Der Kollege Deutscher weist mich heute morgen gerade auf den OLG Karlsruhe, Beschl. v.- 16.07.2019 – 1 Rb 10 Ss 291/19 – hin. Thematik: Akteneinsicht bzw. Zurverfügungstellen der Messunterlagen. Dazu haben wir obergerichtlich länger nichts mehr gehört. Um so schöne – und auch richtiger – dann der OLG-Beschluss, in dem das OLG ein aus dem dem Gebot des fairen Verfahrens (Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK) folgendes Recht des Betroffenen auf Zurverfügungstellung der nicht bei den Akten befindlichen amtlichen Messunterlagen durch die Verwaltungsbehörde bejaht:
„b) Vorliegend wurde die Verteidigung durch den Beschluss, mit dem der Aussetzungsantrages formelhaft zurückgewiesen wurde, rechtfehlerhaft beschränkt, da der Betroffene ein Recht auf Einsicht in die nicht bei den Akten befindlichen amtlichen Messunterlagen hat, die er für die Prüfung des Tatvorwurfs benötigt.
Ein solcher Anspruch ergibt sich – auch beim standardisierten Messverfahren – aus dem Gebot des fairen Verfahrens. Dieses folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip (vgl. Art 20 Abs. 3 GG) i. V. m. dem allgemeinen Freiheitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 GG (vgl. BVerfG NJW 1984, 2403) sowie aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK (vgl. Fischer, KK-StPO, 8. Aufl. 2019, Einl. Rn. 111 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, Einl. Rn. 19; § 338 Rn. 59, jeweils mwN). Aus dem Gebot ergibt sich, dass ein Beschuldigter oder Betroffener nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein darf, sondern ihm die Möglichkeit gegeben werden muss, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen (vgl. BVerfG NJW 1969, 1423, 1424; NJW 1984, 2403). Das Recht auf ein faires Verfahren enthält indessen keine in allen Einzelheiten bestimmten Gebote und Verbote. Es zu konkretisieren, ist zunächst Aufgabe des Gesetzgebers und sodann, in den vom Gesetz gezogenen Grenzen, Pflicht der zuständigen Gerichte bei der ihnen obliegenden Rechtsauslegung und -anwendung. Erst wenn sich unter Berücksichtigung aller Umstände und nicht zuletzt der im Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes selbst angelegten Gegenläufigkeiten eindeutig ergibt, dass rechtsstaatlich unverzichtbare Erfordernisse nicht mehr gewahrt sind, können aus dem Gebot der Rechtsstaatlichkeit selbst konkrete Folgerungen für die Ausgestaltung des Verfahrens gezogen werden (vgl. BVerfGE 57, 250, 275 f.; BVerfGE 63, 45, 61; OLG Düsseldorf NZV 2016, 140; Fischer, aaO, mwN).
Aus dem Gebot des fairen Verfahrens kann sich nach herrschender Auffassung auch ein Recht auf Einsicht in Akten, Daten o. a. ergeben, welches über das Recht auf Akteneinsicht aus § 147 StPO hinausgeht (BVerfGE 63, 45 [67] = NStZ 1983, 273, mit Anmerkung Peters; Fischer, aaO, insbes. Rn. 116; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, insbes. § 147 Rn. 18, 19 und 19c). Nach Art. 6 Abs. 3a MRK hat jede angeklagte Person mindestens das Recht, innerhalb möglichst kurzer Frist in einer verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden. Dabei wendet sich das Gebot einer rechtsstaatlichen, insbesondere auch fairen Verfahrensgestaltung nicht nur an die Gerichte, sondern ist auch von allen anderen staatlichen Organen zu beachten, die auf den Gang eines Straf- oder Bußgeldverfahrens Einfluss nehmen, demgemäß auch von der Exekutive, soweit sie sich rechtlich gehalten sieht, bestimmte Beweismittel nicht freizugeben. Die Zurückhaltung von Beweismitteln kann für die Verteidigung trotz formaler Wahrung aller prozessualen Rechte zu erheblichen Nachteilen führen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26.05.1981 – 2 BvR 215/81 = NJW 1981, 1719, zur Unbedenklichkeit des „Zeugen vom Hörensagen“).
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat eine derartige Auswirkung des Verhaltens der Exekutive auf das Strafverfahren nur Bestand, wenn die Einwirkungsmöglichkeiten in einer mit rechtsstaatlichen Grundsätzen übereinstimmenden Weise gehandhabt und der eigenen Beurteilung durch das Gericht nicht weiter entzogen werden, als dies zur Wahrung verfassungsrechtlich geschützter Belange unumgänglich ist (BVerfG, aaO).
