Und zum Tagesschluss dann noch einen kleinen, aber feinen AG-Beschluss, und zwar der AG Tiergarten, Beschl. v. 29.09.2022 – 217c 88/22 -, den mir der Kollege Laudon aus Hamburg (ja, der von der Strafakte) geschickt hat.
Der Kollege hatte in einem Verfahren mit dem Vorwurf der sexuellen Nötigung, Vergewaltigung pp. die zuständige Richterin abgelehnt.Der Kollege hatte im ersten Termin der Hauptverhandlung noch vor Verlesung der Anklageschrift beantragt, die Öffentlichkeit von der Hauptverhandlung auszuschließen und sich dabei auf § 171b GVG berufen.
Nach Beratung hatte das Schöffengericht dann folgenden Beschluss verkündet:
„Der Antrag des Angeklagten auf Ausschließung der Öffentlichkeit wird abgelehnt
Ihm ist zuzugeben, dass ihm durch die Berichterstattung über die hiesigen Vorwürfe von Sexualstraftaten Nachteile entstehen können.
Auf der anderen Seite ist zu berücksichtigen, dass dies bei dieser Art des Verfahrens immer der Fall ist und es keinen gesetzlichen Ausschlussgrund darstellt.
Das Interesse an der öffentlichen Erörterung überwiegt hier, weil durch die vorgeworfenen Taten der Angeklagte selbst die Privatsphäre anderer (hier der Zeuginnen pp. zum Gegenstand der öffentlichen Erörterung gemacht hat.“
Zur Begründung hatte der Kollege darauf verwiesen, dass die abgelehnte Richterin die erst noch zu beweisende Tatbegehung vorausgesetzt, zum anderen § 171b StGB rechtsfehlerhaft angewendet habe. Und er hatte mit dem Antrag Erfolg:
„Der Ablehnungsantrag ist unbegründet (sic! – so im Original). Nach dem Inhalt des Ablehnungsantrags, der dienstlichen Stellungnahme der abgelehnten Richterin und der Akten im Übrigen ergibt sich für den Angeklagten — bei vernünftiger und verständiger Betrachtung auch aus dessen Perspektive —die Annahme, die abgelehnte Richterin würde ihm gegenüber eine innere Haltung einnehmen, die seine Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann.
Befangenheit ist eine innere Haltung eines Richters, die seine Neutralität, Distanz und Unparteilichkeit gegenüber den Verfahrensbeteiligten störend beeinflusst, indem sie ein persönliches, parteiliches Interesse des Richters — sei es wirtschaftlicher, ideeller, politischer oder rein persönlicher Art — am Verfahrensgang und am Ausgang des Verfahrens begründet. Es kommt für die Prüfung der Ablehnungsberechtigung grundsätzlich auf den Standpunkt des Ablehnungsberechtigten an; maßgebend ist freilich nicht dessen allein subjektiver Eindruck; vielmehr müssen vernünftige Gründe für das Ablehnungsbegehren vorliegen, die nach Maßgabe einer objektivierenden Wertung einem aus dem Blickwinkel des ablehnungsberechtigten Verfahrensbeteiligten vernünftig urteilenden Dritten einleuchten würden. „Besorgnis der Befangenheit besteht, wenn ein am Verfahren Beteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass hat, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln“; es ist ein „individuell-objektiver Maßstab“ anzulegen (Scheuten, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 8. Auflage, München 2019, § 24 Rn. 3 mit einer Vielzahl von Nachweisen aus der Rspr.).
Bei der Prüfung der Ablehnungsfrage ist zwar der Standpunkt des Angeklagten wesentlich, dieser muss aber vernünftige Gründe für sein Ablehnungsbegehren vorbringen, die jedem unbefangenen Dritten einleuchten (BGH, Urteil vom 11.09.1956, Az.; 5 StR/56, Leitsatz 2., in: JR 1956, 68, zitiert nach JURIS). Auf die Frage, ob der Richter tatsächlich parteiisch oder befangen ist, kommt es nicht an (vgl. Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO-Kommentar, 63. Auflage, München 2020, § 24 Rn. 6 und 8, m. w. N.).
Vorliegend ergibt sich die Besorgnis der Befangenheit allerdings nicht aus der möglicherweise falschen Rechtsanwendung im Sinne eines Rechtsirrtums. Denn derartige Irrtümer ließen die Besorgnis der
Befangenheit allenfalls dann zu, wenn sie abwegig oder willkürlich waren, was vorliegend nicht der Fall ist.
Die Besorgnis der Befangenheit ergibt sich vielmehr aus der Formulierung im dargestellten Beschluss, „durch die vorgeworfenen Taten“ habe „der Angeklagte selbst die Privatsphäre anderer (hier der Zeuginnen pp.) zum Gegenstand der öffentlichen Erörterung gemacht“. Diese Wortwahl lässt sich ohne viel Mühen dahingehend verstehen, dass die abgelehnte Richterin bereits davon ausgeht, der Angeklagte habe 2 Vergewaltigungen, nämlich „die vorgeworfenen Taten“, begangen. Denn wenn die abgelehnte Richterin mitteilt, der Angeklagte selbst habe die Privatsphäre anderer zum Gegenstand öffentlicher Erörterungen gemacht, dann lässt sich daraus unschwer der Schluss ziehen, dass er die Taten begangen habe. Die abgelehnte Richterin hat diesen Beschluss in der Hauptverhandlung einschließlich der Begründung verkündet und ihn sich damit zumindest nach Außen hin zu Eigen gemacht.
Selbst wenn davon auszugehen sein kann, dass die abgelehnte Richterin diesen Schluss nicht hat ziehen wollen, so muss beim Angeklagten doch der Eindruck der Befangenheit der Richterin bleiben, weil sie die Gelegenheit der dienstlichen Äußerung nicht genutzt hat, um den möglicherweise ungewollten Eindruck richtig zu stellen.“
Bitte nicht durch den Eingangssatz irritieren lassen. Das „unbegründet“ steht so im Original des Beschlusses. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, aber: Man hat offenabr beim AG Tiergarten nur Vorlagen, in denen Ablehnungsgesuche als unbegründet zurückgewiesen worden sind.
Im Übrigen: M.E. zutreffend. „Schön“ die Formulierung: „Diese Wortwahl lässt sich ohne viel Mühen ….. „