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StPO II: „Gefahr im Verzug“ im Ermittlungsverfahren, oder: „Berührt, geführt“.

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Die zweite Entscheidung, der LG Kiel, Beschl. v. 12.10.2023 – 10 Qs 48/23 – behandelt eine Problematik aus dem Ermittlungsverfahren. In dem waren nach einer Durchsuchung ein Mobiltelefon und ein Tablet(computer) sicher gestellt worden. Dagegen das Rechtsmittel des Beschuldigten, das beim LG Erfolg hatte:

„Auch in der Sache hat die sofortige Beschwerde Erfolg.

Bei der verfahrensgegenständlichen Ermittlungsmaßnahme handelt es sich entgegen der Ansicht des Amtsgerichts Kiel nicht um eine vorläufige Sicherstellung nach § 110 StPO, sondern um eine Beschlagnahme im Sinne des § 94 Abs. 2 StPO (vgl. dazu unten Abschnitt II 1), welche unter Verstoß gegen den in § 98 Abs. 1 S. 1 StPO statuierten Richtervorbehalt durch die Staatsanwaltschaft angeordnet worden ist (vgl. dazu unten Abschnitt II 2).

1. Das Amtsgericht Kiel hat die verfahrensgegenständliche Maßnahme als vorläufige Sicherstellung im Sinne des § 110 StPO qualifiziert. Für diese Sichtweise spricht, dass die Strafverfolgungsbehörden sich nicht für die beiden technischen Geräte als solche interessieren, sondern lediglich für die darauf gespeicherten Daten, welche zudem im nächsten Schritt auf ihre potentielle Beweisbedeutung gesichtet werden sollen. Allerdings kann ein Sichtungsverfahren nach § 110 StPO, wie bereits dessen Regelungsstandort, aber auch der Wortlaut von § 110 Abs. 1 und Abs. 3 S. 1 StPO zeigen, immer nur im Zusammenhang mit einer Durchsuchung stattfinden. Und eine Durchsuchungsmaßnahme hat es vorliegend zu keinem Zeitpunkt gegeben, so dass zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit alleine und unmittelbar die §§ 94ff. StPO heranzuziehen sind.

2. Dass die Beschlagnahme der beiden technischen Geräte durch die Staatsanwaltschaft angeordnet worden ist und nicht durch das Gericht, verstieß gegen § 98 Abs. 1 S. 1 StPO. Nach dieser Vorschrift dürfen Beschlagnahmen nämlich nur durch das Gericht, allenfalls bei Gefahr im Verzug auch durch die Staatsanwaltschaft und ihre Ermittlungspersonen, angeordnet werden.

Gefahr im Verzug war vorliegend nicht gegeben. Die Beschlagnahme erfolgte an einem Freitag-mittag, also zu einem Zeitpunkt, an welchem sich ein Ermittlungsrichter im Dienst befindet. Dem-entsprechend ist von den beiden eingesetzten Polizeibeamten auf Anordnung der diensthabenden Staatsanwältin denn auch fernmündlich Kontakt zur zuständigen Ermittlungsrichterin aufgenommen worden. Nachdem diese erklärt hatte, eine Entscheidung erst nach Vorlage der Ermittlungsakte treffen zu können bzw. zu wollen, erging sodann eine mündliche Eilbeschlagnahmeanordnung durch die diensthabende Staatsanwältin. Hierzu war letztere jedoch nicht (mehr) befugt. Denn wenn die Strafverfolgungsbehörden den zuständigen Ermittlungsrichter mit einer Sache befasst haben, ist für ihre Eilkompetenz kein Raum mehr (vgl. dazu und zum folgenden BGH, Beschluss vom 6. Oktober 2016, Az. 2 StR 46/15, RN. 20f. (zitiert nach juris)). Mit der Befassung des Ermittlungsrichters endet grundsätzlich die Eilzuständigkeit der Strafverfolgungsbehörden; es ist nunmehr Sache des Ermittlungsrichters, über den beantragten Eingriff zu entscheiden. Auch soweit während des durch den Ermittlungsrichter in Anspruch genommenen Entscheidungszeit-raums nach dessen Befassung die Gefahr eines Beweismittelverlusts eintritt, etwa weil dieser auf ein mündlich gestelltes Durchsuchungsbegehren hin die Vorlage schriftlicher Antragsunterlagen oder einer Ermittlungsakte fordert, Nachermittlungen anordnet oder schlicht bis zum Eintritt der Gefahr eines Beweismittelverlusts noch nicht entschieden hat, lebt die Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden nicht wieder auf. Dies gilt unabhängig davon, aus welchen Gründen die richterliche Entscheidung über den Durchsuchungsantrag unterbleibt.“

Warum das allerdings eine „sofortige Beschwerde“ gewesen sein soll, leuchtet mir nicht ein.

