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Pflichti III: Fahrerlaubnisentziehung beim Kraftfahrer, oder: Pflichtverteidiger trotz Betreuer

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Und dann zum Tagesschluss hier noch zwei Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen (§ 140 Abs 1 oder 2 StPO), allerdings jeweils nur die Leitsätze, und zwar:

Droht dem Beschuldigten im Falle der Entziehung der Fahrerlaubnis der Verlust des Arbeitsplatzes und wäre er daran gehindert, den ausgewählten Beruf bis zu einem etwaigen Wiedererwerb der Fahrerlaubnis auszuüben, wiegt die zu erwartende Rechtsfolge schwer, so dass dem Beschuldigten ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist.

Die Tatsache, dass dem Angeklagten ein Betreuer bestellt ist, ändert nichts an der Voraussetzung des § 140 Abs. 2 StPO, da sich die Aufgaben eines Betreuers und die eines Verteidigers grundlegend unterscheiden.

Verkehrsrecht III: Bewegungsdaten versus Zeugen, oder: Dringender Tatverdacht für Trunkenheitsfahrt?

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Und dann als dritte verkehrsrechtliche Entscheidung noch ein Beschluß des LG Itzehoe. Bei dem hatte die Beschwerde gegen die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 111a StPO) wegen einer Trunkenheitsfahrt (§ 316 StGB) Erfolg. Das LG hat im LG Itzehoe, Beschl. v. 11.10.2023 – 2 Qs 137/23 – den dringenden Tatverdacht für eine „Trunkenheitsfahrt“ verneint, und zwar mit einer ganz interessanten Begründung bzw. aufgrund einer interessanten „Beweiserhebung“:

„Voraussetzung einer Maßnahme nach § 111a Abs. 1 Satz 1 StPO ist das Vorliegen von dringenden Gründen für die Annahme, dass in einem Urteil die Maßregel nach § 69 StGB angeordnet werden wird. Dies erfordert dringenden Tatverdacht und einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit, dass das Gericht den Beschuldigten für ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen halten und ihm daher die Fahrerlaubnis entziehen werde (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 111a Rn. 2). Nach § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB ist der Täter in der Regel als ungeeignet zum Führen eines Kraftfahrzeugs anzusehen und die Fahrerlaubnis deshalb zu entziehen, wenn er ein Vergehen nach § 316 StGB (Trunkenheit im Verkehr) begangen hat.

Derzeit ist aber nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass dem Angeklagten die Fahrerlaubnis gemäß § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB entzogen werden wird. Denn es liegen keine dringenden Gründe für die Annahme vor, dass der Angeklagte im Verkehr ein Fahrzeug geführt hat, obwohl er infolge des Genusses alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel nicht in der war, das Fahrzeug sicher zu führen.

Die Zeugen pp. und pp. haben zwar angegeben, dass der Angeklagte mit seinem Fahrzeug neben ihnen (ein)parkte. Die vorgelegten Bewegungsdaten des Fahrzeugs, mit dem der Angeklagte sich auf den Parkplatz begeben hatte und bei dem es sich um einen Firmenwagen handelt, widersprechen dem aber. Danach ist nicht davon auszugehen, dass der Angeklagte zu einem Zeitpunkt um kurz vor 13.20 Uhr das Fahrzeug führte. Aus ihnen ergibt sich lediglich, dass das Fahrzeug um 11.27 Uhr entriegelt und um 13.16 Uhr verriegelt wurde. Eine Bewegung in der Zwischenzeit ist dem nicht zu entnehmen. Die Bewegungsdaten hat ausweislich der schriftlichen Angaben des Herrn pp. des Arbeitsgebers des Angeklagten, er selbst und nicht der Angeklagte ausgelesen. Dem Privatgutachten liegen zwar nur diese von Herrn pp. an den Angeklagten übermittelten Screenshots der Bewegungsdaten zugrunde, allerdings lässt sich dem Gutachten zumindest entnehmen, dass man die Daten nicht manipulieren könne. Der den 02.06.2023 betreffenden Übersicht kann man zudem auch geringe Entfernungen von unter einem Kilometer entnehmen, das System erfasst also auch sehr kurze Strecken.

