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Vereinsrecht I: PKH für den eingetragenen Verein?, oder: Darlegung der Bedürftigkeit

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Und heute im „Kessel Buntes“ dann mal kein Straf- oder Verkehrsrecht, sondern „Vereinsrecht“. Damit habe ich ja über mein Buch „Vereinsrecht Leitfaden für Vereine und Mitglieder“, das es inzwischen schon in der 11. Auflage gibt auch zu tun. Näheres hier.

In dem Zusammenhang stelle ich heute zunächst einen Beschluss des OVG Hamburg zur Prozesskostenhilfe vor, und zwar den OVG Hamburg, Beschl. v. 06.07.2023. 3 So 38/23.

Ein eingetragener Verein hatte PKH beantragt. Die ist abgelehnt worden. Die dagegen gerichtete Beschwerde des Vereins hatte keinen Erfolg:

1. Gemäß § 146 Abs. 2 VwGO können Beschlüsse über die Ablehnung der Prozesskostenhilfe nicht mit der Beschwerde angefochten werden, wenn das Gericht ausschließlich die persönlichen oder wirtschaftlichen Voraussetzungen der Prozesskostenhilfe verneint. Das ist hier der Fall.

Das Verwaltungsgericht hat dem Kläger die Bewilligung von Prozesskostenhilfe mit der Begründung versagt, dass er als eingetragener Verein und damit als juristische Person nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 116 Satz 1 Nr. 2 ZPO über seine (eigene) Bedürftigkeit hinaus auch hätte darlegen müssen, dass die Kosten der Prozessführung von den am Gegenstand des Rechtsstreits wirtschaftlich Beteiligten nicht aufgebracht werden können und dass die Unterlassung der von ihm beabsichtigten Rechtsverfolgung allgemeinen Interessen zuwiderlaufen würde. An beidem fehle es. Damit hat es – ungeachtet dessen, ob sich die Entscheidung als richtig oder falsch erweist – ausschließlich auf den für den Beschwerdeausschluss maßgeblichen Bezugspunkt der persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen der Prozesskostenhilfe abgehoben.

§ 116 Satz 1 Nr. 2 ZPO erweitert den Kreis der Prozesskostenhilfeberechtigten über die in § 114 ZPO (nur) angesprochenen natürlichen Personen (vgl. Schultzky, in: Zöller, ZPO, 34. Aufl. 2022, § 114 Rn. 2) hinaus auf juristische Personen und parteifähige Vereinigungen. Allerdings macht die Vorschrift die Bewilligung von Prozesskostenhilfe insofern von strengeren Voraussetzungen als § 114 Satz 1 ZPO abhängig, als sie verlangt, dass die Kosten weder von der juristischen Person oder parteifähigen Vereinigung noch von den am Gegenstand des Rechtsstreits wirtschaftlich Beteiligten aufgebracht werden können und die Unterlassung der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung allgemeinen Interessen zuwiderlaufen würde. Diese Erfordernisse tragen den besonderen Verhältnissen der juristischen Personen und parteifähigen Vereinigungen Rechnung, die nur dann eine von der Rechtsordnung anerkannte Existenzberechtigung haben, wenn sie in der Lage sind, ihre Ziele aus eigener Kraft zu verfolgen, und sollen Vorsorge dagegen treffen, dass mittellose Verbände eigene wirtschaftliche Interessen auf Kosten der Allgemeinheit verwirklichen (vgl. BGH, Beschl. v. 9.11.2021, II ZR 224/20, ZInsO 2022, 143, juris Rn. 7; OLG Frankfurt, 19 W 14/22, juris Rn. 13; jew. m. w. Nachw.). Mit Blick auf die drei verschiedenen Voraussetzungen, von denen das Prozesskostenhilferecht den Erhalt von Prozesskostenhilfe abhängig macht, nämlich den persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen, den hinreichenden Erfolgsaussichten und der fehlenden Mutwilligkeit (vgl. §§ 114 Abs. 1 Satz 1, 116 Satz 1 und 2 ZPO), sind die Erfordernisse des § 116 Satz 1 Nr. 2 ZPO systematisch den persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen zuzuordnen. Das gilt nicht nur für die Entscheidung darüber, ob jemand am Gegenstand des Rechtsstreits wirtschaftlich Beteiligter ist und die Kosten aufbringen kann (vgl. dazu bereits OVG Weimar, Beschl. v. 17.12.2015, 3 ZO 682/15, juris Rn. 3), sondern ebenso für die Entscheidung darüber, ob die Unterlassung der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung allgemeinen Interessen zuwiderlaufen würde (vgl. BGH, Beschl. v. 9.11.2021, a.a.O., juris Rn. 4 ff.). Der Beschwerdeausschluss des § 146 Abs. 2 VwGO greift daher bei einer ausschließlich auf die Merkmale des § 116 Satz 1 Nr. 2 ZPO gestützten Versagung der Prozesskostenhilfe umfassend ein.