Haft II: Zum Haftgrund der Wiederholungsgefahr, oder: 8,21 gr. Kokain reichen auch mit Waffen nicht

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Und dann als zweite Entscheidung noch einmal etwas zum Haftbefehl bei einem BtM-Delikt. es handelt sich um den LG Kiel, Beschl. v. 08.09.2023 – 7 KLs 593 Js 43392723. In dem Verfahren wirft die StA dem Angeschuldigten vor, am 13.07.2023 gegen 15:40 Uhr in seinem Zimmer in einer Wohnung in Kiel insgesamt 8,21 Gramm Kokain verwahrt zu haben und dabei griffbereit in unmittelbarer Nähe zu dem Betäubungsmittel ein Klappmesser, eine Machete und einen Baseballschläger vorgehalten zu haben. Bei dem in der Wohnung aufgefundenen Kokain ergab eine kriminaltechnische Untersuchung einen Wirkstoffgehalt von 92,1 %, sodass ein Nettowirkstoffgehalt von Kokain-Hydrochlorid in Höhe von 7,56 Gramm gegeben ist.

Deswegen ergeht Haftbefehl gegen den Angeschuldigten, und zwar auf der Grundlage des § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO erlassen. Das LG hat auf die Beschwerde des Angeschuldigten aufgehoben:

„Nach Abwägung aller Gesichtspunkte durch die Kammer ist der Haftbefehl des Amtsgerichts Kiel vom 14.07.2023 aufzuheben, da die Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungshaft gemäß § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO nicht gegeben sind.

Vorliegend ist zunächst festzustellen, dass § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG keine Katalogtat im Sinne des § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO ist. In § 112a Abs. 1 Nr. 1 und 2 StPO ist eine ab-schließende Aufzählung der in Betracht kommenden Anlasstaten enthalten.

Die Annahme eines redaktionellen Versehens des Gesetzgebers ist aus Sicht der Kammer fernliegend, da die Gesetzeshistorie des § 112a StPO, aber auch des § 112 StPO gegen die Annahme eines solchen redaktionellen Versehens sprechen. Der Gesetzgeber hatte zuletzt 2021 die Gelegenheit — bei Einführung des § 112 Abs. 3 StPO — ein etwaiges Redaktionsversehen zu berichtigen. Darüber hinaus gilt, dass die Annahme eines Redaktionsversehens umso fernliegender erscheint, je länger die Norm in Kraft ist. Bei einer Geltung von über 10 Jahren, ohne dass ein solches Redaktionsversehen überhaupt in der Literatur diskutiert worden ist, scheint die Annahme gerade mit Blick auf die verfassungsrechtlich gebotene enge Auslegung und restriktive Anwendung des § 112a StPO fernliegend (BVerfGE 19, 349). Im Übrigen zeigt auch die Quellenlage der einschlägigen Kommentarliteratur, dass dort keinerlei Nachweise sich finden lassen, dass der Gesetzgeber schlicht übersehen hätte, die Katalogtaten des § 112a Abs. 1 Nr. 1 und 2 StPO entsprechend um § 30a Abs. 2 BtMG zu erweitern (vgl. MüKo/StP0-Böhm , 2. Aufl. 2023, § 112a Rn. 21ff. m.w.N.).

Im Übrigen bestehen gegen die Annahme eines reinen Redaktionsversehens und damit einer erweiternden Auslegung der Haftgründe verfassungsrechtliche Bedenken, da die Vorschrift des § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO dazu dient, präventiv die Wiederholung von Straftaten durch den Beschuldigten zu verhindern, sodass insofern von dem Gesetzgeber in § 112a Abs. 1 Nr. 2 schon nur solche Straftaten in den Katalog aufgenommen worden sind die nicht nur schwerwiegend, sondern auch eine gewisse Wiederholungsneigung haben. Damit stellt § 112a StPO als vorbeugende Maßnahme zum Schutz der Rechtsgemeinschaft eine Ausnahme im System der StPO dar (MüKo/StP0-Böhm , 2. Aufl. 2023, § 112a Rn. 3). Demgemäß kommt vorliegend eine erweiternde Auslegung des Kataloges des § 112 Abs. 1 Nr. 2 StPO nicht in Betracht.