Letztlich muss die Klärung des Sachverhalts der Hauptverhandlung vorbehalten bleiben und der Widerspruch dort geklärt werden. Nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen ist aber nicht davon auszugehen, dass dem Angeklagten die Fahrerlaubnis gemäß § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB entzogen werden wird.“

Verkehrsrecht III: Keine Entziehung der Fahrerlaubnis, oder: Drucksituation widerlegt Regelvermutung

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Und dann lege ich gleich noch einmal nach bei der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis, und zwar mit dem LG Itzehoe, Beschl. v. 11.07.2023 – 14 Qs 86/23 . Der Beschluss ist ebenfalls in einem Verfahren wegen des Verdachts des unerlaubten Entfernens vom Unfallort ergangen.

Das AG hat die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen (§ 111a StPO), das LG hebt auf die Beschwerde hin aus, weil nach seiner Auffassung die Regelvermutung widerlegt ist:

„1. Die gemäß § 304 StPO zulässige Beschwerde ist in der Sache begründet.

Die Voraussetzungen für eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a StPO liegen nicht vor. Nach § 111a Abs. 1 Satz 1 StPO kann einem Beschuldigten in einem Strafverfahren die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen werden, wenn dringende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass die Fahrerlaubnis mit einem späteren Urteil entzogen werden wird, § 69 StGB. Dies ist auf-grund des derzeitigen Sachstands jedoch nicht der Fall.

So sind vorliegend dringende Gründe für die Annahme, dass dem Beschuldigten die Fahrerlaubnis nach Durchführung der Hauptverhandlung entzogen werden wird, derzeit nicht ersichtlich, da es vorliegend an dem erforderlichen hohen Grad der Wahrscheinlichkeit fehlt, dass das Tatgericht den Beschuldigten als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen ansehen wird.

Zwar sind vorliegend – nach dem aktuellen Stand der Ermittlungen – die Voraussetzungen der Regelvermutung des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB erfüllt. Die Regelvermutung ist aufgrund der bestehenden Umstände des vorliegenden Einzelfalls jedoch derzeit als widerlegt anzusehen.

Eine Widerlegung der Regelvermutung des § 69 Abs. 2 StGB ist gegeben, wenn besondere Um-stände vorliegen, welche die Vermutung der fehlenden Eignung entkräften, weil sie die Tat als weniger schwerwiegend erscheinen lassen als den Regelfall (Böse/Bartsch in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Saliger, StGB, 6. Auflage 2023, § 69 StGB Rn. 14; Heuchemer in: BeckOK StGB, 57. Edition, Stand: 01.05.2023, § 69 StGB, Rn. 43). Dies ist unter anderem dann anzunehmen, wenn die Tat angesichts besonderer Umstände in der Person des Täters persönlichkeitsfremd erscheint, in einer Ausnahmesituation begangen wurde und eine Gesamt-würdigung ergibt, dass mit einer Wiederholung der Tat nicht zu rechnen ist (Heuchemer in: BeckOK StGB, 57. Edition, Stand: 01.05.2023, § 69 StGB, Rn. 45). Dies ist nach dem derzeitigen Sachstand vorliegend der Fall.

So ist die Tat bei einer Gesamtschau aller derzeit aktenkundigen Umstände des Einzelfalls unter Einbeziehung der Einlassung des Beschuldigten – welche nach Auffassung der Kammer jedenfalls plausibel und derzeit nicht durch sonstige aktenkundige Umstände widerlegt ist und daher zugunsten des Beschuldigten zugrunde zu legen ist – als ein, in einer Drucksituation aufgetretenes, Augenblickversagen anzusehen, mit dessen Wiederholung nach der Auffassung der Kammer derzeit nicht zu rechnen ist.

