„Gerichtskundige“ Tatsachen können für den Verfahrensausgang von entscheidender Bedeutung sein. Deshalb muss der Angeklagte wissen, was das Gericht als „gerichtskundig“ behandeln will. d.h., ihm ist insoweit rechtliches Gehör zu gewähren, damit er sich darauf einstellen kann. Damit befasst sich der BGH, Beschl. v. 27.07.2012 – 1 StR 68/12.
In dem Verfahren hatte das LG den Angeklagten wegen Vergewaltigung verurteilt. Zur Frage, ob es in der potentiellen Tatnacht zum Geschlechtsverkehr gekommen war, gab es unterschiedliche Angaben des Angeklagten. Die Geschädigte Y. hatte in der Hauptverhandlung auch keine keine konkrete Erinnerung an die Tatnacht mehr. Im Verfahren wurden dann bei einer rund 23 Stunden nach der Tat durchgeführten gynäkologischen Untersuchung von Y. keine Spermatozoen festgestellt. Dies hat das Landgericht als nicht gegen die Glaubhaftigkeit ihrer Anga-ben sprechend bewertet, weil der ungeschützte Geschlechtsverkehr zum Un-tersuchungszeitpunkt bereits etwa 23 Stunden zurücklag, und diesbezüglich ausgeführt: „Wie der Kammer, die häufig mit Sexualdelikten befasst ist, be-kannt ist, können Spermatozoen innerhalb eines solchen Zeitraums bereits zer-setzt und damit nicht mehr nachweisbar sein“.
Der Angeklagte hatte geltend gemacht, das LG habe über diese Tatsache keinen Beweis erhoben, sondern sie als gerichtskundig angesehen und bei seiner Beweiswürdigung herangezogen, ohne den Angeklagten zuvor auf die in Anspruch genommenen gerichtlichen Kenntnisse hingewiesen zu haben.. Mit Erfolg. Der BGh führt dazu aus:
„Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist vor der Verwertung einer gerichtskundigen Tatsache in aller Regel ein Hinweis zu ertei-len, das Tatgericht werde sie (möglicherweise) seiner Entscheidung als offen-kundig zugrunde legen (BGH, Urteil vom 3. November 1994 – 1 StR 436/94, BGHR StPO § 261 Gerichtskundigkeit 2; ebenso Alsberg/Nüse/Meyer, Der Be-weisantrag im Strafprozeß, 5. Aufl., S. 570 f. mwN). Hierdurch soll dem Ange-klagten rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) gewährt und ihm insbesondere die Möglichkeit wirksamer Verteidigung eröffnet werden (BGH, Urteil vom 29. März 1994 – 1 StR 12/94, BGHR StPO § 261 Gerichtskundigkeit 1; s. auch BGH, Beschluss vom 8. Dezember 2005 – 4 StR 198/05, BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Offenkundigkeit 3).
bb) Ein solcher Hinweis ist vorliegend nicht gegeben worden. Dies folgt allerdings nicht schon daraus, dass das Hauptverhandlungsprotokoll insoweit schweigt. Denn die Erörterung einer gerichtskundigen Tatsache gehört nicht zu den wesentlichen Förmlichkeiten, deren Beachtung das Protokoll ersichtlich machen muss (BGH, Beschluss vom 6. Februar 1990 – 2 StR 29/89, BGHSt 36, 354, 359 f.).
Der geltend gemachte Verfahrensfehler wird jedoch durch die vom Senat eingeholten dienstlichen Erklärungen bewiesen. Nach der Stellungnahme der Vorsitzenden Richterin vom 10. April 2012 „hat sich die Kammer nicht veran-lasst gesehen, noch einmal ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass die Annah-me eines stattgefundenen Geschlechtsverkehrs mit“ dem gynäkologischen „Un-tersuchungsergebnis durchaus zu vereinbaren sein kann“. In vergleichbarer Weise haben sich die beisitzenden Richterinnen in ihren Stellungnahmen vom 10. bzw. 13. April 2012 geäußert. Die staatsanwaltschaftlichen Sitzungsvertre-ter haben sich diesbezüglich nicht mehr erinnern können.