Die damit zugrundeliegende Tat nach § 29a Abs. 1 BtMG ist vorliegend jedoch nicht schwerwiegend im Sinne des § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO.

Die Anlasstat muss eine die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigende Tat sein. Die Tat muss einen zumindest überdurchschnittlichen Schweregrad aufweisen, wobei insbesondere der Unrechtsgehalt der Tat zu würdigen ist. Dabei gilt, dass jede einzelne konkrete Tat nach ihrem Erscheinungsbild nicht nur den Katalogstraftatbestand verwirklichen muss, sondern auch schwerwiegend sein muss. Die Prüfung bezieht sich daher nicht auf das verwirklichte Gesamtunrecht, sondern muss bezüglich der jeweiligen Einzeltat vorliegen (OLG Frankfurt/M, StV 2000, 209). Das ist dann der Fall, wenn die Straferwartung und die Tat in ihrer Begehung zumindest der mittleren bis oberen Kriminalität zuzuordnen ist (M/G-Schmitt, 66. Aufl. 2023, § 112a Rn. 9).

Das ist vorliegend bei dem aufgefundenen Betäubungsmittel — 7,56 Gramm netto Kokain-Hydrochlorid — nicht der Fall. Insofern braucht die Frage nicht entschieden zu werden, ob bei der Haftprüfung auch der Aspekt der Waffen Berücksichtigung finden kann. Selbst wenn man unterstellt, dass die Waffen — etwa auf Ebene der Strafzumessung bei der Beurteilung der Tatmodalitäten — Berücksichtigung finden würden (vgl. OLG Hamm Beschluss vom 20.11.2012 — 1 Ws 604/12 = BeckRS 2012, 24189), wäre die Tat immer noch nicht im mittleren bis oberen Bereich der Kriminalität anzusiedeln, da nicht zu erwarten ist, dass hierdurch die Rechtsordnung erheblich beeinträchtigt wird. Insofern ist der Verteidigung zuzustimmen, wenn der Verteidiger ausführt, dass angesichts der aufgefundenen Menge im ehemaligen Kinderzimmer des Angeschuldigten die Rechtsgemeinschaft nicht maßgeblich in ihrem Gefühl und Bedürfnis nach Sicherheit und Ordnung verkürzt wird.

Der Umstand, dass der Angeschuldigte unter einschlägiger laufender Bewährung steht die gegebenenfalls bei einer Verurteilung widerrufen werden könnten, lässt nicht den Schluss zu, dass die Tat hierdurch schwerwiegend wird (MüKo/StP0-Böhm, 2. Aufl. 2023, § 112a Rn. 40, OLG Hamm StV 2011, 291). Mit Blick auf die gebotene enge Auslegung des § 112a StPO und die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, die Tat in ihrer konkreten Ausprägung zu bewerten, ist es vorliegend nicht zulässig, die drohende Verbüßung der zur Bewährung ausgesetzten Strafe heranzuziehen, um die schwerwiegende Beeinträchtigung der Rechtsordnung zu begründen. Selbst wenn man unterstellt, dass die laufenden Bewährungsstrafen widerrufen würden, wäre vorliegend unter Berücksichtigung des minder schweren Falles nach § 30a Abs. 3 BtMG und der nach der Rechtsprechung geltenden Sperrwirkung des § 29a BtMG, welche nur noch eine Strafrahmenuntergrenze nach unten bewirkt (BGH 3 Str 469/19) nicht zu erwarten, dass eine Strafe im mittleren bis oberen Bereich aus-geurteilt werden würde. Hiergegen spricht maßgeblich die aufgefundene Menge, die Abfüllung in Konsumeinheiten und die räumliche Situation des Fundortes in geordneten Wohnverhältnissen im ehemaligen Kinderzimmer des Angeschuldigten.

