Und dann zur Wochenmitte drei StPO-Entscheidungen vom BGH.
Ich starte mit dem BGH, Beschl. v. 08.02.2022 – 3 StR 440_21, in dem der BGH zur „Reichweite“ einer Anklage Stellung genommen hat. Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen verurteilt. Die Revision hatte wegen einer der abgeurteilten Taten Erfolg:
„1. Hinsichtlich des zweiten abgeurteilten schweren sexuellen Missbrauchs (Fall B.II.3 der Urteilsgründe) fehlt es an den Verfahrensvoraussetzungen einer wirksamen Anklageerhebung und demzufolge eines wirksamen Eröffnungsbeschlusses.
a) Die mit Beschluss des Landgerichts vom 18. Dezember 2020 unverändert zur Hauptverhandlung zugelassene Anklage der Staatsanwaltschaft Oldenburg vom 19. Oktober 2020 hatte dem Angeklagten – neben mehreren Fällen des einfachen sexuellen Missbrauchs – einen zweifachen schweren sexuellen Missbrauch der Nebenklägerin, seiner damals acht- bis zehnjährigen Enkeltochter, zulasten gelegt. Hierzu ist im konkreten Anklagesatz ausgeführt, dass er das Kind an zwei nicht genau zu bestimmenden Tagen zwischen Juni 2017 und März 2019 im Garten seines Hauses nahe den Mülltonnen aufgefordert habe, seinen Penis in den Mund zu nehmen und ihn oral zu befriedigen, was so geschehen sei bis kurz vor dem Samenerguss, der anschließend auf die Mülltonnen erfolgt sei.
Mit der Abschlussverfügung hatte die Staatsanwaltschaft das Verfahren gemäß § 154 Abs. 1 StPO eingestellt, soweit der Verdacht weiterer, über die angeklagten Taten hinausgehender gleichgelagerter Fälle bestehe. Ausweislich der Urteilsgründe hatte die Nebenklägerin im Ermittlungsverfahren zahlreiche Fälle des Oralverkehrs nach dem gleichen modus operandi bekundet. Dabei hatte sie einige Taten im Garten bei den Mülltonnen, andere auf dem Bett im Schlafzimmer des Angeklagten verortet.
In der Hauptverhandlung hat sich nur eine Tat im Garten erweisen lassen. Davon, dass dort ein zweiter Oralverkehr stattfand, hat sich das Landgericht nicht überzeugen können. Es hat sich nach Vernehmung der Nebenklägerin jedoch die Gewissheit verschafft, dass sie in wenigstens einem Fall im Schlafzimmer auf dem Bett am Penis des Angeklagten „nuckelte“ bis zum Samenerguss. Die Strafkammer hat daraufhin den rechtlichen Hinweis erteilt, dass sich der zweite Oralverkehr nicht im Garten, sondern im Schlafzimmer abgespielt haben könne. Sodann hat sie den Angeklagten im besagten Fall wegen schweren sexuellen Missbrauchs zu einer Einzelfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt, weil er sich an einem nicht näher bestimmbaren Tag im Tatzeitraum auf seinem Bett im Schlafzimmer von seiner Enkeltochter habe oral befriedigen lassen.
b) Damit fehlt es an der Identität zwischen dem von der Anklageschrift erfassten Lebenssachverhalt und der abgeurteilten Tat.
