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So einfach ist das mit dem Sitzungshaftbefehl nicht, oder: Stufenverhältnis

© Orlando Florin Rosu - Fotolia.com

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Die Instanzgerichte arbeiten nicht selten gern mit dem doch recht scharfen Schwert des § 230 Abs. 2 StPO und erlassen, wenn der Angeklagte in der Hauptverhandlung ausbleibt einen „Sitzungshaftbefehl“. „Scharfes Schwert“ deshlab, weil die Voraussetzungen des § 112 StPO nicht vorliegen müssen und auch § 121 StPO nicht gilt. So war dann auch das LG Berlin bei einem Angeklagten verfahren, der bei einer sich über mehrere Hauptverhandlungstage erstreckenden Hauptverhandlung an den ersten sechs Verhandlungstagen beanstandungsfrei erschienen war, bevor er sich am 7. Tag, dem 01.06.2016, um 20 Minuten verspätete. An der Tag verhängte das LG gegen ihn ein Ordnungsgeld in Höhe von 200 €, ersatzweise vier Tage Ordnungshaft, weil er „unentschuldigt verspätet erschienen“ war. Am nächsten Hauptverhandlungstag, dem 08.06.2016, erschien der Angeklagte zu der um 9.39 Uhr begonnenen Hauptverhandlung erneut verspätet, erst um 9.50 Uhr. Am 9. Verhandlungstag, dem 20.06.2016, blieb der Angeklagte in der Hauptverhandlung aus. Das LG stellte fest, dass eine Entschuldigung für das Ausbleiben nicht vorliege, worauf der Vertreter der StA beantragte, gegen den Angeklagten Ordnungshaft zu verhängen. Die Strafkammer beschloss nach einer kurzen Unterbrechung hingegen, das Verfahren gegen den Angeklagten abzutrennen und gegen diesen einen Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO zu erlassen, weil er „wiederholt (…) unentschuldigt verspätet bzw. nicht erschienen“ sei. In dem Sitzungshaftbefehl selbst ist zur Begründung der Haftanordnung lediglich ausgeführt, dass der Beschwerdeführer zur Hauptverhandlung am 20.06.2016 unentschuldigt nicht erschienen sei. Auf die Beschwerde des Angeklagten ist dann das KG mit der Sache befasst, das im KG, Beschl. v. 19.07.2016 – 4 Ws 104/16 – aufhebt und dabei sehr schön zum Stufenverhältnis der Maßnahmen nach § 230 Abs. 2 StPO Stellung nimmt:

„aa) Ein Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO mit dem damit verbundenen Eingriff in die persönliche Freiheit darf nur dann ergehen, wenn und soweit der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters anders nicht gesichert werden kann. Er dient allein der Verfahrenssicherung in Bezug auf die (weitere) Durchführung der Hauptverhandlung und hat nicht etwa den (Selbst-)Zweck, den Ungehorsam des Angeklagten zu sanktionieren (vgl. nur Becker in LR-StPO 26. Aufl., § 230 Rn. 14 mwN; auch Senat StraFo 2007, 291 [mit Blick auf die Besonderheiten des Strafbefehlsverfahrens]; ebenso LG Essen StraFo 2010, 28).

Zwischen den in § 230 Abs. 2 StPO vorgesehenen Zwangsmitteln besteht ein Stufenverhältnis, d.h. grundsätzlich ist zunächst zwingend das mildere Mittel – nämlich die polizeiliche Vorführung – anzuordnen. Nur dies wird dem verfassungsrechtlichen Gebot gerecht, dass bei einer den Bürger belastenden Maßnahme Mittel und Zweck im angemessenen Verhältnis zueinander stehen müssen (vgl. BVerfGK 9, 406 mwN; OLG Braunschweig NdsRpfl 2012, 313). Eine Verhaftung des Angeklagten ist mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht zu vereinbaren, wenn bei verständiger Würdigung aller Umstände die Erwartung gerechtfertigt ist, dass der Angeklagte zu dem (nächsten) Hauptverhandlungstermin erfolgreich vorgeführt werden kann (vgl. Sächs. VerfGH, Beschluss vom 26. März 2015 – Vf. 26-IV-14 – [juris] mwN).