Die aufgeworfenen Verhältnismäßigkeitserwägungen tragen den Erlass eines Haftbefehls nach § 112a StPO nicht. Die Untersuchungshaft nach § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO dient präventiv der Verhinderung weiterer erheblicher Straftaten des Angeschuldigten. Insofern geht es — wie die Verteidigung zutreffend anmerkt — nicht um Verfahrens- oder Vollstreckungssicherung. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung beim Haftgrund nach § 112a StPO hätte erwogen werden müssen, ob die verhängte Untersuchungshaft zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe nicht außer Verhältnis steht.“

„Aktenmäßiger Erlass“ des Verbindungsbeschlusses, oder: Verbindung von Verfahren dann erst in der HV

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Und dann habe ich hier noch einen Beschluss des LG Kiel zu den Gebühren des Verteidigers nach der Verbindung von Verfahren.

Folgender Sachverhalt: Gegen den Angeklagten sind drei selbständige Verfahren anhängig. Diese werden vom Amtsrichter vor der Hauptverhandlung zu einem weiteren anhängigen Verfahren hinzuverbunden. Der Verbindungsbeschluss verbleibt aber (zunächst) in der Akte. Er wird dann in der Hauptverhandlung verkündet, nachdem in den drei Verfahren die Anklagen verlesen worden sind. Der Pflichtverteidiger hat auch für die drei hinzuverbundenen Verfahren jeweils eine Terminsgebühr geltend gemacht. Das LG Kiel hat die im LG Kiel, Beschl. v. 21.06.2023 – 2 Qs 41/23 – gewährt.

„Streitgegenständlich ist die im Festsetzungsbeschluss erfolgte Absetzung dreier Terminsgebühren für die Verfahren 231 Ls 551 Js 38311/22, 231 Ls 588 Js 37618/22 und 231 Ls 588 Js 38428/22 in Höhe von jeweils 295 EUR zuzüglich der Umsatzsteuer.

Die Verbindung der genannten Verfahren zum führenden Verfahren ist im hiesigen Falt wirksam erst in der Hauptverhandlung erfolgt, nachdem in den hinzuverbundenen Verfahren bereits eine Hauptverhandlung stattgefunden hatte, so dass auch in den hinzuverbundenen Verfahren jeweils eine Terminsgebühr gern. Nr. 4108, 4109 VV RVG entstanden ist.

Zwar hat der zuständige Richter den Verbindungsbeschluss hinsichtlich der genannten Verfahren bereits vor Beginn der Hauptverhandlung verfasst, unterzeichnet und mutmaßlich zu den Akten genommen. Dieser „aktenmäßige Erlass“ führt zwar bereits zur Existenz und auch Anfechtbarkeit des Beschlusses (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. A., vor § 33 Rn. 5 – 8; Valerius, in: MüKo-StPO, 2. A., § 33 Rn. 18 – 20). Ergangen ist eine Entscheidung außerhalb der Hauptverhandlung aber grundsätzlich erst dann, wenn sie für das Gericht, das sie gefasst hat, unabänderlich ist. Dies ist in der Regel erst dann der Fall, wenn ihn die Geschäftsstelle an eine Behörde oder Person außerhalb des Gerichts hinausgegeben hat und eine Abänderung tatsächlich unmöglich ist. Ausgenommen sind davon Beschlüsse, die nach rechtzeitiger Einlegung eines Rechtsmittels unmittelbar die Rechtskraft der angefochtenen Entscheidung herbeiführen (BGH NStZ 2011, 713; NStZ 2012, 710 f.; Schneider-Glockzin, in: KK-StPO, 9. A., § 33 Rn. 4; Valerius, in: MüKo, a.a.O., § 33 Rn. 18 – 20; Graalmann-Scheerer in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. A., § 33 Rn. 12). Demnach ist der außerhalb der Hauptverhandlung gefasste Verbindungsbeschluss noch nicht mit seinem aktenmäßigen Erlass wirksam geworden, sondern erst mit der Verkündung in der Hauptverhandlung. Zu diesem Zeitpunkt waren die Anklagen aus den in Rede stehenden Verfahren aber bereits verlesen worden, so dass auch eine Hauptverhandlung in den Verfahren stattgefunden hatte. Der Umstand, dass die Eröffnungsentscheidung erst im Verbindungsbeschluss getroffen worden ist, steht dieser Wertung nicht entgegen, zumal der Eröffnungsbeschluss nach herrschender Meinung noch in der Hauptverhandlung nachgeholt werden kann.

