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Pflichti II: Nochmals „rückwirkende Bestellung“, oder: LG Koblenz und AG Essen ordnen bei.

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Das zweite Posting zu Pflichtverteidigungsfragen betrifft noch einmal die Frage der nachträglichen Beiordnung. Dazu stelle u.a. ich den LG Koblenz, 21.08.2020 – 14 Qs 54/20 – vor. das LG macht es wie die inzwischen wohl h.M. in der Frage. Es ordnet, wenn der Antrag rechtzeitig (vor der Einstellung) gestellt war, rückwirkend bei:

„Das als sofortige Beschwerde zulässige Rechtsmittel hat in der Sache Erfolg. Denn sowohl im Zeitpunkt der Antragstellung (20.02.2020) als auch im Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung (02.03.2020) lagen die Voraussetzung für eine Pflichtverteidigerbestellung nach § 140 Abs. 2 StPO in der Alternative der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen wegen des zweifach drohenden Widerrufs von Strafaussetzungen in anderen Sachen vor.

Die ohnehin erst nach der angefochtenen Entscheidung erfolgte Einstellung des vorliegenden Verfahrens nach § 154 Abs. 1, Abs. 2 StPO steht dem nicht entgegen. Bereits nach alter Rechtslage war nach zutreffender Ansicht im Falle einer rechtzeitigen Antragstellung bei gegebenen Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung eine rückwirkende Bestellung vorzunehmen. Jedenfalls nach der Gesetzesänderung dürfte sich die gegenteilige Ansicht zur alten Gesetzeslage, eine Pflichtverteidigerbestellung diene einzig der Verfahrenssicherung, obsolet geworden sein (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt StPO, 63. Aufl., § 142 Rn. 20). Die Voraussetzung der Ausnahmevorschrift für den Fall einer alsbaldigen Einstellung (§ 141 Abs. 2 Satz 3 StPO) betrifft eine abweichende Fallgestaltung.“

Ebenso das AG Essen im AG Essen, Beschl. v. 21.08.2020 – 66 Gs 454/20 -, den mir der Kollege Schlepps aus Schermbeck geschickt hat.

Gebühren des Terminsvertreters, oder: Immer wieder falsch

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Die zweite Entscheidung, die ich vorstelle, ist dann der LG Koblenz, Beschl. v. 06.07.2020 – 4 KLs 2050 Js 3517/17. Auch er entscheidet eine Problematik, die immer wieder umstritten ist. Nämlich die Frage: Welche Gebühren verdeint der sog. Terminsvertreter.

Das LG sagt: Nur die Terminsgebühr:

„In der Sache bleibt die Erinnerung jedoch ohne Erfolg. Dem Erinnerungsführer stehen die von ihm geltend gemachte Grundgebühr nach der Nr. 4101, 4100 VV RVG in Höhe von 192,00 € nebst darauf entfallender Mehrwertsteuer nicht zu, sondern nur die bereits festgesetzte Terminsgebühr nebst Auslagen sowie die darauf entfallende Mehrwertsteuer. Denn der Erinnerungsführer war zum Hauptverhandlungstermin am 22.07.2019 nicht als weiterer (dritter) Verteidiger, sondern als Vertreter der an diesem Tag verhinderten Rechtsanwältinnen pp1. und pp2. beigeordnet worden.

Ob und inwieweit einem wegen der Abwesenheit des Pflichtverteidigers für einen Hauptverhandlungstermin beigeordneten Verteidiger über die Terminsgebühr hinaus eine Vergütung für seine Tätigkeit als so genannter „Terminsvertreter“ nach Abschnitt 1 des Teils 4 des Vergütungsverzeichnisses zusteht, wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung uneinheitlich beantwortet.

Teilweise wird vertreten, dass der Vergütungsanspruch des Verteidigers, der anstelle des verhinderten Pflichtverteidigers für einen Hauptverhandlungstermin als Verteidiger beigeordnet worden ist, sich nicht auf die Terminsgebühr beschränkt, sondern alle durch die anwaltliche Tätigkeit im Einzelfall verwirklichten Gebührentatbestände des Teils 4 Abschnitt 1 des Vergütungsverzeichnisses in Anlage 1 zu ‚§ 2 Abs. 2 RVG umfasst (OLG Saarbrücken, Beschluss vom 10. November 2014 — 1 Ws 148/14, Rn. 12 ff., juris; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16. Juli 2008 — 3 Ws 281/08, Rn. 6, juris; OLG Bamberg, Beschluss vom 21. Dezember 2010 — 1 Ws 700/10, Rn. 9, juris).

Nach anderer Auffassung hat die Landeskasse jedenfalls in den Fällen, in denen die Beiordnung des Rechtsanwalts als bloßer Terminsvertreter für einen Hauptverhandlungstermin erfolgt ist und der originär bestellte Verteidiger die Gebühren für die vorgelagerte Tätigkeit schon verdient hat, nur noch die Terminsgebühr nebst Umsatzsteuer zu erstatten (OLG Koblenz, Beschl. v. 16.10.2012 — 2 Ws 759/12, BeckRS 2012, 22226, beck-online; OLG Oldenburg, Beschluss vom 13. Mai 2014 — 1 Ws 195/14, juris; OLG Celle, Beschluss vom 19. Dezember 2008 — 2 Ws 365/08, juris; KG Berlin, Beschluss vom 29. Juni 2005 — 5 Ws 164/05, juris; OLG Rostock, Beschluss vom 15. September 2011 —1 Ws 201/11, Rn. 46 f., juris; OLG Hamburg, Beschluss vom 17. September 2012 — 3 Ws 93/12, Rn. 15, juris).