Die Gesetzesmaterialien zur Einschränkung der Beschwerdemöglichkeit im Verfahren der Prozesskostenhilfe unterstützen diese Auffassung. Denn in der amtlichen Begründung der Bundesregierung zum Entwurf des § 146 Abs. 2 VwGO n.F. (in Art. 12 Nr. 1 des Gesetzes zur Änderung des Prozesskostenhilfe- und Beratungshilferechts vom 31. August 2013 [BGBl. I S. 3533, 3538]) heißt es: „Die Ablehnung der Prozesskostenhilfe kann mit der Beschwerde nur noch angefochten werden, wenn die Erfolgsaussichten in der Hauptsache vom Gericht verneint wurden. Hat das Gericht hingegen die persönlichen oder wirtschaftlichen Voraussetzungen verneint, ist die Beschwerde gegen diese Entscheidung nicht statthaft.“ (BT-Drs. 17/11472 S. 48 f.). Zwar erscheint diese Begründung insoweit zu kurz gegriffen, als sie ausblendet, dass neben der Verneinung der persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen und der hinreichenden Erfolgsaussichten auch die Fallgestaltung der mutwilligen Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung die Ablehnung der Prozesskostenhilfe rechtfertigt. Dies erlaubt aber nicht den Schluss, der Gesetzgeber habe darüber hinaus auch noch in anderen Konstellationen weiter die Beschwerde ermöglichen wollen.

Schließlich ist der Beschwerdeausschluss des § 146 Abs. 2 VwGO hier auch nicht etwa deshalb unanwendbar, weil der angefochtene Beschluss des Verwaltungsgerichts die nachträgliche Aufhebung bereits bewilligter Prozesskostenhilfe nach § 166 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 124 Abs. 1 ZPO zum Gegenstand hätte (vgl. zu dieser Fallgestaltung OVG Hamburg, Beschl. v. 30.6.2021, 6 So 19/21, NordÖR 2022, 47, juris Rn. 2 ff.). Entgegen der Auffassung des Klägers kann das gerichtliche Schreiben vom 30. August 2022 nicht als vorherige Bewilligung von Prozesskostenhilfe verstanden werden. Es enthält lediglich die an den Kläger gerichtete Mitteilung, dass die Rechnung zum Kassenzeichen 2622311018674 aufgrund seines Antrags auf Prozesskostenhilfe auf 0,00 Euro gesetzt worden sei, d.h. mit anderen Worten die schlichte Stornierung der angeforderten Verfahrensgebühr. Im Übrigen ergehen Entscheidungen im Verfahren über die Prozesskostenhilfe durch Beschluss (§ 166 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 127 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Aufgrund der Notwendigkeit, im Beschluss eine klare Regelung über den Bewilligungsumfang und die Pflicht zur Ratenzahlung zu treffen, ist eine Bewilligung von Prozesskostenhilfe durch schlüssiges Verhalten ausgeschlossen (vgl. Schultzky, in: Zöller, ZPO, 34. Aufl. 2022, § 127 Rn. 19).“

I. Instanz im Asyl-Klageverfahren dauert 58 Monate, oder: Welche Entschädigung für die Verfahrensdauer?

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Und dann – passt einigermaßen – der OVG Lüneburg, Beschl. v. 25.05.2023 – 13 FEK 496/21 – zur Frage der Entschädigung wegen unangemessener Dauer eines asylrechtlichen Gerichtsverfahrens, also §§ 198, 199 GVG.

Zum Sachverhalt verweise ich auf den Volltext. Nur so viel: Das Verfahren, ein erstinstanzliches asylrechtliches Klageverfahren, lief insgesamt etwa 58 Monate. Das beklagte Land hat bereits die Verfahrensdauer im Zeitraum zwischen Juli 2019 bis November 2022, also 41 Monate, als unangemessen anerkannt und insoweit eine Entschädigung gezahlt. Es war also allein noch zu beurteilen der Zeitraum zwischen Februar 2018 und Juni 2019, also 17 Monate. Dazu sagt adas OVG: Noch keine unangemessene Verfahrensdauer. Hier der Leitsatz

Zur angemessenen Verfahrensdauer eines asylrechtlichen Klageverfahrens mit durchschnittlichem Schwierigkeitsgrad und noch durchschnittlicher Bedeutung für die Kläger und ohne ein zu einer relevanten Verzögerung des Rechtsstreits beitragendes Prozessverhalten der Beteiligten.

 

Schadensersatz I: „Du warst Mitglied der Stasi“, oder: Da das wahrheitswidrig war, gibt es Schadensersatz

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Und in die 27. KW starte ich dann heute mit zwei etwas außergewöhnlichen Entscheidungen. Kein BVerfG, kein Klima, keine Corona, sondern mal Schadensersatz, und zwar als Folge von Straftaten bwz. von wahrheitswidrigen Behauptungen. Wäre an sich etwas für den Kessel Buntes, aber da gehen die Entscheidungen an einem Samstag vielleicht unter. Daher heute hier.

Ich beginne mit dem LG Flensbugr, Urt. v. 14.06.2023 – 7 O 140/20. Gegenstand des Verfahrens ist die wahrheitswidirge Behauptung – inzwischen wahrrechtskräftig festgestellt – der Kläger „sei Mitglied der Staatssicherheit (Stasi)“ gewesen. Darüber gibt es ein Teil-/Grundurteil. Gestritten worden ist jetzt noch um den Schadensersatz. Den hat das LG mit 10.000 EUR bemessen und das wie folgt begründet:

„a) Grundsätzlich hängt die Schmerzensgeldhöhe entscheidend vom Maß der durch das haftungsbegründende Ereignis verursachten körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen des Geschädigten ab, soweit diese bei Schluss der mündlichen Verhandlung bereits eingetreten sind oder mit ihnen zu diesem Zeitpunkt als künftiger Verletzungsfolge ernstlich gerechnet werden muss. Die Schwere der Belastungen wird dabei vor allem durch die Stärke, Heftigkeit und Dauer der erlittenen Schmerzen und Funktionsbeeinträchtigungen bestimmt. Besonderes Gewicht kommt etwaigen Dauerfolgen zu (Leitsatz OLG München, Urteil v. 13.12.2013, Az. 10 U 4926/12, BeckRS 2013, 22617).