Gegenstand der Urteilsfindung ist gemäß § 264 Abs. 1 StPO die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung darstellt. Tat im Sinne dieser Vorschrift ist ein einheitlicher geschichtlicher Vorgang, der sich von anderen ähnlichen oder gleichartigen unterscheidet und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll. Verändert sich im Verlaufe des Verfahrens das Bild des Geschehens, wie es in der Anklageschrift und dem Eröffnungsbeschluss umschrieben ist, so ist die Prüfung der Frage, ob die Identität der prozessualen Tat trotz Veränderung des Tatbildes noch gewahrt ist, nach dem Kriterium der ʺNämlichkeitʺ der Tat zu beurteilen. Dies ist – ungeachtet gewisser Unterschiede – dann gegeben, wenn bestimmte Merkmale die Tat weiterhin als ein einmaliges und unverwechselbares Geschehen kennzeichnen. Die prozessuale Tat wird in der Regel durch Tatort, Tatzeit und das Tatbild umgrenzt und insbesondere durch das Täterverhalten sowie die ihm innewohnende Angriffsrichtung und durch das Tatopfer bestimmt (st. Rspr., s. etwa BGH, Beschlüsse vom 13. Februar 2019 – 4 StR 555/18 , NStZ 2019, 428, 429 mwN; vom 20. Mai 2021 – 3 StR 443/20 ,StV 2022, 69Rn. 11 mwN). Wann die Tat in dem dargelegten Sinne hinreichend umgrenzt ist, kann nicht abstrakt, sondern nur nach Maßgabe der Umstände des jeweiligen Einzelfalls festgelegt werden ( BGH, Beschluss vom 21. Dezember 2021 – StB 39/21 , NStZ-RR 2022, 75 mwN).
c) Gemessen hieran ist der abgeurteilte Oralverkehr im Schlafzimmer nicht Gegenstand der zugelassenen Anklage. Insoweit handelt es sich nicht um die nämliche Tat im Sinne des § 264 StPO . Beide Lebensvorgänge, der angeklagte und der abgeurteilte, unterscheiden sich zwar im Wesentlichen nur hinsichtlich des Tatorts. Dieser ist hier jedoch von besonderer Relevanz, weil das Ermittlungsverfahren von vornherein wegen Taten im Garten und solchen im Schlafzimmer geführt worden war. Es standen mithin gleichartige geschichtliche Vorgänge – jeweils Oralverkehr – in Rede, deren maßgebliches Unterscheidungskriterium die Örtlichkeit war. In dieser Situation hat die Staatsanwaltschaft allein das Geschehen an zwei verschiedenen Tagen im Garten angeklagt. Ihr Verfolgungswille erstreckte sich nicht auf die Übergriffe mit Tatort Schlafzimmer. Der konkrete Anklagesatz und das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen, das zu seiner Ergänzung und Auslegung herangezogen werden kann (vgl. BGH, Beschluss vom 16. August 2018 – 4 StR 200/18 , NStZ-RR 2018, 353, 354; Urteile vom 17. August 2000 – 4 StR 245/00 , BGHSt 46, 130, 134 ; und vom 28. Oktober 2009 – 1 StR 205/09 , BGHR StPO § 200 Abs. 1 Satz 1 Rn. 95), sind insoweit eindeutig. Eine Nachtragsanklage hat die Staatsanwaltschaft nicht erhoben.
d) Damit hat das Landgericht die eine Tat im prozessualen Sinn – das Verhalten des Angeklagten an einem nicht näher feststellbaren Tag zwischen Juni 2017 und März 2019 im Garten – gegen einen anderen geschichtlichen Vorgang – das Vorgehen des Angeklagten im Schlafzimmer an einem nicht näher feststellbaren Tag im Tatzeitraum – ausgewechselt. Insoweit ist das Verfahren wegen der von Amts wegen zu beachtenden Verfahrenshindernisse nach § 206a 1 StPO einzustellen.“
Gebracht hat es hinsichtlich der Strafe nichts, denn:
„e) Mit der Einstellung entfallen hinsichtlich dieser Tat der Schuld- und Strafausspruch. Die Gesamtstrafe kann indes aufrechterhalten bleiben. Angesichts der übrigen verhängten Einzelfreiheitsstrafen von zwei Jahren und neun Monaten, zweimal einem Jahr und sechs Monaten, einmal einem Jahr und viermal acht Monaten ist auszuschließen, dass die Strafkammer die Gesamtfreiheitsstrafe ohne die fortfallende Strafe milder bemessen hätte.“