Die Terminsgebühr in den drei hinzuverbundenen Verfahren beläuft sich auf jeweils 295 EUR zuzüglich der Umsatzsteuer von 19 %, mithin insgesamt auf 1.053,15 EUR.“

StPO III: Anfangsverdacht für Nebenklagebeiordnung?, oder: Rückwirkende Beiordnung bei der Nebenklage

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Und zum Schluss der heutigen Berichterstattung stelle ich dann noch den LG Kiel, Beschl. v.26.01.2022 – 5 Qs 2/22 – vor. Gegenstand des Beschlusses ist die Frage der Beiordnung eines Rechtsanwaltes für den Nebenkläger, und zwar im Hinblick auf die Frage des Beiordnungsgrundes und auf die Frage der Zulässigkeit einer rückwirkenden Beiordnung.

Das AG hatte in einem Todesermittlungsverfahren die unter Erklärung des Anschlusses als Nebenklägerin schon für das Ermittlungsverfahren beantragte Beiordnung eines Rechtsanwaltes versagt. Das AG hatte seine Entscheidung damit begründet, dass ein Anfangsverdacht gegen Beschuldigte nicht bestehe, da aufgrund des Sektionsbefundes die  Todesursache unklar sei und eine Plazentainsuffizienz in Betracht komme. Das LG hat dann auf die Beschwerde beigeordnet:

„Für die Beurteilung der Frage, ob eine Beiordnung im Rahmen einer Nebenklage zu erfolgen hat, gilt der beim Nebenklageanschluss übliche Verdachtsgrad (BeckOK-StPO-Weiner, § 397a, Rn 27). Danach hat eine Beiordnung zu erfolgen, wenn auch nur die geringe Möglichkeit besteht, dass eine zum Anschluss als Nebenkläger berechtigende Straftat vorliegt (BGH NStZ 2000, 552; NStZ-RR 2008, 352 ). Das Vorliegen eines Anfangsverdachtes ist nicht erforderlich.

Bei der Prüfung des Vorliegens dieser Voraussetzung war von dem Stand des Verfahrens im Juni 2021 auszugehen. Insoweit liegt eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass eine rückwirkende Beiordnung eines Rechtsanwaltes unzulässig ist (Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, StPO, 64. Aufl., 2021, § 397a, Rn. 15) vor. Eine solche Ausnahme ist mit der Folge der Rückwirkung auf den Zeitpunkt der Antragstellung gegeben, wenn der Antragsteller mit seinem Antrag bereits alles für die Bestellung des Beistandes Erforderliche getan hat, der Antrag aber nicht rechtzeitig beschieden worden ist (BVerfG NStZ-RR 1997,69; BGH NStZ-RR 2008,255; OLG Celle NStZ-RR 2012,291). Bei Antragstellung am 4.6.2021 war zugleich der Anschluss als Nebenkläger durch die Beschwerdeführerin erklärt worden. Damit waren alle formellen Erfordernisse für die Stellung des Antrages auf Beiordnung bereits zu diesem Zeitpunkt erfüllt. Die Entscheidung über die Beiordnung des Rechtsanwaltes bereits im Ermittlungsverfahren hätte zeitnah erfolgen müssen.

Bei dieser Sachlage kann das Ergebnis des erst im Oktober 2021 erstatteten Gutachtens der Frau Prof. Dr. pp. der Entscheidung nicht zugrunde gelegt werden.

Auch das Ergebnis der rechtsmedizinischen Untersuchung des Fötus war nicht geeignet, die beantragte Beiordnung abzulehnen, denn die Beurteilung der Todesart als „unklar“ ließ die Möglichkeit offen, dass ein zum Anschluss als Nebenkläger geeignetes Verhalten der an der Betreuung der Schwangeren beteiligten Personen vorgelegen haben könnte.

Eine Zulassung der Nebenklage erschien jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt gemäß § 395 Abs. 3 StPO wegen einer in Betracht kommenden fahrlässigen Körperverletzung (§ 229 StGB) zum Nachteil der Beschwerdeführerin möglich.