Der Beschuldigte hat sich vorliegend – nach seiner plausiblen Einlassung – allein deshalb für das Verlassen des Unfallortes entschieden, weil er zum Zeitpunkt des Unfalls als Verkaufsfahrer des Lebensmittellieferanten Bofrost mit seiner Lieferung an einen Kunden 1,5 Stunden in Verzug war und dieser Kunde sich bei dem Beschuldigten telefonisch gemeldet und mitgeteilt hatte, dass die-ser zeitnah das Haus verlassen würde. Allein aufgrund dieser beruflichen Drucksituation hat sich der Beschuldigte – wie sowohl in der Beschwerdebegründung seines Rechtsanwaltes vom 05.06.2023 (Blatt 69 ff. der Akten), als auch von dem Beschuldigten persönlich in seinen Angaben anlässlich der Anhörung vom 29.12.2022 (Blatt 15 der Akten) angegeben – fälschlicherweise dazu entschieden, zunächst die Lieferung an den besagten Kunden in unmittelbarer Nähe zum Unfallort durchzuführen und erst danach an den Unfallort zurückzukehren, um die Polizei zu informieren. Ob die Rückkehr an den Unfallort von dem Beschuldigten tatsächlich beabsichtigt war, ist durch das Tatgericht aufzuklären, muss durch das hiesige Beschwerdegericht – angesichts der Plausibilität der Einlassung und mangels dies widerlegender Anhaltspunkte in den Akten – zugunsten des Beschuldigten jedoch angenommen werden. Zudem ist der Beschuldigte – trotz seiner Eigenschaft als Berufskraftfahrer und dem damit einhergehenden überdurchschnittlichen Fahraufkommen – seit 32 Jahren, ausweislich des Auszuges aus dem Bundeszentralregister vom 23.01.2023 und dem Auszug aus dem Fahreignungsregister vom 21.03.2023, weder strafrechtlich noch verkehrsrechtlich in Erscheinung getreten.

Auch wenn das Verhalten des Beschuldigten trotz seiner Absicht zur Rückkehr an den Unfallort den Tatbestand des § 142 StGB erfüllt, so stellt sich die vorliegende Tat jedoch angesichts der oben genannten Umstände derzeit als eine solche dar, die vom Regelfall des § 142 Abs. 1 StGB in positiver Hinsicht deutlich abweicht.

Auch unabhängig von der Indizwirkung des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB ist eine Ungeeignetheit des Beschuldigten zum Führen von Kraftfahrzeugen auf der Grundlage einer tatbezogenen Eignungsprüfung des Beschuldigten derzeit nicht ersichtlich. Eine solche besteht nur dann, wenn die Anlasstat die tragfähigen Rückschlüsse darauf zulässt, dass der Täter bereit ist, die Sicherheit des Straßenverkehrs seinen eigenen kriminellen Interessen unterzuordnen (BGH, Urteil v. 27.04.2005 – GSSt 2/04 = NJW 2005, 1957, 1959). Dies ist vorliegend jedoch nicht der Fall. Diesbezügliche Anhaltspunkte sind für die Kammer derzeit nicht ersichtlich.“

Na ja. Darüber kann man m.E. diskutieren 🙂 .

Verkehrsrecht III: FoF mit auländischer Fahrerlaubnis?, oder: Wohnsitz im Inland?

entnommen wikimedia.org

Und als dritte Entscheidung dann noch das LG Itzehoe, Urt. v. 17.08.2022 – 3 Ns 314 Js 28038/20. Die Entscheidung behandelt einen (früheren) Dauerbrenner, nämlich das Fahren ohne Fahrerlaubnis für den Inhaber einer ausländischen Fahrerlaubnis. Hier ist es eine polnische Fahrerlaubnis; der Angeklagte hatte früher auf seine deutsche Fahrerlaubnis verzichtet. „Gestritten“ wurde um den Lebensmittelpunkt. Das AG hatte den Angeklagten verurteilt, das LG hat aufgehoben und frei gesprochen:

„Die Berufungsverhandlung hat zu folgenden Feststellungen geführt:

Um dem Entzug seiner Fahrerlaubnis zuvorzukommen, verzichtete der Angeklagte am 12.12.2006 gegenüber der Fahrerlaubnisbehörde des Kreises Segeberg auf seine ihm erteilten Fahrerlaubnisse. Seit diesem Zeitpunkt hat der Angeklagte keine neue deutsche Fahrerlaubnis erworben. Der Angeklagte erwog, die von ihm geleitete Firma nach Polen zu verlegen. In der Zeit vom 05.02.2007 bis zurn•31.12.2007 hielt sich der Angeklagte überwiegend in Stettin auf und wohnte in. einer von ihm gemieteten Wohnung unter der Adresse. Seine Firma leitete er aus Polen; nur etwa alle 2 bis 3 Wochen reiste er für jeweils 2 Tage nach Deutschland. Am 09.08.2007 wurde ihm nach der Ableistung von Fahrstunden sowie bestandener theoretischer und praktischer Fahrprüfung eine polnische Fahrerlaubnis ausgestellt. In dieser Fahrerlaubnis war als Wohnort die vorgenannte Stettiner Adresse des Angeklagten vermerkt. Gemeldet war der Angeklagte in der pp. Am 16.09.2020 befuhr der Angeklagte gegen 11:55 Uhr mit dem Pkw Hanomag-Henschel F20 mit dem amtlichen Kennzeichen pp. die pp. in pp. Im Rahmen einer Polizeikontrolle wurde festgestellt, dass der Angeklagte nicht über eine deutsche Fahrerlaubnis verfügt.