Die Überzeugung des Richters erfordert in dem Zusammenhang keine – ohnehin nicht erreichbare – absolute oder unumstößliche, gleichsam mathematische Gewissheit und auch keine „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“ im Hinblick auf die Folgen, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet (vgl. OLG München, Urteil v. 13.12.2013, Az. 10 U 4926/12, BeckRS 2013, 22617 m.w.N.). Nach der im Rahmen der haftungsausfüllenden Kausalität anwendbaren Vorschrift des § 287 ZPO werden geringere Anforderungen an die Überzeugungsbildung gestellt. Hier genügt je nach Lage des Einzelfalls eine überwiegende (höhere) Wahrscheinlichkeit für die Überzeugungsbildung.

b) Die Qualität des Eingriffs dürfte vorliegend – wenn auch subjektiv auf Klägerseite anders empfunden – eher als mittelschwer zu qualifizieren sein.

Bei der Beurteilung der Qualität des Eingriffs ist einerseits die Art der Behauptung aber auch die Reichweite dieser zu berücksichtigen.

Zweifelsohne ist die vorliegende Art der Behauptung, der Kläger sei Mitglied (sogar „bis 1989 Offizier“) der Stasi gewesen und habe hierbei „viele Werftarbeiter persönlich über die Klinge springen [lassen] durch seine Spitzeltätigkeit“ schwerwiegend und in hohem Maße ehrverletzend. Derartige Behauptungen sind zudem geeignet, das soziale und ggf. politische Ansehen des Klägers zu mindern. Schließlich herrscht heute innerhalb der Bundesrepublik Deutschland allgemeiner Konsens darüber, dass die Stasi für zahlreiche Verbrechen an Menschen verantwortlich ist, die nach damaliger Beurteilung innerhalb der DDR nicht ins dortige System passten. Dass Menschen im Auftrag der Stasi verfolgt, verhaftet, gefoltert und gar getötet worden sind, dürfte heute nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt werden.

Indes geht das Gericht basierend auf den Angaben der Parteien von einer eher überschaubaren Reichweite der Äußerungen des Beklagten zu 1 aus. Zwar ist es unstreitig sehr wohl möglich gewesen, auf den Blog des Beklagten zu 1 sowie auf sein Buch aufmerksam zu werden, wenn man den Namen des Klägers zusammen mit anderen „Schlagwörtern“ bei der Suchmaschine „google“ eingegeben hat. Indes dürfte der Blog des Beklagten zu 1 mit der Domain „http://…“ ansonsten eher einen geringen „fraffic“ (Anzahl der Besucher auf der Homepage innerhalb eines bestimmten Zeitraums) gehabt haben. Zudem dürfte sich nur eine bestimmte Klientel mit dem Inhalt des Blogs auseinandergesetzt haben. Auch die Auflage des Buches beziehungsweise die bislang (geschätzte) Anzahl der Verkäufe (rund 25-30 mal) bei Amazon („www.amazon.de“) ist im Vergleich zu anderen Fällen verhältnismäßig gering. Hinzu kommt, dass der Kläger in dem Buch nur an vereinzelten Stellen genannt wird, sich das Buch also nicht ausschließlich um seine Person dreht.

c) Die persönlichen Folgen bzw. Beeinträchtigungen auf Seiten des Klägers stuft das Gericht indes als schwerwiegend ein.

Nach der Überzeugung des Gerichts haben die falschen ehrverletzenden Behauptungen des Beklagten zu 1 erhebliche negative psychische Auswirkungen auf den Kläger gehabt mit der Folge, dass dieser in eine schwere emotionale Krise gestürzt ist.

aa) Zum einen hat das Gericht die medizinischen Befunde und Berichte (Anlage K 27 – K 29, Bl. 266 – 269 und Bl. 417 d.A.) berücksichtigt. Auf deren Inhalt wird an dieser Stelle vollumfänglich Bezug genommen.

bb) Vor allem aber stützt das Gericht seine Beurteilung auf den eigenen persönlich vom Kläger gewonnenen Eindruck, dessen glaubhafte Darstellung seiner Situation sowie auf die glaubhaften Angaben des Zeugen … .

(1) In der mündlichen Verhandlung vom 22.7.2021, in welcher der Kläger das erste mal informatorisch zur Sache angehört wurde, hat das Gericht bereits den Eindruck gewonnen, dass der Kläger von dem Verfahren und der Situation schwer gezeichnet war. Mit hängenden Schultern und sorgenvoller Mine hat der Kläger damals berichtet, dass ihn die falschen Behauptungen sehr belasten würden. Er sehe seinen guten Ruf in Gefahr und wolle nicht, dass seine ehemaligen Kollegen und Schüler ein derartiges (falsches) Bild von ihm gezeichnet bekämen.