Bezogen auf das Bußgeldverfahren wird auf dieser Grundlage die – vom Senat geteilte – überwiegende Ansicht vertreten, dass ein Betroffener danach, insbesondere auch wegen der zu garantierenden „Parität des Wissens“ bzw. der „Waffengleichheit“, gegenüber der Verwaltungsbehörde verlangen kann, dass er Einsicht in die nicht bei den Akten befindlichen (existierenden weiteren) amtlichen, zur Überprüfung der Messung erforderlichen Messunterlagen nehmen kann, um diese mit Hilfe eines privaten Sachverständigen auswerten und auf mögliche Messfehler hin überprüfen zu können, ohne dass bereits konkrete Anhaltspunkte für Messfehler vorliegen oder vom Betroffenen vorgetragen worden sind.
Denn der Betroffene bzw. seine Verteidigung wird ohne Kenntnis aller Informationen, die den Verfolgungsbehörden zur Verfügung stehen, nicht beurteilen können, ob Beweisanträge gestellt oder Beweismittel vorgelegt werden sollen. Das Informations- und Einsichtsrecht des Verteidigers kann daher deutlich weiter gehen als die Amtsaufklärung des Gerichts. Solche weitreichenden Befugnisse stehen dem Verteidiger im Vorfeld der Hauptverhandlung auch und gerade bei standardisierten Messverfahren zu. Denn zum einen gibt es keinen Erfahrungssatz, dass ein standardisiertes Messverfahren unter allen Umständen zuverlässige Ergebnisse liefert (so schon BGHSt 39, 291 = NStZ 1993, 592) und zum anderen hat der Betroffene einen Anspruch darauf, nur aufgrund ordnungsgemäß gewonnener Messdaten verurteilt zu werden, wobei der Anspruch des Betroffenen auf Herausgabe der nicht bei den Akten befindlichen, jedoch existierenden amtlichen Messunterlagen zur umfassenden Überprüfung der Messung – neben dem Gebot des fairen Verfahrens – teilweise auch aus dem Gebot des rechtlichen Gehörs abgeleitet wird (vgl. insbesondere OLG Karlsruhe, Beschluss vom 12.01.2018 – 2 Rb 8 Ss 839/17 = ZfSch 2018, 471, Beschluss vom 03.04.2019 – 2 Rb 8 Ss 194/19 -, juris, und Beschluss vom 08.05.2019 – 2 Rb 7 Ss 202/19 -, juris, jeweils mwN; KG Berlin, Beschluss vom 27.04.2018 – 3 Ws (B) 133/18 = ZfSch 2018, 472, mwN; Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, Beschluss vom 24.02.2016 – Ss (Bs) 6/2016 (4/16 OWi) = Verkehrsrecht aktuell 2016, 103; OLG Celle, Beschluss vom 16.06.2016 – 1 Ss (OWi) 96/16 -, juris = StRR 2016, Nr. 8, 18; OLG Oldenburg, Beschluss vom 13.3.2017– 2 Ss [OWi] 40/17 = NZV 2017, 392; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 8.9.2016 – 53 Ss-OWi 343/16 = StraFo 2017, 31; Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 1.3.2016 – 2 OLG 101 Ss Rs 131/15= NStZ-RR 2016, 186; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22.07.2015 – 2 Rbs 63/15 = NZV 2016, 140; Verfassungsgerichtshof des Saarlandes, Beschluss vom 27.04.2018 – Lv 1/18 = DAR 2018, 557, vgl. dazu Entscheidungsbesprechung von Cierniak/Niehaus, DAR 2018, 541, mwN; Krenberger, NZV 2018, 282, und ZfSch 2018, 472; Wendt, NZV 2018, 441; Deutscher, DAR 2017, 723). Weit überwiegend bejaht wird der Anspruch auf Einsicht in nicht bei den Akten befindliche Messunterlagen auch in den veröffentlichen Entscheidungen im Vorverfahren gem. § 62 OWiG (vgl. LG Ellwangen, DAR 2011, 418; LG Dessau-Roßlau, Beschluss vom 24.08.2012 – 6 Qs 593 Js 3917/12 -, juris; LG Neubrandenburg, Beschluss vom 30.09.2015 – 82 Qs 112/15 -, juris; LG Trier, Beschluss vom 14.09.2017 – 1 Qs 46/17 -, juris; LG Baden-Baden, Beschluss vom 14.09.2018 – 2 Qs 104/18 -, juris, das zudem darauf hinweist, dass dem Schutzinteresse der von einer Messreihe erfassten anderen Verkehrsteilnehmer durch Anonymisierung ihrer Daten Rechnung getragen werden kann; AG Kassel, Beschluss vom 23.12.2015 – 381 OWi 315/15 -, juris; AG Völklingen, Beschluss vom 13.07.2016 – 6 Gs 49/16 -, juris, das zutreffend darauf hinweist, dass bei einer Herausgabe nicht bei den Akten befindlicher Messunterlagen und Messdaten an den Verteidiger und einen vom Verteidiger beauftragten Sachverständigen datenschutzrechtliche Bedenken nicht entgegenstehen [vgl. dazu auch BGHSt 52, 58 = NStZ 2008, 104]; AG Neunkirchen, Beschluss vom 05.09.2016 – 19 OWi 531/15 -, juris; AG Hannover, Beschluss vom 28.11.2017 – 214 OWi 298/17 -, juris; AG Bitburg, Beschluss vom 27.06.2018 – 3 OWi 66/18; vgl. auch die inzwischen herrschende Meinung in der Literatur: Grube in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl. 2016, OWiG – Bezüge zum Straßenverkehrsrecht Rn. 64; Helle in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl. 2016, § 3 StVO Rn. 58; Leitmeier, NJW 2016, 1457; Reisert, ZfS 2017, 244; Cierniak, ZfS 2012, 664; Cierniak/Niehaus, NStZ 2014, 526; und Cierniak/Niehaus, DAR 2018, 451, die zusammenfassend pointiert darauf hinweisen: „Der Betroffene ist im Rechtsstaat nicht gezwungen, die Ergebnisse der Verwendung standardisierter Messverfahren hinzunehmen („black box“), ohne die Gelegenheit dazu zu haben, die Grundlagen dieser Messung zu kennen und ggf. überprüfen zu lassen… Ob der damit für den Betroffenen (oder dessen Rechtschutzversicherung) verbundene Kostenaufwand als „sinnvoll“ erscheint, ist eine Frage, deren Beantwortung nicht den Gerichten obliegt“).
