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Das Überholen einer Fahrzeugkolonne, und/oder: Haftungsabwägung bei Panikreaktion

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Aus dem „Kessel Buntes“ dann noch das OLG Schleswig, Urt. v. 24.03.2017 – 7 U 73/16. Es hat einen Verkehrsunfall zum Gegenstand, der m.E. gar nicht so selten sein dürfte. Die Klägerin hatte mit ihrem Pkw eine Bundesstraße befahren. Ihr kam der Beklagte mit seinem Pkw entgegen, der mehrere Fahrzeuge überholte. Er will die Klägerin zwar in einer von ihm geschätzten Entfernung von 800 bis 1000 m gesehen haben, hatte aber gedacht, dass er noch „locker“ die beiden vor ihm in einer Kolonne fahrenden Fahrzeuge überholen könnte. Als sich die Fahrzeuge näher kamen, betätigte die Klägerin die Lichthupe und wich schließlich nach rechts aus. Dabei verlor sie die Kontrolle über ihr Fahrzeug. Sie wurde schwer verletzt, der Pkw beschädigt. Das LG hat der Klägerin 40 % Mithaftung angerechnet, das OLG sieht das anders und kommt zur Alleinhaftung des Beklagten, und zwar mit folgendem Begründungsstrang:

  • Das LG hatte einen Verkehrsverstoß des Beklagten gegen § 5 Abs. 2 Satz 1 StVO (unzulässiges Überholen, obwohl Behinderung des Gegenverkehrs nicht ausgeschlossen ist) festgestellt. Das sieht das OLG aufgrund der Beweisaufnahme ebenso.
  • Außerdem hat der Beklagte „auch gegen § 5 Abs. 2 Satz 1 StVO verstoßen, weil er trotz Gegenverkehrs eine Kolonne mit mehreren Fahrzeugen überholt hat. Wer eine Fahrzeugkolonne überholen will, muss die Gewissheit haben, dass er vor Annäherung des Gegenverkehrs sich entweder vor das vorderste Fahrzeug setzen oder wenigstens in eine zum Einscheren ohne Gefährdung oder Behinderung der Rechtsfahrenden ausreichende Lücke einfahren kann (vgl. BHHJJ/Heß, 24. Aufl., 2016, StVO § 5 Rn 20). Dies war hier nicht gegeben, denn jedenfalls der Zeuge K hat bekundet, er habe dicht auf das vor ihm fahrende Fahrzeug auffahren müssen, um für den Beklagten zu 1) eine Lücke zu schaffen (vgl. Bl. 234 d. A.). Da der Beklagte zu 1) nicht damit rechnen konnte, dass der Zeuge K sich in diese für ihn gefährliche Situation begeben würde, um ein Einscheren zu ermöglichen, hätte er von einem Überholvorgang Abstand nehmen müssen.“
  • Zu Lasten der Klägerin ist „lediglich die Betriebsgefahr des Fahrzeugs in die Abwägung einzustellen. Eine Erhöhung der Betriebsgefahr aufgrund eines Verkehrsverstoßes seitens der Klägerin ist nicht bewiesen. Denn ein solcher Verkehrsverstoß (wie z.B. fehlendes Bremsen) steht nicht mit hinreichender Sicherheit fest. Dass für die Klägerin zu 1) der Unfall nach den eingeholten Rekonstruktionsgutachten je nach Unfallkonstellation durch Beibehaltung der konstanten Geschwindigkeit oder jedenfalls durch die Einleitung einer Bremsung vermeidbar gewesen wäre, steigert die Betriebsgefahr nicht. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist für den Fall des berührungslosen Unfalls anerkannt, dass eine Ausweichreaktion, die in Ansehung eines überholenden Kraftfahrzeugs in Gegenrichtung vorgenommen wird, dem Überholenden zuzurechnen ist (BGH, Urteil vom 21.9.2010, VI ZR 263/09, VersR 2010,1614-1615, juris Rn. 8, zitiert nach Juris). Dies gilt auch dann, wenn es sich hierbei um eine voreilige – also objektiv nicht erforderliche – Ausweichreaktion handelt (vgl. BGH Urteil vom 26.4.2005, VI ZR 168/04, VersR 2005,992-993, Juris Rn. 12)….“
  • Eine Zurechnung der Ausweichreaktion der Klägerin „entfällt auch nicht aus dem Grund, dass der Beklagte zu 1) bereits seinen Überholvorgang, wie die Anschlussberufung unter Vornahme einer Weg-Zeit-Berechnung vorbringt, „längst“ abgeschlossen hatte und sich mindestens seit sieben Sekunden wieder auf der rechten Fahrspur befunden haben soll. Zwar hält der Sachverständige M auch eine solche Unfallkonstellation technisch für möglich, bei der der Beklagte zu 1) bereits „seit geraumer Zeit“ wieder auf die rechte Fahrspur eingeschert war. Erwiesen ist diese Konstellation allerdings nicht und kann deshalb bei der Abwägung der Verursachungsanteile auch nicht berücksichtigt werden. Die bloße Möglichkeit des von den Beklagten geschilderten Unfallablaufs genügt nicht. Die von den Beklagten vorgelegte Weg-Zeit-Berechnung kann schon deshalb nicht bei der Schadensverteilung als feststehender Sachverhalt berücksichtigt werden, weil ihr tatsächliche Annahmen zugrunde liegen, die nicht feststehen (insbesondere zum Punkt, an dem der Beklagte zu 1) mit seinem Fahrzeug zum Überholen ansetzte und zur von ihm gefahrenen Geschwindigkeit).“

Und damit galt: Die somit allein zu berücksichtigende Betriebsgefahr des Fahrzeugs der Klägerin trat gegenüber dem erheblichen, grob verkehrswidrigen Verkehrsverstoß des Beklagten zurück. Er war übrigens – wie das OLG meint ist zu recht – aufgrund des Unfalls wegen fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung gem. § 315 c StGB verurteilt worden.