(2) Auch in der mündlichen Verhandlung vom 17.2.2022 wirkte der Kläger auf das Gericht sehr angeschlagen. Es fiel ihm merklich schwer, über die Auswirkungen der Vorwürfe zu sprechen. Dennoch gab er glaubhaft zu Protokoll, dass er sich vor ca. 10 Jahren in psychische Behandlung habe begeben müssen. Damals habe er mit den Folgen eines sog. „Burnout“ zu tun gehabt. Nachdem er diese Krise überwunden hatte, sei die Thematik – aufgrund der Behauptungen des Beklagten zu 1 und dieses Prozesses – jetzt allerdings wieder hochgekommen. Er habe sich im Zusammenhang mit den Anschuldigungen sogar in stationäre Behandlung begeben müssen.

(3) Diese Angaben hat der Zeuge … in der mündlichen Verhandlung vom 25.5.2023 glaubhaft bestätigt.

Dieser hat ausgesagt, den Kläger schon seit dem Jahr 2011 zu kennen. Damals sei er bei ihm wegen Depressionen und Angststörungen sowie Schmerzen in Behandlung gewesen. Diese damalige Behandlung habe zu tun gehabt mit der beruflichen Belastung des Klägers.

Im Jahr 2020, als er auf die Behauptungen über sich im Internet aufmerksam wurde, sei er dann erneut in eine schwere Krise gekommen. Er sei seit damals wieder verstärkt angespannt gewesen und habe nicht schlafen können. Er habe die Situation als „sehr bedrohlich“ wahrgenommen. Besonders belastet habe ihn, dass er dieser Situation so hilflos gegenüber stand.

Er sei damals auch sehr impulsiv gewesen und habe versucht, sich mit Alkohol zu beruhigen. Zuvor habe er lange Zeit gar keinen Alkohol mehr zu sich genommen.

Ein weiteres Thema sei gewesen, dass die Ehefrau des Klägers ebenfalls sehr besorgt gewesen sei. Dies habe letztlich auch zu einer Ehekrise geführt, da der Kläger seine Ehe in Gefahr gesehen habe. Dies insbesondere aufgrund des Umstandes, dass die Ehefrau des Klägers bei dem Konsum von Alkohol katastrophale Wirkungen bzw. Gedanken hervorgebracht habe. Die Ehefrau des Klägers dahingehend wieder einzufangen und sie davon zu überzeugen, dass die Probleme des Klägers gelöst werden müssten, sei für den Kläger und den Zeugen … ein enormer Kraftakt gewesen.

Zusammengefasst habe der Kläger zwischen 2020 und 2022 in einer erheblichen psychischen Krise gesteckt hat, die kausal durch die Behauptungen des Beklagten zu 1 hervorgerufen worden sei (Protokoll vom 25.5.2023, S. 2-4). Ob er diese Krise je überwinden werde, sei ungewiss. Der Zeuge … sehe allerdings gute Chancen, wenn dieser Prozess beendet sei.

Die Angaben des Zeugen waren insgesamt glaubhaft. Hinweise auf eine einseitige Belastungs- oder Begünstigungstendenz haben sich nicht ergeben. Bei dem Zeugen … handelt es sich um einen seit Jahren praktizierenden Nervenarzt, der seine fachkundigen Wahrnehmungen wertungsfrei wiedergegeben hat. Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Zeugen haben sich ebenfalls nicht ergeben.

d) Das Maß an Verschulden bzw. Vorwerfbarkeit des Beklagten zu 1 sieht das Gericht als hoch an (mit Einschränkung).

Das Gericht geht zwar – ohne Zweifel – davon aus, dass der Beklagte zu 1 die Behauptungen über den Kläger in der Absicht öffentlich aufgestellt hat, um diesem zu schaden. Auch geht das Gericht davon aus, dass der Beklagte zu 1 seinen Fehler (Behauptungen sind tatsächlich unwahr) bei objektiver Betrachtung hätte erkennen müssen und können, wenn er sich mit der Aktenlage intensiver beschäftigt hätte. Der Fehler wäre also vermeidbar gewesen. Dies, wie auch die Qualität der Behauptung, muss sich der Beklagte zu 1 vorwerfen lassen.

Indes hat das Gericht im Laufe des Prozesses auch den Eindruck gewonnen, dass der Beklagte zu 1 aufgrund seiner eigenen Vergangenheit (als Opfer der Stasi) womöglich psychisch und emotional derart geprägt worden ist, dass ihm die Unterscheidung zwischen Realität (objektiv beweisbarem) und Vorstellung nicht mehr ohne Einschränkung gelingt. Mit Verweis auf die zahlreichen aus Sicht des Gerichts nicht nachvollziehbaren – teils persönlichen – Einlassungen des Beklagten zu 1 (vgl. dazu auch Grund- und Teilurteil, S. 13 ff.) sowie seine mangelnde Einsicht (trotz zweier Instanzen) schließt das Gericht nicht aus, dass der Beklagten zu 1 womöglich die Tragweite seiner Handlungen gar nicht erkennt. Jedenfalls scheint er unter einem erheblichen psychischen Trauma zu leiden, welches er durch Benennung der „Täter“ aufzuarbeiten versucht. Dass er hierbei einen Falschen als „Täter“ benannt hat, ist für ihn emotional womöglich nicht nachvollziehbar. Dies mag auch dem Umstand geschuldet sein, dass Verschleierung, Verdunkelung und Täuschung in der ehemaligen DDR, insbesondere bei der Stasi, an der Tagesordnung waren. Irgendwann mag bei jedem Menschen, der von einer solchen Welt geprägt worden ist, der Punkt erreicht sein, ab dem er nichts mehr glaubt, sondern sich seine eigene Wahrheit schafft.

