Der Beschl. des BGH v. 03.05.2011 – 3 StR 277/10 ist ein schönes „Gegenbeispiel“ für den Satz „Unwissenheit schützt nicht vor Strafe“ (= Aufhebung der Entscheidung in der Revision). In der Sache ging es um eine nächtliche Durchsuchungsanordung einer zum GBA abgeordneten Staatsanwältin: Folgender (Zeit)Ablauf ergibt sich aus dem BGH-Beschluss:
„Die beim Generalbundesanwalt mit dem Ermittlungsverfahren befasste Staatsanwältin V. wurde am 31. Juli 2007 gegen 2.30 Uhr durch das Bundeskriminalamt von der Festnahme der Angeklagten in Kenntnis gesetzt. Nach fernmündlicher Rücksprache mit ihrem Referatsleiter, Bundesanwalt B. , und ihrem Abteilungsleiter, Bundesanwalt G. , ordnete sie um 3.18 Uhr gegenüber der ermittlungsführenden Beamtin des Bundeskriminalamts wegen Gefahr im Verzug die Durchsuchung der Wohnungen der Angeklagten an. Sie stellte ihre Anordnung unter den Vorbehalt, dass die Maßnahmen zeitnah erfolgen können; sollten sie sich wesentlich verzögern, werde eine mündliche Durchsuchungsanordnung des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs eingeholt. Gegen 6.40 Uhr teilte das Bundeskriminalamt Staatsanwältin V. mit, sämtliche Polizeikräfte seien nun auf dem Weg zu den Durchsuchungsobjekten. Sie versuchte darauf um 6.55 Uhr, 7.25 Uhr und 8.15 Uhr, fernmündlich den (regulären) Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs zu erreichen, was ihr aber nicht gelang. Gegen 7.00 Uhr entschied das Bundeskriminalamt, das Landeskriminalamt Berlin im Wege der Amtshilfe mit der Durchsuchung zu beauftragen, worauf dessen Beamte um 8.05 Uhr die Wohnungstür des Angeklagten L. öffneten und gegen 8.20 Uhr in Vorbereitung der Maßnahme zwei Zeugen hinzuzogen. Zum selben Zeitpunkt erteilte das Bundeskriminalamt indes die Weisung, mit der Durchsuchung bis zum Eintreffen seiner Kräfte zuzuwarten. Die Wohnung wurde deshalb wieder verschlossen. Die Beamten des Bundeskriminalamts trafen schließlich um 10.05 Uhr ein und begannen gegen 10.15 Uhr unter Beteiligung von Beamten des Landeskriminalamts Berlin mit der Durchsuchung. Weitere Versuche, eine richterliche Durchsuchungsanordnung zu erlangen, wurden nicht unternommen.“
Dieses Vorgehen ist vom Angeklagten im Verfahren gerügt worden. Zu der Frage wurde u.a. ein Beweisantrag gestellt, der vom KG abgelehnt worden ist. Das hat der BGH beanstandet, aber das KG-Urteil dennoch nicht aufgehoben, weil das Urteil auf dem festgestellten Rechtsfehler nicht beruhe. In dem Zusammenhang macht der BGH m.E. bemerkenswerte Ausführungen zur Kenntnis bzw. Nichtkenntnis der Staatsanwältin von einem beim BGH eingerichteten nächtlichen Eildienst.
„.…Ebenso kommt es für seine Entscheidung nicht darauf an, dass die Vorgesetzten von Staatsanwältin V. , denen die Einrichtung eines Nachtbereitschaftsdienstes der Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof ausweislich ihrer Stellungnahmen bekannt war, nicht die (fernmündliche) Einholung einer richterlichen Durchsuchungsanordnung veranlasst, sondern ohne weiteres Gefahr im Verzug angenommen haben, obwohl Umstände, die dafür sprachen, dass bereits hierdurch der Zweck der Durchsuchungen gefährdet gewesen wäre, weder aktenkundig sind noch sonst ersichtlich werden.
Gleichermaßen entziehen sich danach etwaige Organisationsmängel, die im Tätigwerden mit den Verhältnissen nicht vertrauter Behördenvertreter liegen könnten, der weiteren Beurteilung durch den Senat.
… Im Ergebnis erweist sich die Rüge indes als unbegründet; denn das Urteil beruht nicht auf dem Verfahrensverstoß.