Der Angeklagte war aus tatsächlichen Gründen freizusprechen. Er verfügte am 15.09.2020 über eine gültige polnische Fahrerlaubnis. Diese berechtigte ihn nach § 28 Abs..1 FeV zum Führen des Fahrzeugs im Sinne des § 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG. Nach § 28 Abs. 1 FeV dürfen Inhaber einer gültigen EU-Fahrerlaubnis, die ihren ordentlichen Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland haben, im Umfang ihrer Berechtigung Kraftfahrzeuge im Inland führen. Es gilt der sogenannte Anerkennungsgrundsatz.

Aus § 28 Abs. 4 Nr. 2 und Nr. 3 FeV ergeben sich vorliegend keine Einschränkungen dieser Berechtigung.

Nach § 28 Abs. 4 Nr. 2 gilt der Anerkennungsgrundsatz nicht für Fahrer, die ausweislich des Führerscheins oder vom Ausstellungsmitgliedstaat herrührender unbestreitbarer Informationen zum Zeitpunkt der Erteilung ihren ordentlichen Wohnsitz im Inland hatten. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Der polnische Führerschein des Angeklagten weist als Wohnort seine angemietete Adresse in Stettin aus. Es liegen auch keine unbestreitbaren Informationen des Ausstellungsstaats vor, aus denen sich ergibt, dass der Angeklagte zum Zeitpunkt der Führerscheinerteilung seinen ordentlichen Wohnsitz im Inland hatte. Unbestreitbar sind die Informationen nur dann, wenn sie von einer Behörde des Ausstellermitgliedstaats stammen und das Fehlen eines Wohnsitzes so wahrscheinlich ist, dass kein vernünftiger, die Lebensverhältnisse klar überschauender Mensch noch zweifelt (vgl; Zwerger, in ZfSch 2015, 184 rn.w.N.).

Soweit die von der Kammer an die polnischen Behörden gerichtete EEA Anfrage dahingehend beantwortet wurde, dass der Angeklagten zu keinem Zeitpunkt in Polen gemeldet war, lässt dies nicht mit der hinreichenden Sicherheit den Rückschluss zu, dass der Angeklagte auch seinen Lebensmittelpunkt nicht in Polen hat. Die Auskunft der polnischen Behörden vermag daher die vom Führerschein ausgehende Vermutungswirkung, dass das Wohnsitzerfordernis erfüllt war, nicht zu widerlegen.

§ 28 Abs. 4 Nr. 3 FeV findet aufgrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs keine Anwendung (vgl. EuGH, 26.04.2012 C-419/10; EuGH, 01.03.2012 — C-467/10). Dies gilt auch für die sogenannte Verzichtsvariante, wenn also die Fahrerlaubnis nur deshalb nicht entzogen worden ist, weil der Betroffene zwischenzeitlich auf sie verzichtet hat (so auch: OLG Koblenz, Beschluss vom 15.08.2005 — 7 B 11021/05; OLG Nürnberg, Urteil vorn 16.01.2007 23 St OLG Ss 286/06; Halecker/Scheffler, in: Leipold/Tsambikakis/Zöller, Anwaltkommentar StGB, 3. Auflage 2020, § 69b Rn. 22; Weidig, in: Münchener Kommentar zum StVR, 1. Auflage 2016, § 21 StVG Rn. 15; König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Auflage § 21 StVG Rn. 2a; Zwerger, Europäischer Führerscheintourismus — Rechtsprechung des EuGH und nationale Rechtsgrundlagen, ZfSch 2015, 184; offen gelaSsen durch: Heinz-Georg-Kerkmann in: Haus/Krumm/Quarch,.Gesamtes erkehrsrecht, 2.* Auflage 2017, § 21 SIVG Rn. 69).

