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Haft I: Beschleunigung auch nach dem Urteil, oder: Wenn es u.a. beim BGH hakt

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Schon etwas länger schlummern in meinem Blogordner einige Entscheidungen zur (Untersuchungs)Haft, die ich heute vorstellen werde.

Ich eröffne mit dem OLG Brandenburg, Beschl. v. 03.01.2019 – 1 Ws 203/18, der auf die Haftbeschwerde eines Angeklagten ergangen ist. Dem wird ein im Jahr 2014 angeblich begangener Brandanschlag zur Last gelegt. Der Angeklagte befand sich seit seit zwei Jahren und zehn Monaten ununterbrochen in Untersuchungshaft. Das OLG hat den Haftbefehl auf die Beschwerde des Angeklagten aufgehoben. Begründung: Mehrere vermeidbare Verfahrensverzögerungen durch die Justiz, die sich in ihrer Summe auf über sechs Monate belaufen haben.

Ich sehe hier mal von der Darstellung des Verfahrensgangs ab und stelle nur die Begründung des OLG zur Unverhältnismäßigkeit der weiteren Fortdauer der U-Haft und zu den eingetretenen Verfahrensverzögerungen ein – Rest bitte bitte selbst lesen:

„3. Die Fortdauer der Untersuchungshaft erweist sich jedoch infolge vermeidbarer, dem Angeklagten nicht zuzurechnender Verfahrensverzögerungen, die in einer Gesamtschau des Verfahrens nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils mit dem Recht des Angeklagten auf Beachtung des im rechtsstaatlichen Verfahren verankerten Beschleunigungsgebots nicht mehr vereinbar sind, als unverhältnismäßig……

b) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe verkennt der Senat nicht, dass das Ermittlungsverfahren zügig geführt wurde. Da das Verfahren gegen 15 Beschuldigte geführt worden ist, in erheblichem Umfang gegen sechs Beschuldigte Telefonüberwachungsmaßnahmen und bei neun Beschuldigten Hausdurchsuchungen durchgeführt wurden, Mobiltelefone von fünf Beschuldigten und Personalcomputer von sieben Beschuldigten beschlagnahmt und ausgewertet werden mussten, ist die Anklageerhebung weniger als fünf Monate nach der Inhaftierung des Angeklagten S. nicht zu beanstanden. Auch haben die – gerichtsbekannt hochbelastete – 1. große Strafkammer des Landgerichts Potsdam das Hauptverfahren vom 24. November 2016 bis zum 9. Februar 2017 und die ebenso stark belastete 5. große Strafkammer des Landgerichts Potsdam seit dem 10. Oktober 2018 die Hauptverhandlung stringent und zügig geführt, dabei an einzelnen Sitzungstagen sogar bis nach 18 Uhr verhandelt.

Dennoch kam es zu erheblichen Verfahrensverzögerungen sowohl beim Landgericht Potsdam als auch beim Bundesgerichtshof, die nicht nachvollziehbar und daher der Justiz zuzurechnen und mit dem Gebot der Verfahrensbeschleunigung in Haftsachen nicht mehr vereinbar sind.

c) Das Verfahren nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils, nachdem der Angeklagte S. bereits knapp ein Jahr Untersuchungshaft verbüßt hatte, ist nicht in einer Weise gefördert worden, die den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Vorgaben gerecht wird. Die nach Urteilserlass entstandenen Verfahrensverzögerungen verstoßen gegen das im Rechtsstaatsprinzip verankerte Beschleunigungsgebot in Haftsachen.

aa) Mit dem verfassungsrechtlich zu beachtenden Beschleunigungsgebot ist es vorliegend unvereinbar, dass das Hauptverhandlungsprotokoll erst am 7. Juli 2018 fertiggestellt wurde und Urteil und Protokoll erst am 8. August 2018 bei den Verteidigern eingegangen sind.

Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt nämlich auch, dass die Erstellung eines kompletten Hauptverhandlungsprotokolls im unmittelbaren Anschluss an die Hauptverhandlung und damit parallel zur Erstellung der Urteilsgründe erfolgt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Dezember 2005, 2 BvR 2057/05, StV 2006, 81, bei juris Rn 70; OLG Nürnberg, Beschluss vom 28. September 2018, 2 Ws 645/18, BeckRS 2018, 25539).