Soweit das Oberlandesgericht Bamberg einen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens bzw. Verstoß gegen das rechtliche Gehör bezogen auf die Ablehnung des in der Hauptverhandlung gestellten Beweisermittlungsantrags auf Beiziehung von außerhalb der Akte befindlichen Unterlagen verneint, sind die Sachverhalte nicht vergleichbar, da sich aus diesen Entscheidungen nicht ergibt, dass schon vor der Hauptverhandlung gegenüber der Verwaltungsbehörde und dem Gericht Anträge auf Aushändigung bzw. Einsicht gestellt und negativ beschieden wurden (OLG Bamberg, Beschluss vom 13.06.2018 – 3 Ss OWi 626/18 = NStZ 2018, 724; und Beschluss vom 04.10.2017 – 3 Ss 1232/17 = NZV 2018, 80, jeweils mwN; ebenfalls dieser Auffassung OLG Oldenburg, Beschluss vom 23.07.2018 – 2 Ss (OWi) 197/18 = VRR 2018, Nr. 9, 18-19; AG München, Beschluss vom 16.08.2018 – 953 OWi 155/18 -, juris).
Nach Ansicht des Senats wird die Verteidigung jedenfalls dann unzulässig beschränkt (§§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 338 Nr. 8 StPO), wenn der Betroffene schon bei der Verwaltungsbehörde und sodann vor dem Amtsgericht gemäß § 62 OWiG Antrag auf Einsicht in die nicht bei den Akten befindlichen weiteren amtlichen Messunterlagen erfolglos gestellt hat und sein erneuter, in der Hauptverhandlung gestellter und darauf gerichteter Einsichts- und Aussetzungsantrag durch Beschluss zurückgewiesen wurde und zudem nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Urteil auf diesem Rechtsfehler beruht oder beruhen kann.
Dies ist vorliegend – im Hinblick auf die im Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 27.09.2018 begehrten Unterlagen (gesamte Messreihe und Leitrechnerprotokoll/Verkehrsrechnermitschrieb der Rotlichtüberwachungsanlage) – schon deshalb anzunehmen, weil es keinen Erfahrungssatz gibt, dass ein standardisiertes Messverfahren stets zuverlässige Ergebnisse liefert (KG Berlin, Beschluss vom 27.04.2018 – 3 Ws (B) 133/18 = ZfSch 2018, 472 mwN; vgl. schon BGHSt 28, 235, wonach kein Erfahrungssatz besteht, dass die gebräuchlichen Geschwindigkeitsmessgeräte unter allen Umständen zuverlässige Ergebnisse liefern und der Hinweis, dass die Gerichte vor möglichen Gerätemängeln, Bedienungsfehlern und systemimmanenten Messungenauigkeiten – auch bei Messergebnissen, die mit anerkannten Geräten in einem weithin standardisierten und tagtäglich praktizierten Verfahren gewonnen wurden – nicht die Augen verschließen dürfen).“
Schöne Entscheidung. Sehr schön wäre sie, wenn das OLG die Frage dann endlich an den BGH herangetragen = dem BGH vorgelegt hätte. Dass man das nicht muss, wird wortreich begründet. Warum scheut man das eigentlich?
Aber der Verwaltungsbehörde gibt man mit auf den Weg:
„Die Sicherung des in allen Abschnitten des Bußgeldverfahrens zu beachtenden Fairnessgebots obliegt nicht nur bzw. erst Staatsanwaltschaft und Gericht, sondern zunächst der Bußgeldbehörde, die gehalten ist, dem Betroffenen (bzw. dem Verteidiger oder einem von diesem beauftragten Sachverständigen) die zur Überprüfung des Messergebnisses notwendigen Unterlagen frühzeitig zur Verfügung zu stellen.“