Zwar wäre wegen des Absterbens der Leibesfrucht eine Befugnis zum Anschluss als Nebenklägerin für die Beschwerdeführerin nach § 395 Abs. 2 Nummer 1 StPO nicht möglich gewesen, weil dies vorausgesetzt hätte, dass ein Kind durch eine rechtswidrige Tat getötet worden wäre. Dies ist hier nicht der Fall gewesen, da das noch ungeborene Kind jedenfalls noch vor Eintritt der Eröffnungswehen im Mutterleib verstorben ist und damit im strafrechtlichen Sinne noch nicht als Mensch im Sinne der Tötungstatbestände galt (BGH Urteil vom 22.4.1983, A z.: 3 StR 25/83; nach juris: Rn. 16). Die Leibesfrucht ist bis zu diesem Zeitpunkt ausschließlich durch § 218 StGB geschützt. Diese Norm entfaltet insoweit eine Sperrwirkung, als nur vorsätzliche Verhaltensweisen, die zum Abbruch einer Schwangerschaft führen, strafbar sind (Fischer, Strafgesetzbuch, 69. Aufl., 2022, Vor §§ 211-217, Rn. 8 ). Ein im Hinblick auf das Absterben der Leibesfrucht auch nur bedingt vorsätzliches Verhalten der an der Betreuung der Beschwerdeführerin beteiligten Personen ist nicht erkennbar.

Insoweit konnte allenfalls fahrlässiges Fehlverhalten in Rede stehen, das aufgrund des Ablaufes der Ereignisse am Ende der Schwangerschaft und der Unklarheiten in der Frage, wie es zu dem Absterben gekommen ist, im Juni 2021 durchaus möglich erscheinen konnte.

Wäre dies der Fall gewesen, hätte das Absterben der Leibesfrucht eine fahrlässige Körperverletzung zum Nachteil der Beschwerdeführerin begründen können, denn deren Gesundheit wäre hierdurch geschädigt worden. Der abgestorbene Fötus hat bei der Beschwerdeführerin einen pathologischen Zustand verursacht, der eine ärztliche Behandlung erforderlich gemacht hat ( vgl. OLG Koblenz Urteil vom 28.1.1988, Az: 5 U 1261 /85; OLG Oldenburg, Urteil vom 14.5.1991, Az.: 5 U 22/91).

Hätte eine zum damaligen Zeitpunkt möglich erscheinende fahrlässige Körperverletzung zum Nachteil der Beschwerdeführerin vorgelegen, wäre ihr wegen der schweren Folgen der Tat nach § 395 Abs. 3 StPO die Befugnis zum Anschluss als Nebenklägerin zu erteilen gewesen.“

Pflichti II: Keine Besuche des Mandanten in der JVA, oder: Wechsel des Pflichtverteidigers?

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Als zweite Entscheidung kommt dann auch (noch) eine Beschluss vom LG Kiel, und zwar der LG Kiel, Beschl. v. 06.04.2022 – 7 KLs 592 Js 48961/21 – zum Pflichtverteidigerwechsel. Begründung hier: Keine Besuche des Mandanten in der JVA. Das LG hat ausgewechselt:

„Der Beschluss beruht auf § 143a Abs. 2 Nr. 3 StPO.

Nach der Entscheidung des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig vom 31.3.2022 war über die Frage des Pflichtverteidigerwechsels neu zu befinden. Ein konsensualer Pflichtverteidigerwechsel, der vorrangig zu berücksichtigen wäre, ist spätestens nach dem Schriftsatz von Herrn pp. vom 4.4.2022 nicht mehr zu erwarten. Ein weiteres Zuwarten auf eine eventuelle Einigung ist zudem wegen des Beschleunigungsgebotes in dieser Haf vertretbar.

Die Voraussetzungen für einen Pflichtverteidigerwechsel im Sinne des § 143a Abs. 2 Nr. 3 StPO sind gegeben. Die Bestellung des Pflichtverteidigers ist aufzuheben und ein neuer Pflicht-verteidiger zu bestellen, wenn das Vertrauensverhältnis zwischen Verteidiger und Beschuldigtem endgültig zerstört ist oder aus einem sonstigen Grund keine angemessene Verteidigung des Beschuldigten gewährleistet ist. Der Angeklagte trägt hierzu vor, dass der bisherige Pflicht-verteidiger ihn nicht in der Untersuchungshaftanstalt aufgesucht habe, um die Angelegenheit mit ihm zu besprechen. Er befinde sich seit dem 6.10.21 in Untersuchungshaft – mithin bezogen auf den Zeitpunkt der Antragstellung fast 3 Monate – ohne besucht worden zu sein, obwohl er telefonisch mehrfach im Verteidigerbüro darum gebeten habe.