Soweit das OLG Hamburg ‚dies in einem Beschluss vom 29.09.2011 (Az.: – 3- 44/11) noch anders gesehen hatte, ist dieser Entscheidung durch die nachfolgenden Urteile des Europäischen Gerichtshofs, wie oben ausgeführt, die Grundlage entzogen worden.“

Mittelgebühren im straßenverkehrsrechtlichen OWi-Verfahren, oder: Der richtige Umsatzsteuersatz

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Und als zweite Entscheidung dann der LG Itzehoe, Beschl. v. 18.02.2021 – 2 Qs 209/20 -, mal wieder zur Bemessung der Gebühren in straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren und zur Frage der Anwendung des „richtigen“ Umsatzsteuersatzes

Dem Betroffenen war im Bußgeldverfahren vorgeworfen worden, beim Abbiegen in ein Grundstück einen Unfall verursacht zu haben. Deswegen war gegen ihn in einem Bußgeldbescheid eine Geldbuße von 100,00 EUR festgesetzt und angekündigt worden, bei Rechtskraft ein Punkt im FAER eingetragen werde. Der Verteidiger, der Kollege Ermer aus Marne, hat Einspruch eingelegt und Einstellung des Verfahrens angeregt. Das Verfahren wurde an das AG abgegeben. Dort hat dann eine dreißigminütige Hauptverhandlung stattgefunden, in der sich der Betroffene zur Sache eingelassen hat. Außerdem sind vier Zeugen vernommen worden. Das AG hat den Betroffenen freigesprochen und die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse auferlegt.

Der Betroffene hat insgesamt 910,47 EUR notwendige Auslagen geltend gemacht. Diese hat das AG nur teilweise festgesetzt, und zwar von den bei den Verfahrensgebühren Nr. 5103 VV RVG und Nr. 5109 VV RVG jeweils geltend gemachten Mittelgebühren lediglich 80,00 EUR bzw. 100,00 EUR und von der bei der Terminsgebühr Nr. 5110 VV RVG angesetzten Mittelgebühr lediglich 160,00 EUR. Außerdem hat es die Umsatzsteuer nach Nr. 7008 VV RVG gekürzt. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde hatte Erfolg:

„…. Nach diesen Maßstäben hat das Amtsgericht die oben genannten Gebühren zu Unrecht nur gekürzt dem Kostenfestsetzungsbeschluss zugrunde gelegt.

Allgemein ist voranzustellen, dass die in Teil 5 des Vergütungsverzeichnisses zum RVG vorgesehenen Gebührenraten für die Vergütung in sämtlichen Bußgeldsachen heranzuziehen sind. Dies sind neben Verkehrsordnungswidrigkeiten auch solche aus den Bereichen des Bau-, Gewerbe-, Umwelt- oder Steuerrechts, die häufig mit Bußgeldern im oberen Bereich des Bußgeldrahmens von 60,00 bis 5.000,00 Euro geahndet werden und mit rechtlichen Schwierigkeiten und/oder umfangreicher Sachaufklärung verbunden sind. Zwar können auch Verkehrsordnungswidrigkeiten im Einzelfall einen gleich hohen oder höheren Aufwand als andere Ordnungswidrigkeiten verursachen. Sie betreffen auch eine Vielzahl der Ordnungswidrigkeitenverfahren. Allerdings werden sie dadurch nicht bedeutsamer oder schwieriger. Durchschnittliche Verkehrsordnungswidrigkeiten mit einfachen Sach- und Rechtsfragen, niedrigen Geldbußen und wenigen Punkten im Verkehrszentralregister sind daher nach Auffassung der Kammer grundsätzlich als unterdurchschnittliche Bußgeldsachen anzusehen. Für sämtliche der hier im Wege der Beschwerde verfolgten Gebührenansätze ist die Kammer unter Berücksichtigung dieser Grundsätze gleichwohl der Auffassung, dass der vorgenommene Ansatz der Mittelgebühren jedenfalls nicht nach den eingangs aufgezeigten Maßstäben unbillig ist.