e) Bei der Bemessung der Schmerzensgeldhöhe hat das erkennende Gericht insbesondere die folgenden, in der Schmerzensgeldtabelle exemplarisch aufgeführten Entscheidungen anderer Gerichte berücksichtigt und sich hieran orientiert:

  • Ehrverletzung durch unzutreffende Berichterstattung ohne Namensnennung. Dennoch erfuhren mindestens 217 Bekannte, Verwandte oder Kollegen von der Behauptung, der Kläger habe als „Stasi-Scherge“ einen Mord begangen: OLG Hamm, Urteil vom 1.6.1992, Az. 3 U 25/92, BeckRS 9998, 11842.
  • Ehrverletzung durch Ausstrahlung von Fernsehaufnahmen („Brandenburg aktuell“), in denen der Kläger als „Neonazi“ mit einschlägiger Vergangenheit dargestellt wurde: LG Berlin, Urteil vom 9.10.1997, Az. 27 O 349/97, BeckRS 9998, 16109.
  • Bezeichnung des im Kommunalwahlkampf stehenden Klägers als „kulturloser Bonze“ und  „Wendehals“. Zudem wurde der Kläger einer tatsächlich nicht bestehenden SED Vergangenheit beschuldigt: LG Frankfurt, Urteil vom 29.7.2004, Az. 17 O 540/03, BeckRS 2004, 17904.
  • Ehrverletzung wegen eines „herabwürdigenden Artikels“ mit der Folge psychischer Beeinträchtigungen: LG München, Urteil vom 11.6.2008, Az. 9 O 15086/06, BeckOK zum Schmerzensgeld Nr. 3782.
  • Unzutreffende Bezeichnung als „Perspektiv-Agent des KGB“. Es stelle eine schwere Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts dar, in einer Buchveröffentlichung eine andere Person mit dem kommunistischen Geheimdienst KGB in Verbindung zu bringen, weil so zu Lasten des Betroffenen ein zwielichtiger Eindruck erweckt werde: OLG Bremen, Urteil vom 1.11.1995, Az. 1 U 51/95, BeckRS 9998, 2560.

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BVerfG I: Versäumung der Verfassungsbeschwerdefrist, oder: Wiedereinsetzung durch Auslegung?

Und zum Auftakt der neuen Woche dann zwei Entscheidungen vom BVerfG. Zunächst hier der BVerfG, Beschl. v. 15.02.2023 – 1 BvR 2349/22, der noch einmal zur Frist bei der Verfassungsbeschwerde und zur Wiedereinsetzung Stellung nimmt.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine familiengerichtliche OLG-Entscheidung betreffend einen Versorgungsausgleich.  Die dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde hat das BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen, weil sie unzulässig ist/war:

„Die Verfassungsbeschwerde wahrt nicht die Frist zur Einlegung und Begründung aus § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG (1). Ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 93 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) ist weder ausdrücklich noch konkludent gestellt. Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von Amts wegen (§ 93 Abs. 2 Satz 4 BVerfGG) liegen nicht vor (2).

1. Die Beschwerdeführerin hat es versäumt, die Verfassungsbeschwerde innerhalb der Frist aus § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG einzulegen und sie in der durch § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG geforderten Weise zu begründen.

a) Für die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde ist nach § 93 1 Satz 1 BVerfGG erforderlich, dass diese innerhalb eines Monats ab Zustellung der angegriffenen Entscheidung beim Bundesverfassungsgericht eingelegt wird. Hierzu gehört auch die Vorlage aller für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde notwendigen Anlagen, insbesondere der angegriffenen Entscheidungen und aller sonstigen wichtigen Dokumente (vgl. BVerfGE 93, 266 <288>; 129, 269 <278> m.w.N.; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. September 2019 – 1 BvR 1789/19 -, Rn. 3). Ein Nachreichen von Unterlagen nach Ablauf der Monatsfrist ist, vorbehaltlich einer Wiedereinsetzung, grundsätzlich nicht möglich (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 16. Juni 2017 – 1 BvR 1877/15 -, Rn. 9 und vom 18. Januar 2022 – 1 BvR 2318/21 -, Rn. 6).

b) Dem genügt die Verfassungsbeschwerde nicht. Der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts wurde der Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin eigenen Angaben zufolge am 28. Oktober 2022 zugestellt. Am Tag des Fristablaufs, dem 28. November 2022, ging die per Fax übermittelte Verfassungsbeschwerde jedoch nur in Teilen und ohne darin in Bezug genommene Anlagen ein. So wurden lediglich fünf der elf Seiten umfassenden Verfassungsbeschwerde übersandt sowie die drei zwischen den Eheleuten geschlossenen Eheverträge. Die übrigen sechs Seiten der Verfassungsbeschwerdeschrift und insbesondere der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts wurden an diesem Tag jedoch nicht mit übersandt. Die Verfassungsbeschwerde gibt dessen wesentlichen Inhalt auch nicht wieder. Erst auf Hinweis des Allgemeinen Registers vom 6. Dezember 2022 folgten am 21. Dezember 2022 die gesamte Begründungsschrift vom 20. Dezember 2022 sowie die der Verfassungsbeschwerde zugrundeliegenden fachgerichtlichen Entscheidungen.