Rechtsanwalt pp. hat hierzu ausgeführt, dass er auf Wunsch des Angeklagten mandatiert und beigeordnet worden sei. Zunächst habe bei der Haftbefehlsverkündung Rechtsanwalt pp. den Angeklagten vertreten, der die Angelegenheit im Anschluss sofort mit dem Mandanten besprochen habe. Im Anschluss sei Akteneinsicht beantragt worden. Der Angeklagte sei in-formiert und darauf aufmerksam gemacht worden, dass ohne Akteneinsicht eine Rücksprache nicht zielführend sei. Am 24.11. sei dann die Akteneinsicht erfolgt, was dem Angeklagten mit Schreiben vom Folgetag mitgeteilt worden sei, verbunden mit der Frage, in welcher Sprache gedolmetscht werden müsse (es kämen bei afghanischen Staatsangehörigen mehrere Sprachen in Betracht). Das sei dann am 4.12. beantwortet worden, woraufhin mit einer Dolmetscherin für unterschiedliche afghanische Sprachen Kontakt aufgenommen worden sei zwecks Terminabsprache. Im Übrigen sei der Mandant stets informiert worden, was allerdings nicht weiter ausgeführt wurde. Mit Schreiben vom 30.12.21 habe sich dann Rechtsanwalt pp. gemeldet und mit-geteilt, er werde die Verteidigung übernehmen. Eine Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses liege nicht vor. Mit einer Entpflichtung sei er – Rechtsanwalt pp. -aber einverstanden, da es keinen Sinn mache, einen Beschuldigten zu verteidigen, der dies nicht wünsche. Die bisher entstandenen Gebühren würden in Ansatz gebracht.

Danach ist eine Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses im Sinne der genannten Norm anzunehmen. Maßstab für die Beurteilung ist die Sicht eines verständigen Beschuldigten (BGH NStZ 2021, 60). Ein gestörtes Vertrauensverhältnis liegt zB vor, wenn ein inhaftierter Beschuldigter längere Zeit nicht von seinem Verteidiger besucht wird (OLG Braunschweig BeckRS 2012, 23866 (2 Monate in Untersuchungshaft nicht besucht); OLG Düsseldorf NStZ-RR 2011, 48 (über 2 Monate in Untersuchungshaft nicht besucht); LG Ingolstadt StV 2015, 27 (fehlender Besuch eines Pflichtverteidigers über einen längeren Zeitraum von fast zwei Monaten in der U-Haft); BeckOK StPO/Krawczyk, 42. Ed. 1.1.2022, StPO § 143a Rn. 19).

Das ist nach dem Vorbringen der Beteiligten der Fall. Der Angeklagte hat selbst im Haftbefehlsverkündungstermin keinen Kontakt mit seinem späteren Pflichtverteidiger gehabt und später dann auch nicht mehr erlangt. Soweit Herr Torgebracht hat, dass für eine Besprechung Akteneinsicht und die Abstimmung mit einem geeigneten Dolmetscher erforderlich gewesen sei, kann dem im Ergebnis nicht gefolgt werden. Aus Sicht des Beschuldigten war schon auf Grundlage der überreichten Haftbefehlsausfertigung eine Besprechung möglich. Soweit geltend gemacht wird, es habe erst ermittelt werden müssen, welche Sprache der Dolmetscher beherrschen müsse, überzeugt dies nicht, da ausweislich des eigenen Vortrages schließlich eine Dolmetscherin eingebunden werden sollte, die unterschiedliche afghanische Sprachen beherrscht. Das hätte von vorneherein so gehandhabt werden können.

Zudem ist zu beachten, dass nach dem Pflichtverteidigerwechselwunsch des Angeklagten von Herrn pp. kein Kontakt mehr gesucht wurde, was aus Sicht des Angeklagten den bisherigen Eindruck einer unzureichenden Betreuung bestärken musste. Dabei übersieht die Kammer nicht, dass Herr pp. von einem konsensualen Pflichtverteidigerwechsel ausging, wofür es gute Gründe gab. Jedenfalls mittlerweile muss der Angeklagte verständlicherweise den Eindruck haben, dass der bisherige Pflichtverteidiger seine – des Angeklagten – Verteidigung nicht mehr betreibt und das Vertrauensverhältnis zerrüttet ist.“