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Straßenbahnnotbremsung wegen „Rotsünder-Pkw“, oder: Haftet der „Rotsünder“ für Fahrgastverletzungen?

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Die zweite Entscheidung, das LG Berlin, Urt. v. 31.03.2022 – 44 O 340/21, das mir der Kollege Säverin aus Berlin geschickt hat,  behandelt einen Fall, der in der Praxis häufiger vorkommen dürfte.

Der Entscheidung liegt folgender Sachverhalt zugrunde. Die Klägerin fährt in einer Straßenbahn der Linie M4 der Berliner Verkehrsbetriebe. Wegen eines bei Rot in eine Kreuzung einfahrenden Pkw muss die Straßenbahn scharf bis zum Stillstand bremsen. Die Klägerin behauptet, durch die Vollbremsung habe ein anderer Fahrgast das Gleichgewicht verloren und sei gegen ihr rechtes Knie gefallen, sie sei verletzt worden. Wegen der insoweit ggf. entstehenden Schäden nimmt sie sie Haftpflichtversicherung des Pkw in Anspruch und hat damit beim LG Erfolg:

„Die Verletzung der Klägerin wurde bei dem Betrieb des bei der Beklagten versicherten Pkw verursacht. Das Haftungsmerkmal „bei dem Betrieb“ ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entsprechend dem umfassenden Schutzzweck der Vorschrift weit auszulegen. Die Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG umfasst daher alle durch den Kraftfahrzeugverkehr beeinflussten Schadensabläufe. Es genügt, dass sich eine von dem Kraftfahrzeug ausgehende Gefahr ausgewirkt hat und das Schadensgeschehen in dieser Weise durch das Kraftfahrzeug mitgeprägt worden ist. Ob dies der Fall ist, muss mittels einer am Schutzzweck der Haftungsnorm orientierten wertenden Betrachtung beurteilt werden. An diesem auch im Rahmen der Gefährdungshaftung erforderlichen Zurechnungszusammenhang fehlt es, wenn die Schädigung nicht mehr eine spezifische Auswirkung derjenigen Gefahren ist, für die die Haftungsvorschrift den Verkehr schadlos halten will. Für eine Zurechnung zur Betriebsgefahr kommt es maßgeblich darauf an, dass der Unfall in einem nahen örtlichen und zeitlichen Kausalzusammenhang mit einem bestimmten Betriebsvorgang oder einer bestimmten Betriebseinrichtung des Kraftfahrzeugs steht. Allerdings hängt die Haftung gemäß § 7 StVG nicht davon ab, ob sich der Führer des im Betrieb befindlichen Kraftfahrzeugs verkehrswidrig verhalten hat, und auch nicht davon, dass es zu einer Kollision der Fahrzeuge gekommen ist. Diese weite Auslegung des Tatbestandsmerkmals „bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs“ entspricht dem weiten Schutzzweck des § 7 Abs. 1 StVG und findet darin ihre innere Rechtfertigung. Die Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG ist sozusagen der Preis dafür, dass durch die Verwendung eines Kfz – erlaubterweise – eine Gefahrenquelle eröffnet wird, und will daher alle durch den Kfz- Verkehr beeinflussten Schadensabläufe erfassen. Ein Schaden ist dem-gemäß bereits dann „bei dem Betrieb“ eines Kfz entstanden, wenn sich von einem Kfz ausge-hende Gefahren ausgewirkt haben. Allerdings reicht die bloße Anwesenheit eines im Betrieb befindlichen Kraftfahrzeugs an der Unfallstelle für eine Haftung nicht aus. Insbesondere bei einem sogenannten „Unfall ohne Berührung“ ist daher Voraussetzung für die Zurechnung des Betriebs des Kraftfahrzeugs zu einem schädigenden Ereignis, dass über seine bloße Anwesenheit an der Unfallstelle hinaus das Fahrverhalten seines Fahrers in irgendeiner Art und Weise das Fahrmanöver des Unfallgegners beeinflusst hat, mithin, dass das Kraftfahrzeug durch seine Fahrweise oder sonstige Verkehrsbeeinflussung zu der Entstehung des Schadens beigetragen hat (BGH, Urteil vom 22. November 2016 — VI ZR 533/15 —, Rn. 11 – 14, juris).

Hier ist unstreitig, dass das bei der Beklagten versicherte Fahrzeug durch seine Verkehrsbeeinflussung den Zeugen pp. zum abrupten Abbremsen der Straßenbahn veranlasste.