c) Es lässt sich auch nicht zugunsten der Beschwerdeführerin annehmen, dass der vollständige Beschwerdeschriftsatz bis zum Ablauf der Begründungsfrist zusammen mit allen für eine verfassungsrechtliche Prüfung des Beschwerdevorbringens unverzichtbaren Unterlagen tatsächlich in die Verfügungsgewalt des Bundesverfassungsgerichts gelangt ist. Dafür würde zwar ausreichen, dass ein Zugang auf dem Telefaxempfangsgerät des Bundesverfassungsgerichts erfolgt ist (vgl. Hömig, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93 Rn. 44 m.w.N. <Jan. 2022>).

Von einem vollständigen Zugang der Verfassungsbeschwerde einschließlich der für die Entscheidung darüber erforderlichen Unterlagen kann aber nicht ausgegangen werden. Soweit die Verfahrensbevollmächtigte mit ihrem Schreiben vom 20. Dezember 2022 mit dem Hinweis, Faxübersendungen ihrerseits würden als sogenannte Digi-Faxe erfolgen, bei denen es nicht möglich sei, lediglich Teile zu übersenden, sondern stets der insgesamt eingescannte Schriftsatz als PDF übermittelt werde, einen solchen Zugang behaupten wollte, deckt sich dies nicht mit den feststellbaren tatsächlichen Umständen. So weisen bereits die Begleitschreiben der Faxübermittlungen vom 28. November 2022 ausdrücklich aus, dass die Verfassungsbeschwerde in zwei Teilen sowie die Anlagen gesondert (nämlich einmal Anlagen 1 bis 3 sowie einmal Anlage 7) übersandt werden sollten. Bereits das spricht gegen eine einheitliche und vollständige Übersendung der gesamten Verfassungsbeschwerdeschrift einschließlich sämtlicher dort bezeichneter Anlagen. Zudem weisen drei der per Fax übersandten Begleitschreiben (diejenigen, mit denen die Anlagen 1 bis 3, Anlage 7 sowie der Teil 2 der Verfassungsbeschwerde gesendet wurden) jeweils die Meldung „DISCARDED application/pdf goes here (Attachement too big)“ auf. Das spricht gegen eine vollständige Übersendung und damit gegen einen entsprechenden Zugang bei dem Bundesverfassungsgericht.

2. Eine Wiedereinsetzung in die Frist zur Einlegung und Begründung der Verfassungsbeschwerde (§ 93 Abs. 2 BVerfGG) kommt nicht in Betracht.

a) aa) Für eine Wiedereinsetzung nach § 93 2 Satz 2 BVerfGG bedarf es eines begründeten Wiedereinsetzungsantrags, in dem das Vorliegen des Wiedereinsetzungsgrundes und die Rechtzeitigkeit des Wiedereinsetzungsantrags substantiiert dargelegt werden. Darüber hinaus muss der Beschwerdeführer die versäumte Rechtshandlung nachholen. Ein ausdrücklicher Wiedereinsetzungsantrag ist nicht erforderlich; es genügt, wenn sich das Wiedereinsetzungsbegehren konkludent aus dem Vortrag des Beschwerdeführers durch Auslegung entnehmen lässt. Dies kann etwa der Fall sein, wenn der Beschwerdeführer in Kenntnis der Fristversäumung bei der Nachholung der Erhebung und/oder Begründung der Verfassungsbeschwerde umfassend auf die Fristversäumung und die eine Wiedereinsetzung rechtfertigenden Umstände eingeht (vgl. Hömig, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 93 Rn. 62 m.w.N. <Jan. 2022>; Peters, in: Barzcak, Mitarbeiterkommentar zum BVerfGG, § 93 Rn. 104 <2018>).bb) Das Schreiben der Verfahrensbevollmächtigten der Beschwerdeführerin vom 20. Dezember 2022 enthält weder einen ausdrücklichen Wiedereinsetzungsantrag noch kann es als solcher ausgelegt werden. Es heißt dort:

„Wir bedauern, dass eine vollständige Übermittlung zum Zeitpunkt des Einreichens nicht zustande kam. Diesseits werden Faxe als sogenanntes Digi-Fax übermittelt, d.h. es ist uns nicht möglich, nur Teile zu übersenden, sondern es wird der insgesamt eingescannte Schriftsatz als PDF übermittelt.“

Abgesehen davon, dass diese Erklärung so nicht zutreffen dürfte (dazu Rn. 12), fehlt es an jeglicher Glaubhaftmachung des Wiedereinsetzungsgrundes, nämlich der schuldlosen Fristversäumnis. Dem Schreiben lässt sich nicht einmal entnehmen, dass die Verfahrensbevollmächtigte trotz des zutreffenden Hinweises des Allgemeinen Registers vom 6. Dezembers 2022 auf die Säumnis von einer solchen ausgegangen ist.

b) Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von Amts wegen nach § 93 2 Satz 4 Halbsatz 2 BVerfGG liegen nicht vor.

aa) Diese ist zu gewähren, wenn außer dem Antrag alle übrigen Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vorliegen. Von der Obliegenheit, innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist die für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand relevanten Tatsachen vorzutragen und sie – dies gegebenenfalls auch noch nachträglich nach Ablauf der Frist – glaubhaft zu machen, entbindet § 93 2 Satz 4 Halbsatz 2 BVerfGG nicht. Darüber hinaus kommt eine Wiedereinsetzung von Amts wegen nur in Betracht, wenn die Schuldlosigkeit des Beschwerdeführers an der Nichtwahrung der Monatsfrist jedenfalls überwiegend wahrscheinlich ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. April 1999 – 2 BvR 299/94 -, Rn. 6).

bb) Diese Voraussetzungen sind nicht gegeben.

