Gestern hat das BVerfG auf seiner HP einen Beschluss zur Sicherungsverwahrung veröffenlicht (Beschl. v. 08.07.2010 – 2 BvR 1771/09).
In der Sache geht es aber mal nicht um die Frage der Anwendung der Entscheidung des EGMR v. 17.12.2009 auf sog. Altfälle, sondern um das Verfahren bei der Prüfung der Frage der Aussetzung der Sicherungsverwahrung. Der Untergebrachte war 1997 wegen Missbrauchs von Kindern in 11 Fällen zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. Nach Strafverbüßung wurde aufgrund eines externen Sachverständigengutachtens die nachträgliche SV angeordnet. In 2009 wurde dann die Fortdauer der Sicherungsverwahrung angeordnet, und zwar nur aufgrund des eigenen Eindrucks, den die StVK über die Gefährlichkeit des Untergebrachten hatte. Ein neues externes Gutachten wurde nicht angefordert. Und zwar obwohl das alte Gutachten inzwischen acht Jahre zurück lage und der Untergebrachte 62 Jahre alt. Hinzu kamen einige Äußerungen, die der StVK sauer aufgestoßen sind.
Das BVerfG hielt die Vorgehensweise für unzulässig, hat den Beschluss des LG und die Beschwerdeentscheidung des OLG Koblenz aufgehoben und der StVK aufgegeben, nach acht Jahren Sicherungsverwahrung durch einen externen Gutachter prüfen zu lassen, ob sich der Untergebrachte verändert hat.
Hätte m.E. die Kammer auch selbst drauf kommen können. Sicher, die Angaben des Verurteilten waren schon „etwas komisch“, aber acht Jahre sind eine lange Zeit. Das sollte man doch besser einen Sachverständigen nach Änderungen fragen.
Das BVerfG hat in seinem Beschluß vom 03.02.2003, 2 BvR 1512/02 (NStZ-RR 2003, 251) ausgeführt, daß die Vollstreckungsgerichte ein neues Gutachten nur einholen müßten, wenn sie die Entlassung in Erwägung ziehen (§ 454 Abs. 2 StPO). Das haben dann viele Vollstreckungsgerichte jahrelange so verstanden, daß sie nur schreiben müßten, sie hätten die Entlassung nicht erwogen, also habe man auch kein Sachverständigengutachten einholen müssen.
Erst später hat das BVerfG die Rechtsprechung dahingehend konkretisiert, daß die Vollstreckungsgerichte auch dann, wenn sie die Entlassung nicht erwägen, nachvollziehbar darzulegen haben, daß keine Anhaltspunkte für eine grundlegende und nachhaltige Persönlichkeitsentwicklung beim Verurteilten in der seit seiner Verurteilung verstrichenen Zeit sprechen, so daß eine Neubegutachtung nicht geboten ist (Beschluß vom 15.12.2008, 2 BvR 1656/08).
Das ist aber bis heute nicht zu allen Vollstreckungsgerichten durchgedrungen. Erst kürzlich telefonierte ich mit einem Senatsmitglied beim Oberlandesgericht, der mir mit Hinweis auf die Entscheidung des BVerfG vom 03.02.2003 mitteilte, man mache das seit damals immer so. Die neue Entwicklung hätte sich hingegen noch nicht bis zum Senat herumgesprochen. Wenn sich das BVerfG also nicht präzise ausdrückt, schleppt sich eine falsche Auslegung jahrelang durch die Rechtsprechung.
Die Suppe hat das BVerfG sich also selbst eingebrockt. Etliche Fälle sind aufgrund der Entscheidung vom 03.02.2003 nicht mehr regelmäßig begutachtet worden, weil man sich ja bequem auf die Formel zurückziehen konnte: „Gericht hat Entlassung nicht erwogen und nicht zu Erwägen Anlaß gehabt“.
ich sag doch: Bloggen bildet :-). War mir so auch nicht bewusst. Allerdings haben wir auch im Senat in der Mehrzahl der Fälle Gutachten eingeholt, sowohl wenn die Entscheidung in die für den Verurteilten positive als auch wenn sie in die negative Richtung ging. Das allerdings „nur“ bei der „normalen“ Aussetzung. Mit Sicherungsverwahrung hat „mein“ Senat (zum Glück) nichts zu tun.
Es wird trotzdem noch eine Weile dauern, bis sich die Rechtsprechung des BVerfG überall herumspricht. Viele Richter scheinen nur dann Notiz von entsprechenden Entscheidungen zu nehmen, wenn sie die eigene Auffassung stützen.
Mit Entscheidung vom Montag, 04.05.2009, hatte ein OLG eine sofortige Beschwerde gegen die Versagung einer Entlassung auf Bewährung zurückgewiesen. In einer Gegenvorstellung bat ich den Senat, die taufrische Entscheidung des BVerfG vom Donnerstag, 30.04.2009, 2 BvR 2009/08, zu berücksichtigen. Prompte Antwort: die sei dem Senat „selbstverständlich“ bei seiner Entscheidung bekannt gewesen, gäbe jedoch nicht zur einer anderen Beurteilung Anlaß. Interessant… Denn der Beschluß des BVerfG war erst am 08.05.2009 veröffentlicht worden. Nicht nur OLG-Richter, sondern auch noch Hellseher… 🙂
das muss man sein, sonst kommt man nicht zum OLG 🙂