„Zum Sterben in die JVA“ – das ist das Erste, was ich nach Lektüre des LG Kleve, Beschl. v. 04.12.2014 – 120 Qs-204 Js 500/124-112/14 – gedachte habe; hingewiesen auf den Beschluss hat mich der Kollege Garcia. Der Beschluss befasst sich mit der Verhältnismäßigkeit der (Fortdauer) der U-Haft bei einem Beschuldigten, der wegen Leber- und Lungenkrebs wohl nur noch eine Lebenserwartung von sechs Monaten hat. Das LG hat die Verhältnismäßigkeit bejaht und führt dazu aus:
„3) Die Fortdauer der Untersuchungshaft ist auch verhältnismäßig. Angesichts des dargestellten hohen Grades der Fluchtgefahr reichen mildere Maßnahmen (§ 116 StPO) nicht aus. Bei einer Mindestfreiheitsstrafe von 2 Jahren (die Annahme eines minder schweren Falles ist trotz der hohen Haftempfindlichkeit angesichts der neun – auch einschlägigen – Voreintragungen im Bundeszentralregister derzeit unwahrscheinlich) steht die bislang zweiwöchige Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis. Ein Verstoß der Ermittlungsbehörden gegen das Beschleunigungsgebot (Art 6 MRK) ist nicht ersichtlich. Es muss noch das – beschleunigt zu erstellende – Wirkstoffgutachten eingeholt werden, sodann ist – aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalles ggf. unter großzügiger Anwendung des § 154 StPO – eine baldige Anklageerhebung möglich.
Eine schwere und unheilbare Krankheit führt – selbst wenn ein Arzt den sicheren Tod in absehbarer Zeit diagnostiziert – zu keiner automatischen Haftaufhebung. Eine genaue Prognose sowohl über den Fortgang der Erkrankung als auch über die Dauer des Strafverfahrens ist unmöglich. Auch angesichts eines nahen Todes verstößt es nicht gegen die Menschenwürde (Art. 1 GG), wenn sich ein Beschuldigter für ihm vorgeworfene Straftaten verantworten muss. Ziel des Strafverfahrens ist nicht nur die Bestrafung des erkrankten Beschuldigten und auch nicht nur die Vollstreckung verhängter Freiheitsstzrafen, sondern auch das Aufklärungsinteresse der Rechtsgemeinschaft, die Verhinderung neuer Taten und die Überführung von Tatbeteiligten. Es ist daher selbst bei relativ kurzer Lebenserwartung des Beschuldigten immer im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung eine Abwägung im Einzelfall erforderlich (KK-StPO-Graf, 7. Aufl. 2013, § 112 Rn. 55; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Aufl. 2014, § 112 Rn. 11a).
Hier hat es ein hohes Gewicht, wenn – wie von der Verteidigung vorgetragen – die Lebenserwartung nur noch sechs Monate betragen sollte. Allerdings ist neben der generellen Unsicherheit solcher Prognosen zu beachten, dass der Beschuldigte weite und sicherlich mit Stress verbundene Schmuggelfahrten mit dem Pkw scheinbar eigenständig durchführen kann; auch wurde er für haftfähig befunden und inzwischen vom Justizvollzugskrankenhaus in die normale Haftanstalt zurückverlegt. Insoweit ist sicherlich das vom Verteidiger beantragte neutrale Sachverständigengutachten einzuholen, was aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung nicht im Beschwerdeverfahren zu erfolgen hat.
Neben diesen gesundheitlichen Gesichtspunkten sind aber andererseits die hohe kriminelle Energie und die besondere Gefährlichkeit der tatbetroffenen bandenmäßigen Strukturen zu beachten. Der Beschuldigte hat eingeräumt (Bl. 26, 22, 40) im Rauschgifthandel als „Berufskraftfahrer“ tätig zu sein. Im letzten halben Jahr sei er etwa 200 Mal gefahren. Er fahre Rauschgift und habe teilweise bis zu 15.000 Euro Kurierlohn in seiner Tasche gehabt. Im vorliegenden Fall seien Marokkaner aus Düsseldorf-Rath seine Auftraggeber. Für diese Auftraggeber sei es die 2. Fahrt gewesen. Die im Mobiltelefon gespeicherten Nummern 6, 7 und 14 hätten ihn öfters losgeschickt. Er sei aber auch für die „xy“ und „yx“ gefahren und habe Rauschgift nach Bielefeld, Dortmund, Köln und Frankfurt geliefert. Die Hintermänner seien „brandgefährlich“.
Ausschlaggebend für die derzeitige Verhältnismäßigkeit ist, dass zusätzlich Wiederholungsgefahr besteht. Weder lange Haftstrafen, noch die kurz zuvor schon erhaltenen hohen Kurierlöhne und auch nicht die ihm bereits zuvor bekannte ärztliche Prognose haben ihn von weiteren Rauschgiftstraftaten abgehalten. Vielmehr besteht derzeit der dringende Verdacht, dass die ärztliche Prognose beim Beschuldigten eine der Antriebsfedern für die ständige Fortsetzung der Schmuggelfahrten ist, vielleicht weil er so das Bestrafungsrisiko für geringer hält oder weil er sich so ausleben will. Der bei der Schmuggelfahrt mitgeführte Zettel („Vom Krankenhaus Bescheinigung, das Du nicht verhandlungsfähig bist“) spricht für ein bewusstes Ausnutzen der Erkrankung zur ungehinderten Begehung von Straftaten. Das Gewicht der Straftaten (Verbrechen) und die Wertigkeit der bedrohten Rechtsgüter (Volksgesundheit) sind hoch einzuschätzen.“
Man fragt sich beim Lesen: Menschenverachtend oder nicht? Sicherlich ist nicht zu verkennen, dass der Beschuldigte sich trotz seiner schweren Erkrankung als Schmuggelfahrer für Rauschgift zu betätigen scheint. Andererseits hat er offensichtlich nur noch eine Lebenserwartung von sechs Monaten, die er nun zunächst mal in der JVA verbringen muss. Ein wenig versöhnt, dass die Kammer vorsorglich darauf hinzuweist, dass Verhältnismäßigkeit nicht mehr gegeben ist, wenn dauerhafte Verhandlungsunfähigkeit vorliegt oder die Untersuchungshaft selbst zu schweren (zusätzlichen) Gesundheitsschäden führt. Fluchtgefahr und Wiederholungsgefahr wären auch erneut zu überprüfen, wenn der Beschuldigte durch objektiv überprüfbare Aufklärungshilfe die Verbindungen zu den Rauschgifthändlern unwiderruflich kappen würde. Wenn man das liest, erkennt man die m.E. wahren Gründen für die Fortdauer der U-Haft: Sie ist hier im Grunde nichts anderes als Beugehaft. Man hofft offenbar, so an die „brandgefährlichen“ Hintermänner zu kommen. Und das Abstellen auf die „Wiederholungsgefahr“ ist, wenn der im Beschluss nicht genannte § 112a StPO gemeint sein sollte, wovon ich ausgehe, falsch. Denn Wiederholungsgefahr ist immer nur subsidiärer Haftgrund. Darauf geht die Kammer mit keinem Wort ein. Aber dafür wird das Rechtsgut der „Volksgesundheit“ bemüht. „Bei der Formulierung sträuben sich mir immer die Nackenhaare“. Insgesamt meine ich: Etwas mehr Menschlichkeit wäre auch angesichts der Schwere des Vorwurfs sicherlich angebracht gewesen und vielleicht hätte man sich mal zumindest mit den Entscheidungen BerlVerfGH NJW 1993, 515 und NJW 1994, 436 auseinandersetzen können.