(1) Hier fehlt es bereits an einer den gesetzlichen Anforderungen genügenden Nachholung der versäumten Prozesshandlung nach § 93 Abs. 2 Satz 4 Halbsatz 1 BVerfGG binnen der Zwei-Wochen-Frist des § 93 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG. Die am 21. Dezember 2022 auf dem Postweg eingegangene Verfassungsbeschwerde genügt nicht den aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG folgenden Anforderungen. Richtet sich eine Verfassungsbeschwerde – wie hier – gegen gerichtliche Entscheidungen, so zählt zu den Anforderungen an die hinreichende Begründung auch die Vorlage der angegriffenen Entscheidungen und derjenigen Schriftstücke, ohne deren Kenntnis die Berechtigung der geltend gemachten Rügen sich nicht beurteilen lässt, zumindest aber deren Wiedergabe ihrem wesentlichen Inhalt nach, da das Bundesverfassungsgericht nur so in die Lage versetzt wird, zu beurteilen, ob die Entscheidungen mit dem Grundgesetz in Einklang stehen (vgl. BVerfGE 112, 304 <314 f.>; 129, 269 <278>). Vorliegend hat es die Beschwerdeführerin versäumt, den Schriftverkehr mit den Fachgerichten und das Protokoll der mündlichen Verhandlung vor dem Oberlandesgericht vorzulegen. Die Kenntnis dieser Unterlagen ist für die verfassungsrechtliche Überprüfung der angegriffenen Entscheidung unerlässlich, weil sich das Oberlandesgericht in seiner Begründung maßgeblich auf die Aussagen der Beschwerdeführerin und ihres früheren Ehemannes in ihren Schriftsätzen und in der Anhörung vom 4. Oktober 2022 stützt. Mangels Vorlage oder hinreichend präziser Wiedergabe der Dokumente lässt sich nicht nachvollziehen, ob die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts vom 21. Oktober 2022 den aus Art. 2 Abs. 1 GG sowie aus Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 GG folgenden Anforderungen gerecht wird. Die Möglichkeit einer Verletzung der Beschwerdeführerin in Grundrechten liegt auf der Grundlage der übersandten Unterlagen auch nicht derart auf der Hand (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. Dezember 2019 – 1 BvR 2214/19 -, Rn. 13 m.w.N.), dass auf die weiteren Unterlagen verzichtet werden könnte.

(2) Vor allem aber ist es nicht überwiegend wahrscheinlich, dass die Beschwerdeführerin, die sich das Verhalten ihrer Verfahrensbevollmächtigten zurechnen lassen muss (§ 93 Abs. 2 Satz 6 BVerfGG), schuldlos die Einhaltung der Einlegungs- und Begründungsfrist aus § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG versäumt hat.

(a) Die Verfahrensbevollmächtigte hat aufgrund des ihr erteilten Auftrags, eigenverantwortlich Verfassungsbeschwerde einzulegen, alles ihr Zumutbare zu tun und zu veranlassen, damit die Einlegungsfrist und die sonstigen Anforderungen an die Erhebung der Verfassungsbeschwerde gewahrt werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. April 1999 – 2 BvR 299/94 -, Rn. 8). Die Bevollmächtigte hat eigenständig die Beschwerdefrist zu ermitteln und dafür zu sorgen, dass die Verfassungsbeschwerde rechtzeitig zur Wahrung der Beschwerdefrist an das Bundesverfassungsgericht übermittelt wird (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Juli 2001 – 2 BvR 128/00 -, Rn. 5). Bei Übermittlung der Verfassungsbeschwerde per Telefax umfassen die Sorgfaltspflichten die Überprüfung der ordnungsgemäßen und vollständigen Versendung des Telefaxes anhand des ausgedruckten Sendeprotokolls des Faxgerätes (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 30. Mai 2007 – 1 BvR 756/07 -, Rn. 3). Wird eine solche End- und Ausgangskontrolle anhand des Sendeprotokolls unterlassen und damit die fehlerhafte Übertragung übersehen, liegt eine Sorgfaltspflichtverletzung vor, weil die mögliche Wiederholung der Übermittlung vereitelt wird (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 23. Oktober 2008 – 1 BvR 2147/08 -, Rn. 3; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 21. Oktober 2021 – 1 BvR 838/19 -, Rn. 5).

