigerung dem Angeklagten nachteilige Schlüsse gezogen werden (BGH, Urteil vom 18. September 1984 – 4 StR 535/84, NStZ 1985, 87). Letzterem steht es gleich, wenn es ein zur Zeugnisverweigerung Berechtigter zunächst unterlässt, von sich aus Angaben zu machen (BGH, Beschluss vom 23. Oktober 1986 – 4 StR 569/86, NStZ 1987, 182, 183). Einer Würdigung zugänglich ist allein das nur teilweise Schweigen des Zeugen zur Sache (BGH, Urteil vom 2. April 1987 – 4 StR 46/87, BGHSt 34, 324, 327 ff.).
Ein solches teilweises Schweigen liegt nicht vor. Da sich dies aus den Urteilsgründen selbst ergibt, ist der Fehler auf die Sachrüge hin zu beachten (vgl. zum Schweigen des Angeklagten BGH, Beschluss vom 17. Juli 1996 – 3 StR 248/96, NStZ 1997, 147; KK-Gericke, StPO, 7. Aufl., § 337 Rn. 30). Die im Urteil mitgeteilte Erklärung der Mutter des Angeklagten B. anlässlich eines Haftprüfungstermins, in dem Betrieb der Eltern sei eine Beschäftigung des Sohnes sichergestellt, sollte ersichtlich der Entkräftigung eines Haftgrundes dienen. Eine Äußerung zu den gegen den Sohn erhobenen Tatvorwürfen lag darin nicht.“
Sollte man als Strafkammer wissen bzw. muss doch nicht sein.
Wenn man das im 2. Staatsexamen nicht weiß, rollen die Prüfer – zu Recht – mit den Augen. Man fragt sich ob es bei der Justizprüfung auch andernorts niedersächsische Verhältnisse gibt.
Vielleicht war das bei den verkauften Lösungen nicht enthalten 🙂
Amüsiert hat mich – mal wieder – das absolut blutleere Argument der Lebenserfahrung, das immer dann kommt, wenn einem sonst nichts mehr einfällt. Da fragt man sich schon, auf welche Erfahrung wer zurückgreifen kann.
Das war nicht der einzige Fehler dieses merkwürdigen Urteils: Andere Highlights:
– Ein stillgelegter Fischkutter, der nach Instandsetzung und wiederhergestellter Schwimmtauglichkeit als Fischbrötchenverkaufsstätte dienen sollte, wurde als taugliches Tatobjekt i.S.d. § 306Nr. 4 StGB angesehen.
– Mein Mandant soll es geschafft haben, an mehreren Tatorten gleichzeitig gewesen zu sein, obwohl diese deutlich auseinanderlagen.
Nachzulesen unter: http://strafverteidigung-hamburg.com/1984/fischbroetchen-krieg/
man muss sich beschränken 🙂
Wie wahr ….besonders in diesem Fall!
Na immerhin wurde die gleichzeitige Anwesenheit an verschiedenen Tatorten nicht als Ausdruck besonderer krimineller Energie strafschärfen gewertet… 😉
das hätte wahrscheinlich zur Aberkennung des 2. Staatsexamens von Amts wegen geführt….
Und zu einer Schadenersatzklage gegen den Verkäufer der Examenslösungen…
Leider zitiert der BGH eine „ständige Rechtsprechung“, die nicht so 100prozentig passt. Ist ja kein seltenes Phänomen, dass irgendwelche vermeintlichen Fundstellen jahrzehntelang mitgeschleppt werden, ohne dass man liest, was da eigentlich entschieden wurde. Die Entscheidung von 1968 betraf eine Verurteilung, bei der man schon das komplette Schweigen der Zuhälterbraut (Braut steht tatsächlich so in der Entscheidung)für den Beleg der Körperverletzung hielt.
Die Sachlage bei einer Zeugin, die eine naheliegende Entlastungsbehauptung nicht vorbringt, und ihren Sohn 240 Tage in Uhaft schmoren lässt, ist mE eine deutlich andere. „Ich wurde ja nicht gefragt“ ist schön und gut, aber soweit ich weiß, darf auch der Angeklagte /U-Häftling mit mindestens Pflichtverteidiger versehen das eine oder andere Argument vorbringen, das ihm die Schrecken der U-Haft erspart.
P.s. falls RA Dr.B. mitliest Das mit dem Anonymisieren auf der verlinkten Seite hat nicht so ganz geklappt, unten kann man den Namen des Mitangeklagten „B“ auch ausgeschrieben finden.
hallo, danke für den Hinweis, den ich – aus Zeitgründen ungeprüft – an den BGH weiter geleitet habe.