Bei Beachtung dieser Vorgaben und des Umstandes, dass sich der Angeklagte zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung seit elf Monaten in Untersuchungshaft befand, ist das Verfahren zu diesem Zeitpunkt dadurch erheblich verzögert worden, dass die Fertigstellung des Hauptverhandlungsprotokolls nicht zeitnah zur Urteilserstellung erfolgt ist. Vom Tag der Urteilsverkündung am 9. Februar 2017 bis zur Fertigstellung des Protokolls am 7. Juli 2017 vergingen fünf Monate. Selbst ab dem 12. April 2017, dem Zeitpunkt, an dem das Urteil zur Geschäftsstelle gelangt ist, dauerte die Fertigstellung des Protokolls, die gemäß § 273 Abs. 4 StPO Voraussetzung für die Wirksamkeit der Urteilszustellung ist, knapp drei Monate. Vom Tag der Fertigstellung des Urteils bis zur Zustellung des Urteils und des Protokolls an die Verteidiger vergingen insgesamt drei Monate und 26 Tage. Der Fortgang des Revisionsverfahrens hat sich durch die verspätete Fertigstellung des Protokolls erheblich verzögert. Die Revisionsbegründungsfrist hat nämlich gemäß § 345 Abs. 1 Satz 2 StPO erst mit der Zustellung des Urteils an die Verteidiger zu laufen begonnen.

Die verspätete Fertigstellung des Protokolls war sachlich nicht gerechtfertigt und vermeidbar. Die Hauptverhandlung erstreckte sich über einen Zeitraum von zweieinhalb Monaten mit 13 Hauptverhandlungstagen, wobei das Protokoll der Hauptverhandlung keinen außergewöhnlichen Umfang erreichte. Es hat lediglich einen Umfang von 165 Seiten nebst Anlagen. Für die Prüfung und Korrektur des Protokolls stand mit dem über zweimonatigen Zeitraum vom 9. Februar 2018 bis zum 12. April 2018 ausreichend Zeit zur Verfügung. Die Fertigstellung des Hauptverhandlungsprotokolls hätte somit durchaus im unmittelbaren Anschluss an die Hauptverhandlung und damit parallel zur Erstellung der Urteilsgründe erfolgen können. Durch die gebotene zügige Vorgehensweise wäre eine Verfahrensverzögerung von knapp drei Monaten (12. April 2018 bis 7. Juli 2018) vermieden worden.

Eine weitere Verzögerung ist dadurch eingetreten, dass der Kammervorsitzende am 10. Juli 2018 die förmliche Zustellung des Urteils und des Hauptverhandlungsprotokolls verfügte, die jedoch durch die Geschäftsstelle erst am 4. August 2018 ausgeführt worden ist, ohne dass Gründe für diese späte Erledigung ersichtlich sind. Unter Berücksichtigung der üblichen Bearbeitungszeit von drei Tagen ergibt sich hierdurch eine weitere Verzögerung von drei Wochen.

Die eingetretene Verzögerung von insgesamt über dreieinhalb Monaten kann nicht mit der auch dem Senat bekannten außerordentlichen Belastung der 1. großen Strafkammer (Staatsschutzkammer) des Landgerichts Potsdam gerechtfertigt werden. Die Überlastung der Strafkammer ist allein der Sphäre des Gerichts und nicht der des Angeklagten zuzurechnen (vgl. OLG Nürnberg, a.a.O.). Der hohe Geschäftsanfall ist nicht unvorhersehbar kurzfristig eingetreten und nur von vorübergehender Dauer. Darauf lässt bereits die Tatsache, dass im ersten Halbjahr 2018 von derselben Kammer acht Schwurgerichtssachen aus dem Jahre 2017 verhandelt wurden, schließen. Die Sicherstellung einer beschleunigten Bearbeitung von Haftsachen hätte rechtzeitig durch geeignete gerichtsorganisatorische Maßnahmen der Justiz erfolgen müssen.

bb) Eine weitere Verfahrensverzögerung ist darin zu sehen, dass die Staatsanwaltschaft unter dem Datum des 5. Oktober 2017 die Revisionsgegenerklärung nach § 347 Abs. 1 Satz 2 StPO abgegeben, die Übersendung der Akten an den Bundesgerichtshof jedoch erst am 1. November 2017 verfügt hat. Unter Berücksichtigung einer Frist zur Fertigung der Reinschrift von drei Tagen ergibt sich hier eine weitere vermeidbare Verfahrensverzögerung von über drei Wochen.

cc) Auch der zeitliche Ablauf im Geschäftsbereich des Bundesgerichthofs entspricht nicht in jeder Hinsicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Zügigkeit des Verfahrens in Haftsachen.