Der Umstand, dass die Verletzung der Klägerin durch einen stürzenden anderen Fahrgast verursacht wurde, steht der Zurechenbarkeit zum Betrieb des bei der Beklagten versicherten Fahrzeugs nicht entgegen. Dies gilt selbst dann, wenn dieser Fahrgast sich nicht ausreichend festgehalten haben sollte. Für die haftungsrechtliche Würdigung von Fallgestaltungen, in denen die Schädigung erst durch die Handlung eines Dritten eintritt, hat der Bundesgerichtshof Beurteilungsgrundsätze entwickelt. Danach kann, wenn ein Schaden zwar bei rein naturwissenschaftlicher Betrachtung mit der Handlung des Schädigers in einem kausalen Zusammenhang steht, dieser Schaden jedoch entscheidend durch ein völlig ungewöhnliches und unsachgemäßes Verhalten einer anderen Person ausgelöst worden ist, die Grenze überschritten sein, bis zu der dem Erstschädiger der Zweiteingriff und dessen Auswirkungen als haftungsausfüllender Folgeschaden seines Verhaltens zugerechnet werden können. Insoweit ist eine wertende Betrachtung geboten. Hat sich aus dieser Sicht im Zweiteingriff nicht mehr das Schadensrisiko des Ersteingriffs verwirklicht. war dieses Risiko vielmehr schon gänzlich abgeklungen und besteht deshalb zwischen beiden Eingriffen bei wertender Betrachtung nur ein „äußerlicher“. gleichsam „zufälliger“ Zusammenhang. dann kann vom Erstschädiger billigerweise nicht verlangt werden, dem Geschädigten auch für die Folgen des Zweiteingriffs einstehen zu müssen. Allein ein – auch grob fahrlässiger – Sorgfaltspflichtverstoß des hinzutretenden Dritten reicht hierfür jedoch in der Regel nicht aus (BGH, Urteil vom 26. März 2019 — VI ZR 236/18 —, Rn. 12, juris).

Hier verwirklichte sich mit dem Sturz des anderen Fahrgastes die mit dem Abbremsen der Straßenbahn typischerweise verbundene Gefahr, die wiederum durch die verkehrswidrige Fahrweise des bei der Beklagten versicherten Fahrzeugs verursacht worden war. Damit steht der Sturz des anderen Fahrgastes in einem engen inneren Zusammenhang mit dem Fahrmanöver des bei der Beklagten versicherten Fahrzeugs.

Ein Mitverschulden der Klägerin nach § 9 StVG, § 254 BGB ist nicht anzunehmen. Es wird von der insoweit darlegungs- und beweisbelasteten Beklagten nicht aufgezeigt, wie die Klägerin hätte verhindern sollen, dass ein anderer Fahrgast gegen sie fällt. Ob die Klägerin sich ausreichend festgehalten hat ist unerheblich, weil ihre Verletzung nicht dadurch verursacht wurde, dass sie selbst stürzte.“

Straßenbahnsturz: Nicht zu früh aufstehen…sonst Mitverschulden

670px-Kirchner_-_Strassenbahn_in_DresdenIn einer Dresdner Straßenbahn stürzt ein Fahrgast bei Bremsen der Bahn und verletzt sich. Er macht Schadensersatzansprüche gelten, hat damit aber beim LG und OLG Dresden keinen Erfolg. Das OLG Dresden hat ihm im OLG Dresden, Hinweisbeschl. v. 26.03.2014 – 7 U 1506/13 – geraten, seine Berufung gegen die Klageabweisung zurückzunehmen, und zwar u.a. aus folgenden Gründen:

a) Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung, der der Senat folgt, muss ein Fahrgast einer Straßenbahn damit rechnen, dass – außerhalb von Fahrfehlern – bei der Fahrt ruckartige Bewegungen des Verkehrsmittels auftreten können, die seine Standsicherheit beeinträchtigen. Er ist deshalb selbst dafür verantwortlich, dass er durch typische und zu erwartende Bewegungen einer Straßenbahn oder eines Linienbusses nicht zu Fall kommt und muss sich Halt auch gegen plötzliche Bewegungen der Straßenbahn verschaffen (vgl. OLG Dresden, Urt. v. 05.04.1995 – 12 U 63/95, juris; OLG Dresden, Urt. v. 21.02.2006 – 13 U 2195/05, juris; vgl. auch LG Dresden, Urt. v. 12.05.2010 – 4 O 3263/09, NZV 2011, 202). Der Fahrgast muss in diesem Zusammenhang durchaus auch jederzeit mit einem scharfen Bremsen des Verkehrsmittels rechnen (vgl. nur KG, Urt. v. 01.03.2010 – 12 U 95/09, MDR 2010, 1111). Dies gilt, wie der Senat aus eigener Erfahrung weiß, vor allem an Haltestellenbereichen von Großstädten, an denen es oftmals Verstöße gegen § 25 StVO gibt, auf die der Straßenbahnfahrer dann sofort, u.U. auch mit einer Notbremsung reagieren muss. Regelmäßig kann dem der Fahrgast, der mit einem solchen Manöver rechnen muss, dadurch begegnen, dass er sich sicheren Halt verschafft, soweit er nicht ohnehin einen Sitzplatz eingenommen hat. Deshalb neigt der Senat der Auffassung zu, dass in derlei Fällen regelmäßig davon auszugehen ist, dass der Beweis des ersten Anscheins für die Annahme spricht, dass der Sturz eines Fahrgastes auf mangelnde Vorsicht zurückzuführen ist (vgl. nur KG, Urt. v. 07.05.2012 – 22 U 251/11, juris; einschränkend: BGH, Urt. v. 11.05.1976 – VI ZR 170/74, VersR 1976, 932). Letztlich kommt es auf diese Frage, auf die auch das Landgericht sein Urteil nicht baut, nicht an, weil bereits nach dem unstreitigen Sachverhalt bzw. nach den vom Senat gem. § 529 ZPO zugrunde zu legenden Feststellungen ein Eigenverschulden der Klägerin hinreichend feststeht. Es ist nicht nachzuvollziehen, weshalb die Klägerin sich im konkreten Fall etwa veranlasst sehen musste, bereits 5 Sekunden vor Erreichen der Haltestelle ihren sicheren Sitzplatz aufzugeben ohne sich ausreichend abzusichern. Bereits nach den Feststellungen des Landgerichts, die die Berufung als solche auch nicht angreift, hat die Klägerin im maßgeblichen Zeitpunkt sich nicht angemessen festgehalten, um so auch auf ein plötzliches Abbremsen reagieren zu können. Vielmehr war sie kurz vor dem Unfall dem Sitz zugewandt und abgelenkt. Dass sie sich zumindest mit einer Hand festgehalten hätte, vermag auch die Berufung demgegenüber nicht zu behaupten. Dabei verkennt der Senat nicht, dass es Fahrgästen unbenommen bleibt, von ihren Sitzen aufzustehen und sich in Richtung Ausgang zu begeben. Nur muss der Fahrgast auch in diesem Fall ausreichend Eigenvorsorge betreiben und sich angemessen festhalten, zumal wenn kurz vor Erreichen eines Haltestellenbereichs mit einem u.U. auch drastischen Abbremsen ohne weiteres zu rechnen ist. Dass die Klägerin aufgrund besonderer Umstände etwa nicht in der Lage gewesen wäre sich ausreichend festzuhalten, behauptet sie nicht.

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Schließlich ist auch nicht zu beanstanden, dass das Landgericht die zulasten der Beklagten zu 1) in die Abwägung einzustellende Betriebsgefahr der Straßenbahn hinter das Eigenverschulden der Klägerin (oder genauer: die Verletzung der eigenen Obliegenheiten) hat zurücktreten lassen. Auch dies entspricht gefestigter Rechtsprechung (vgl. nur OLG Dresden, Urt. v. 21.02.2006 – 13 U 2195/05, juris; ebenso LG Dresden, Urt. v. 12.05.2010, aaO.), wobei die Rechtsprechung durchaus auch in Fällen nur leichter Fahrlässigkeit die Betriebsgefahr zurücktreten lässt (OLG Dresden, Urt. v. 21.02.2006 – 13 U 2195/05, juris). Die Rechtsprechung nimmt regelmäßig nur dann eine Quotierung vor, wenn es sich um einen atypischen Fall handelt (vgl. etwa OLG Dresden, Urt. v. 05.04.1995 – 12 U 63/95, juris: Sturz des Fahrgastes unmittelbar nach Schließen der Wagentür beim Anfahren aufgrund eines ungewöhnlichen, starken Rucks ohne vernünftigen Grund!). Im vorliegenden Fall ist nach Lage der Dinge (vgl. oben) allerdings durchaus von einem groben Eigenverschulden der Klägerin auszugehen, so dass sich ein solches Zurücktreten ohne weiteres ergibt. Dies stimmt nicht zuletzt mit der vom Senat in ständiger Rechtsprechungspraxis vertretenen Auffassung überein, wonach auch in anderen Fällen der Gefährdungshaftung (§§ 17, 7 StVG) die Betriebsgefahr gegenüber grobem Eigenverschulden zurücktreten muss.