Zwar ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass die Sache für den Betroffenen eine besondere Bedeutung gehabt hätte. Ein Fahrverbot drohte ihm nicht. Auch kommt der möglichen Eintragung eines Punktes in das Fahreignungsregister keine gesteigerte Bedeutung bei. Maßgeblich ist insoweit, dass konkrete über die Eintragung hinausgehende Folgen für den Betroffenen nicht ersichtlich sind und eine Löschung der Eintragung nach § 29 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 lit. a StVG bereits nach Ablauf von zwei Jahren und sechs Monaten möglich gewesen wäre. Auf der anderen Seite vermag die Kammer jedoch auch nicht zu erkennen, dass die Sache für den Betroffenen damit eine besonders unterdurchschnittliche Bedeutung hatte. Für die Frage des Umfangs der Tätigkeit des Verteidigers sei neben dem unter I. Dargelegten darauf hingewiesen, dass er nach seinem unwidersprochen gebliebenen und plausiblen Vorbringen die Unfallörtlichkeiten in Augenschein genommen hat. Insofern ist zwar nicht näher ausgeführt, wann dies geschah — mit welcher Gebühr dieser Aufwand also konkret abgegolten ist. Gleichwohl belegt auch dieser Umstand, dass hier kein routinemäßig unter Nutzung von Synergieeffekten abzuarbeitender Massenfall wie eine geringfügige Geschwindigkeitsüberschreitung vorlag. Nach Dafürhalten der Kammer lag nach allem damit insgesamt eine Tätigkeit des Verteidigers in einem Bereich vor, in dem für die geltend gemachten Gebühren für die Betreibung des Verfahrens vor der Verwaltungsbehörde nach Nr. 5103 VV RVG und für die Betreibung des Verfahrens nach Abgabe der Akten an das Amtsgericht nach Nr. 5109 VV RVG der Ansatz der Mittelgebühr von 160,00 Euro jeweils zumindest nicht nach den aufgezeigten Maßstäben unbillig ist.

Im Hinblick auf die Gegenerklärung der Bezirksrevisorin im Beschwerdeverfahren sei noch aus-geführt, dass die Kammer die vom Amtsgericht antragsgemäß auf 100,00 Euro festgesetzte Grundgebühr nach Nr. 5100 VV RVG in dieser Höhe nicht für unbillig hält. Selbst wenn man mit der Gegenerklärung der Bezirksrevisorin im Beschwerdeverfahren die Gebühr nur in Höhe von 80,00 Euro für angemessen hielte, wäre eine Überschreitung um 25 % auf 100,00 Euro nach Dafürhalten der Kammer angesichts der nur geringfügigen Überschreitung der eingangs genannten, nur regelmäßig geltenden 20 %-Grenze nicht als unbillig zu qualifizieren.

Zur Verfahrensgebühr Nr. 5109 VV RVG sei ergänzt, dass die nach Aktenlage zu erwartende Vorbereitung der gerichtlichen Hauptverhandlung nach Dafürhalten der Kammer (schon) dem durchschnittlichen Bereich für die von den Gebührentatbeständen erfassten Ordnungswidrigkeiten zuzurechnen ist.

Ebenfalls nicht unbillig ist nach Dafürhalten der Kammer der Ansatz der Mittelgebühr von 255,00 Euro für die Terminsgebühr nach Nr. 5110 VV RVG, bei der vor allem auf die aufgewendete Zeit abzustellen ist: Eine Dauer von 30 Minuten ist bei Hauptverhandlungsterminen in den von Nr. 5110 VV RVG erfassten Bußgeldsachen nach Auffassung der Kammer als durchschnittlich anzusehen (vgl. m.w.N. Burhoff in Gerold/Schmidt, RVG 24. A., Vorbem. 5 Rn. 13).

Nach alldem war auch die nach Nr. 7008 VV RVG anzusetzende Umsatzsteuer wie vom Betroffenen beantragt mit 19 % auf den von ihm beantragten Betrag festzusetzen. Zwar beträgt nach Art. 3 Nr. 3 Abs. 1 des Zweiten Corona-Steuerhilfegesetz (Zweites Gesetz zur Umsetzung steuerlicher Hilfsmaßnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise vom 29. Juni 2020) vom 1. Juli 2020 bis 31. Dezember 2020 die Steuer für jeden steuerpflichtigen Umsatz 16 Prozent der Bemessungsgrundlage. Entscheidend für die Anwendung dieses verringerten Steuersatzes ist jedoch der Zeitpunkt der Erledigung des anwaltlichen Auftrags. Der Auftrag des Verteidigers endete hier mit der Erreichung des Rechtsschutzziels durch das bereits im Mai 2020 rechtskräftig gewordene freisprechende Urteil und damit vor dem Zeitraum, in dem der reduzierte Umsatzsteuersatz galt.“