… Der Senat hat deshalb die vom Kammergericht rechtsfehlerhaft unterlassene Beweiserhebung nachgeholt und zu der Beweisbehauptung dienstliche Äußerungen der Staatsanwältin sowie der Bundesanwälte G. und B. eingeholt. Deren Inhalt erbringt jedoch nicht den Beweis, dass Staatsanwältin V. bei ihrer nächtlichen Durchsuchungsanordnung von der Existenz eines ermittlungsrichterlichen Bereitschaftsdienstes beim Bundesgerichtshof tatsächlich Kenntnis hatte; etwa verbleibende Zweifel wirken nicht zugunsten der Beschwerdeführer (vgl. Meyer-Goßner aaO § 337 Rn. 12).
Wie Staatsanwältin V. darlegt, ist ihr dies heute nicht mehr erinnerlich; jedenfalls sei ihr die Einrichtung eines Bereitschaftsdienstes beim Bundesgerichtshof in der besonderen Situation der für sie überraschenden nächtlichen Befassung mit der Sache nicht ins Bewusstsein getreten. Der Senat sieht keinen Grund, am Wahrheitsgehalt dieser dienstlichen Stellungnahme zu zweifeln. Staatsanwältin V. war an die Behörde des Generalbundesanwalts lediglich als wissenschaftliche Mitarbeiterin abgeordnet und wurde als solche nicht zu den dort bestehenden Nachtbereitschaftsdiensten herangezogen. Bundesanwalt B. geht in seiner Stellungnahme zwar davon aus, dass Gegenstand seines nächtlichen Gesprächs mit Staatsanwältin V. auch die Frage der Einholung einer richterlichen Anordnung war, ist sich dessen aber nicht sicher. Ebenso wenig kann den Stellungnahmen der beiden Dienstvorgesetzten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit entnommen werden, dass Staatsanwältin V. vor dem 31. Juli 2007 von Bereitschaftsdienstplänen Kenntnis erlangt hat, wie sie der Bundesgerichtshof dem Generalbundesanwalt regelmäßig zur Verfügung stellt, oder dass sie vor diesem Zeitpunkt in Dienstbesprechungen von der Existenz eines richterlichen Bereitschaftsdienstes erfahren hat…“
Wenn man das so liest, fragt man sich, worüber wird eigentlich beim GBA geredet? Soll man wirklich glauben, dass die wissenschaftlichen Mitarbeiter nicht über die Einrichtung eines Bereitschaftsdienstes beim BGH unterrichtet werden, wenn Sie „Nachtdienst“ haben? So richtig scheint das der 3. Strafsenat auch nicht glauben zu wollen, wenn er davon spricht, dass „etwaige Organisationsmängel, die im Tätigwerden mit den Verhältnissen nicht vertrauter Behördenvertreter liegen könnten„, sich seiner Beurteilung entziehen.
Wenn man will, kann man einen ganz großen Bogen schlagen und fragen: Wenn das also eine als wissenschaftliche Mitarbeiterin zum GBA abgeordnete Staatsanwältin nicht wissen muss, was muss/braucht dann alles der „kleine Streifenbeamte“, der nachts auf der Straße Dienst hat, alles nicht zu wissen. Da wird die Latte in manchen Fällen (§ 81a StPO) sehr viel höher gelegt. Im Übrigen beruhigt es, dass wenigstens die Vorgesetzten der Staatsanwältin von dem Eildienst wussten.
Man fasst es nicht. Also wenn die Nachtdienst habende Staatsanwältin nicht wissen will, dass es einen Nachtrichterdienst gegeben hat, dann ist das völlig unglaubhaft. Falls es tatsächlich so gewesen sein sollte, dann wäre es ein so erhebliches Organisationsverschulden bzw. ein so gravierender Mangel, dass dies m.E. nicht zu Lasten des Betroffenen gehen kann. Wenn man Nachtdienst bei einer fremden Behörde aufgebrummt bekommt, dann erkundigt man sich doch als allererstes ob ein Eilrichterdienst im Bezirk (bzw. hier beim BGH) besteht. Sehr naheliegend wird dann auch noch sein, dass man sich nach dem zuständigen Eilrichter erkundigt und fragt, wie der so ist. Die meisten StAen haben für so einen Fall wohl auch ein Köfferchen parat, in dem das entsprechende Eilstaatsanwalts-Handy und Instruktionen drin sind. Und wenn es so ein Köfferchen ausnahmsweise nicht gibt, dann erkundigt man sich ungefragt… Selbst in meiner Referendar-AG waren die Eilrichterzeiten in meinem Bezirk bekannt.