Das Bundesverfassungsgericht hat zwar festgestellt, dass es von Verfassung wegen grundsätzlich nicht zu beanstanden ist, die infolge der Durchführung eines Revisionsverfahrens verstrichene Zeit nicht der ermittelten Überlänge eines Verfahrens hinzuzurechnen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. Februar 2003, 2 BvR 29/03, NJW 2003, 2228; BVerfG, Beschluss vom 5. Dezember 2005, 2 BvR 1964/05, NJW 2006, 672). Ebenso unmissverständlich hat es aber auch darauf hingewiesen, dass hiervon eine Ausnahme zu machen ist, wenn das Revisionsverfahren der Korrektur eines offensichtlich der Justiz anzulastenden Verfahrensfehlers gedient hat (so ausdrücklich BVerfG, Beschluss vom 25. Juli 2003, 2 BvR 153/03, NJW 2003, 2897, 2898; ebenso BVerfG, Beschluss vom 21. Januar 2004, 2 BvR 1471/03, BVerfGK 2, 239, 251). Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht für den Fall einer Aufhebung des Urteils wegen eines der Justiz anzulastenden Verfahrensfehlers von einer Einbeziehung des infolge der Durchführung des Revisionsverfahrens verstrichenen Zeitraums aus (vgl. EGMR NJW 2002, 2856, 2857). Ein solcher Fall liegt hier vor.

Nachdem der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs durch einstimmig gefassten Beschluss (§ 349 Abs. 4 StPO) vom 6. März 2018 das Urteil des Landgerichts Potsdam vom 9. Februar 2017 hinsichtlich des Angeklagten S. wegen eines Verfahrensfehlers mit den Feststellungen aufgehoben hatte, datiert die Schlussverfügung u. a. zur Zustellung der Entscheidung und Rücksendung der Akten an die Staatsanwaltschaft Potsdam erst vom 1. Juni 2018. Die Schlussverfügung wurde zudem erst knapp zwei Wochen später, am 13. Juni 2018 ausgeführt. Der Zeitraum zwischen – zügiger – Beschlussfassung (6. März 2018) und Rücksendung der Akten (13. Juni 2018) ist nicht nachvollziehbar, dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich der Angeklagte S. zum Zeitpunkt der Beschlussfassung bereits zwei Jahre in Untersuchungshaft befand. Unter Berücksichtigung der für die Absetzung der Beschlussgründe, die (ohne Rubrum und Tenor) sieben Seiten umfassen, und der für die Erstellung der erforderlichen Ausfertigungen notwendigen Zeit liegt auch hier eine in der Sphäre der Justiz liegende und vermeidbare, mithin der Justiz anzulastende Verfahrensverzögerung von mindestens zwei Monaten (bis zur Schlussverfügung) und einer Woche (Rücksendung der Akten) vor.

dd) Die vorgenannten vermeidbaren Verfahrensverzögerungen addieren sich auf eine Gesamtzeit von mehr als sechs Monaten. Hierbei handelt es sich in der Gesamtschau um einen erheblichen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot, bei dem – wie oben dargelegt – allein die Schwere der Taten und die sich daraus ergebende Straferwartung nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft dienen können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. Juli 2014, 2 BvR 1457/14, zitiert nach juris, Rn. 21, 22). Auch infolge der zügig durchgeführten Ermittlungen und Hauptverhandlungen vor der 1. großen Strafkammer und der 5. großen Strafkammer des Landgerichts Potsdam ist nicht im Wege einer „Überbeschleunigung“ eine hinreichende Kompensation der aufgezeigten Verfahrensverzögerungen eingetreten.“

Tja, das wird man beim BGH nicht alles selbst lesen.

Was mir übrigens nicht einleuchtet: Warum macht sich das OLG die Mühe mit dem dringenden Tatverdacht und dem Haftgrund. Die Ausführungen sind m.E.überflüssig, wenn man den Haftbefehl doch auch anderen Gründen aufhebt.