Ohne eine Vorführung versucht zu haben, ist der Erlass eines Haftbefehls nur in seltenen Ausnahmefällen verhältnismäßig; ein solcher Fall liegt etwa dann vor, wenn feststeht, dass der Angeklagte auf keinen Fall erscheinen will (vgl. Senat, Beschluss vom 29. Juni 2012 – 4 Ws 69/12 –; LG Berlin ZJJ 2014, 47). Wenn das Gericht demgegenüber sofort zum Mittel des Haftbefehls greift, muss aus seiner Entscheidung deutlich werden, dass es eine Abwägung zwischen der polizeilichen Vorführung und dem Haftbefehl vorgenommen hat. Die Gründe, warum ausnahmsweise sofort die Verhaftung des Angeklagten angeordnet worden ist, müssen tragfähig sein und in dem Beschluss in einer Weise schlüssig und nachvollziehbar aufgeführt werden, dass sie in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Gericht im Rahmen seiner Eigenkontrolle gewährleisten. Von entsprechenden Darlegungen kann nur abgesehen werden, wenn die Nachrangigkeit des Freiheitsanspruchs offen zutage liegt und sich daher von selbst versteht (vgl. Sächs. VerfGH aaO, juris-Rz. 12; s. auch LG Dresden, Beschluss vom 29. Dezember 2006 – 3 Qs 155/06 – [juris] mwN).

bb) Diesen Anforderungen wird die angefochtene Entscheidung ersichtlich nicht gerecht. Lediglich die in unbekannter Besetzung ergangene Nichtabhilfeentscheidung enthält überhaupt Ausführungen zu der hier maßgeblichen Frage. Auch diese Entscheidung vermag den Anforderungen indessen nicht zu genügen, sondern erscheint eher als Versuch, den Erlass des Haftbefehls zu rechtfertigen. Mit dem Umstand, dass die aktenkundigen zwei Verspätungen des Beschwerdeführers kein großes Ausmaß hatten, und insbesondere mit deren Folgen auf den Verfahrensgang hat sich das Landgericht nicht befasst. Nicht erkennbar ist, dass sich das Gericht am 20. Juni 2016 mit der Möglichkeit einer Vorführung auseinandergesetzt hat. Auch ist nicht ersichtlich, dass die Strafkammer – anstelle der mit erheblichen Nachteilen verbundenen Abtrennung des Verfahrens – eine nur vorübergehende Abtrennung oder eine Verfahrensweise nach § 231 Abs. 2 StPO mit dem Ziel einer Fortführung – ggf. auch erst am nächsten Verhandlungstag – nach einer Vorführung des Beschwerdeführers erwogen und weshalb es diese Möglichkeiten verworfen hat. Zu bedenken ist ferner, dass im Rahmen der Verhältnismäßigkeit auch der bei einem Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO grundsätzlich bedeutungslose Umstand Gewicht gewinnt, in welchem Umfang der Anklage der Tatverdacht gegen den Angeklagten dringend ist und mit welcher Strafe der Angeklagte konkret zu rechnen hat (vgl. KG, Beschluss vom 2. Dezember 2002 – 5 Ws 652/02 –). Mit diesen Aspekten hat sich die Strafkammer ebenfalls nicht befasst. Dies war nicht etwa entbehrlich; hier dürfte nicht besonders nahe liegen, dass der wegen des Versuchs einer Strafvereitelung angeklagte und bislang lediglich mit einer Geldstrafe belangte Angeklagte mit einer so erheblichen Bestrafung zu rechnen hat, dass eine Beschäftigung mit dem Gesichtspunkt der Straferwartung überflüssig war.“

Also: Ganz so einfach ist es mit dem „scharfen Schwert“ nicht.