Diese Fragen sind doch rein akademischer Natur, nachdem ein Beweisverwertungsverbot allenfalls bei Willkür greifen kann, die praktisch niemals angenommen wird. Entscheidend ist aus Sicht der Gerichte doch immer, daß ein richterlicher Beschluß hätte ergehen können, wenn man sich denn hätte erinnern wollen, daß es so etwas wie Ermittlungsrichter oder richterliche Bereitschaftsdienste gibt.
Die Frage von Beweisverwertungsverboten bei rechtswidrigen Durchsuchungen ist jedes Jahr Gegenstand von hunderten von Gerichtsentscheidungen bis hoch zum BVerfG. Der Tenor ist in 99% der Fälle, daß
– die Durchsuchung entweder nicht rechtswidrig war oder
– trotz Rechtswidrigkeit kein Beweisverwertungsverbot greift oder
– die Frage irrelevant ist, weil das Urteil nicht auf der Verwertung der bei der Durchsuchung gefundenen Beweise beruht oder
– der Angeklagte nicht heftig genug oder nicht zur rechten Zeit widersprochen hat,
– es einen richterlichen Bereitschaftsdienst trotz vieler Jahre alter entsprechender Vorgaben des BVerfG noch immer nicht gab, dies aber nicht so schlimm sei oder ein Bereitschaftsrichterdienst gerade in jenem Gerichtsbezirk nicht notwendig sei, etc.
Entsprechende Verfahrensrügen werden durch die Rechtsprechung zum reinen Verteidigungstheater degradiert. Und die ausführliche Befassung mit diesen Rügen in Gerichtsentscheidungen ist ebenfalls nur Theater, da das Ergebnis ja immer von vornherein feststeht. Wenn also nicht gerade ein Polizeibeamter in eigenem Entschluß vier Jahre nach einem Ladendiebstahl nachts um 03.00 Uhr eine Wohnungsdurchsuchung zum Zwecke der Beweissicherung durchführt, ist ein Beweisverwertungsverbot fernliegend (und selbst in diesem Fall wäre ich mir nicht sicher, ob die Belange einer funktionstüchtigen Rechtspflege nach heftiger Abwägung nicht schwerer wögen als die Rechte des Beschuldigten, wegen eines vor vier Jahren gestohlenen T-Shirts nicht um 03.00 Uhr aus dem Bett gerissen zu werden).
Pingback: Was ein Verteidiger wissen muss… | Heymanns Strafrecht Online Blog
Wissen ist Macht. Etwas nicht zu wissen ist keine Schande. Aber so zu tun etwas zu wissen und es dann doch nicht zu wissen, ist einfach nur erbärmlich.
Was Wissen und Nichtwissen einiger Staatsanwälte angeht: So habe ich festgestellt, dass so mancher noch nicht mal in der Lage ist zu lesen. Was mich dann auf den Spruch bringt : Wer lesen kann, ist klar im Vorteil…
Der Darstellung lässt sich nicht entnehmen, dass die an die Behörde des GBA abgeordnete Staatsanwältin „Nachtdienst“ gehabt hätte. Vielmehr steht dort im Gegenteil, dass sie in die (nächtlichen) Bereitschaftsdienste des GBA nicht (!) einbezogen war.
Lebensnah ist vielmehr die Annahme, dass den ermittlungsführenden Beamten eine – dienstliche oder private – Handynummer mitgeteilt worden war, unter der sie die sachbearbeitende Staatsanwältin dann (für diese überraschend) nachts erreicht haben.
Die auf einer Einteilung zum „Nachtdienst“ fußenden Schlussfolgerungen gehen daher ersichtlich fehl.
Wenn die StA’in jedoch keinen Dienst hatte, fragt man sich, warum letztlich sie die Durchsuchung anordnete.
Hat sie keinen Nachtdienst, verweist sie bei etwaigen Anrufen auf den tatsächlich diensthabenden Beamten. Andernfalls muss sie für die von ihr gegebenen Anordnungen gerade stehen.