(b) Diesen Sorgfaltsanforderungen ist die Verfahrensbevollmächtigte der Beschwerdeführerin nicht gerecht geworden. Ausweislich der jeweils letzten Seiten der verschiedenen Anschreiben bei der Übermittlung der Verfassungsbeschwerde am 28. November 2022 bekam die Verfahrensbevollmächtigte der Beschwerdeführerin dreimal eine Fehlermeldung, dass die vollständige Übersendung gescheitert ist (näher Rn. 12). Auch ergibt sich aus dem Sendungsbericht des Faxgeräts in der Kopfzeile der Dokumente, dass jeweils nur die vier Seiten des Anschreibens versendet wurden. Die Verfahrensbevollmächtigte hätte im Hinblick auf diese Fehlermeldungen bei sorgfaltsgemäßem Verhalten – möglicherweise nach telefonischer Nachfrage, ob tatsächlich und, wenn ja, welche Teile genau fehlen – einen neuen Übermittlungsversuch per Fax starten müssen. Eine solche Ausgangskontrolle hat – obwohl erforderlich – offenbar nicht stattgefunden. Da sich auch aus dem Schreiben vom 20. Dezember 2022 keinerlei Anhaltspunkte ergeben, die auf eine unverschuldete Fristversäumnis schließen ließen, kann vorliegend nicht von einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit eines fehlenden Verschuldens ausgegangen werden.“

Nicht angenommene VB und Auslagenerstattung, oder: Es bleibt beim Mindestgegenstandswert

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Im zweiten Posting dann etwas vom BVerfG, und zwar der BVerfG, Beschl. v. 30.03.2023 – 3. März 2023 – 2 BvR 1810/22.

In dem Beschluss hat das BVerfG über die Verfassungsbeschwerde gegen ein amtsgerichtliches Strafurteil entschieden. Gerügt worden war, dass ein gestellter Adhäsionsantrag übergangen worden sei. Es ist ein Verstoß gegen das allgemeine Willkürverbot, den Justizgewährungsanspruch und den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs geltend gemacht worden.

„Gestritten“ worden ist um die Frage der Erschöpfung des Rechtsweges, nämlich darum, ob eine Anhörungsrüge zu erheben ist/war. Das BVerfG hat die Frage bejaht, die Verfassungsbeschwerde aber nicht zur Entscheidung angenommen, weil über die nach seiner Ansicht erhobene Anhörungsrüge vom AG noch zu entscheiden sei. Inoweit verweise ich auf den verlinkten Volltext. Dazu hier nur der Leitsatz:

1. Wird mit der Verfassungsbeschwerde – gegebenenfalls lediglich der Sache nach – eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend gemacht, so gehört eine Anhörungsrüge an das Fachgericht zu dem Rechtsweg, von dessen Erschöpfung die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gemäß § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG regelmäßig abhängig ist. Etwas anderes gilt (nur), wenn das Anhörungsrügeverfahren offensichtlich aussichtslos ist.

2. Eine Anhörungsrüge ist ausnahmsweise auch statthaft, wenn das Gericht eine ausdrückliche Absehensentscheidung irrtümlich im Rahmen des Strafurteils, statt, wie vorgesehen, durch Beschluss, trifft oder den Adhäsionsantrag stillschweigend übergangen hat.

Und dann zum hier interessierenden gebührenrechtlichen Teil:

„1. Das Land Rheinland-Pfalz hat die Auslagen der Beschwerdeführerin im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu tragen.

Nach § 34a Abs. 3 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht die volle oder teilweise Erstattung von Auslagen auch dann anordnen, wenn die Verfassungsbeschwerde erfolglos geblieben ist. Dies gilt auch, wenn sie, wie hier, nicht zur Entscheidung angenommen wurde (vgl. BVerfGE 36, 89 <92>; BVerfGK 7, 283 <302 f.>). Die Anordnung der Auslagenerstattung steht im Ermessen des Gerichts und setzt voraus, dass besondere Billigkeitsgründe vorgetragen oder ersichtlich sind (stRspr; vgl. BVerfGE 7, 75 <77>; 20, 119 <133 f.>; 85, 109 <114 ff.>; 87, 394 <397 f.>; 89, 91 <97>; 133, 37 <38 f. Rn. 2>).

Die Auslagenerstattung wird angeordnet, da in der Sache ein Verfassungsverstoß gegeben sein dürfte und die Verfassungsbeschwerde lediglich aus prozessualen Gründen, die für die Beschwerdeführerin nur schwer antizipierbar waren, nicht zur Entscheidung angenommen werden kann. Ob eine Anhörungsrüge statthaft und als Teil des Rechtsweges anzusehen ist, ist in der vorliegenden Fallkonstellation durchaus problematisch; die Kommentarliteratur schweigt zu dieser Frage.

2. Der Antrag der Beschwerdeführerin auf Festsetzung des Gegenstandswerts wird verworfen, da ein Rechtsschutzbedürfnis hierfür nicht besteht. Gemäß § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG beträgt der Mindestgegenstandswert im Verfahren der Verfassungsbeschwerde 5.000 Euro. Ein höherer Gegenstandswert kommt in Fällen, in denen eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen oder zurückgenommen worden ist, regelmäßig nicht in Betracht (vgl. BVerfGE 79, 365 <369>). Umstände, die hier ausnahmsweise einen höheren Gegenstandswert rechtfertigen könnten, sind nicht ersichtlich. Ist deshalb vom Mindestgegenstandswert auszugehen, so besteht für die gerichtliche Festsetzung des Gegenstandswerts kein Rechtsschutzbedürfnis (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 28. Oktober 2018 – 1 BvR 700/18 -, Rn. 4 f.; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 28. Oktober 2019 – 2 BvR 962/19 -, juris, Rn. 4 f.).“