Dieser letztgenannten Auffassung ist zu folgen, denn der Anspruch als ersatzweise bestellter Pflichtverteidiger kann nicht höher sein als er in der Person des vertretenen Rechtsanwalts angefallen wäre, wenn dieser selbst zum Termin erschienen wäre, oder wenn der Rechtsanwalt ohne Beiordnung als Vertreter des bestellten Rechtsanwalts gemäß § 5 RVG aufgetreten wäre (OLG Koblenz, Beschl. v. 16.10.2012 — 2 Ws 759/12, BeckRS 2012, 22226, beck-online; KG Berlin, Beschluss vom 29. Juni 2005 — 5 Ws 164/05, juris; OLG Rostock, Beschluss vom 15. September 2011 — 1 Ws 201/11, Rn. 46 f., juris; OLG Hamburg, Beschluss vom 17. September 2012 — 3 Ws 93/12, Rn. 15, juris). Die Vorschrift des § 5 RVG, die die Vertretung von Rechtsanwälten gebührenrechtlich regelt, nimmt die Vertretung eines Pflichtverteidigers gerade nicht aus dem Regelungsbereich aus (OLG Celle, Beschluss vom 19. Dezember 2008 — 2 Ws 365/08, Rn. 14, juris). Hat der originär bestellte Pflichtverteidiger die Gebühren für die vorgelagerte Tätigkeit schon verdient, hat die Landeskasse dem Vertreter allenfalls noch die Terminsgebühr zu erstatten. Lässt sich ein Verteidiger in einem Hauptverhandlungstermin durch einen and Verteidiger vertreten, kann dies nicht dazu führen, dass Grund- und Verfahrensgebühr mehrfach entstehen. Anderenfalls könnte ein Pflichtverteidiger, der sich an verschiedenen Sitzungstagen durch verschiedene Vertreter vertreten lässt, zahlreiche Gebührentatbestände entstehen lassen, ohne dass dafür ein sachlicher Grund bestünde (OLG Koblenz, Beschl. v. 16.10.2012 — 2 Ws 759/12, BeckRS 2012, 22226, beck-online). Dies würde sich in unangemessener Weise zum Nachteil des Angeklagten, der im Falle seiner Verurteilung die Verteidigergebühren zu tragen hat (§ 465 Abs. 1 StPO), oder zum Nachteil der Staatskasse, die zunächst für die Pflichtverteidigervergütung aufzukommen hat (§ 55 Abs. 1 RVG), auswirken (LG Hannover, Beschluss vom 19. Oktober 2015 — 33 Qs 51/15, juris).

Im vorliegenden Fall war deswegen zu berücksichtigen, dass der Erinnerungsführer am Haupt-verhandlungstag des 22.07.2019 nicht als (dritter) Verteidiger, sondern als bloßer „Terminsvertreter“ für die an diesem Tage verhinderten Rechtsanwältinnen pp1. und pp2. beigeordnet worden war. Dies folgt schon aus dem Wortlaut des Beiordnungsbeschlusses, wonach der Erinnerungsführer ausdrücklich „für den Hauptverhandlungstermin am 22.07.2019 für die an diesem Tage verhinderten Rechtsanwältinnen pp.1 und pp2. bestellt“ worden ist. Die ausdrückliche Nennung des Hauptverhandlungstermins am 22.07.2019 unterstreicht, dass nur eine Vertretung gewollt war und kein (weiterer) dauerhafter Pflichtverteidiger bestellt werden sollte.

Auch der übrige Zusammenhang stützt diese Auslegung des Beschlusses. Für die originären Verteidigerinnen war der Erinnerungsführer nach vorheriger Ankündigung nur für die Hauptverhandlung am 22.07.2019 erschienen. Zu den neun weit Verfahrensterminen erschien zumindest jeweils eine der bestellten Verteidigerinnen pp1. oder pp2., was weiterhin belegt, dass der Erinnerungsführer nur in die Vertretung der bereits bestellten Verteidigerinnen eingewiesen werden sollte: Eine solche Beiordnung als sogenannter „Terminsvertreter“ ist verfahrensrechtlich zulässig und hat dann gebührenrechtlich zur Folge, dass nur ein Pflichtverteidiger-mandat abzurechnen ist (OLG Oldenburg, Beschluss vom 13. Mai 2014 — 1 Ws 195/14, Rn. 17, juris).“

M.E. falsch, aber: Wen interessiert das? Der Kollege Tsioupas aus Frankfurt, der mir den Beschluss geschickt hat, will weiter ins Rechtsmittel. Ich meine, er wird beim OLG Koblnez (!) keinen Erfolg haben. Aber: Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Pflichti II: Beiordnungsgründe, oder: Betreuung oder Beweisverwertungsverbot

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Im 2. Posting dann zwei Entscheidungen zu den materiellen Voraussetzungen der Bestellung eines Pflichtverteidigers nach § 140 StPO.

Zunächst der LG Koblenz, Beschl. v. 18.03.2020 – 12 Qs 15/20 – zur Bestellung eines Pflichtverteidigers in den Fällen der Betreuung. Das LG hat bestellt und das wie folgt begründet:

Zwar sind die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 1 StPO ersichtlich nicht gegeben, es liegt jedoch ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO vor. Danach hat eine Pflichtverteidigerbestellung auch dann nach pflichtgemäßen Ermessen zu erfolgen, wenn wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte selbst nicht hinreichend verteidigen kann.

Es kann dahinstehen, ob schon die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage hier eine Beiordnung eines Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 2 S. 1 StPO gebietet, weil sich der Angeklagte – auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes des fairen Verfahrens – nach Aktenlage jedenfalls nicht  selbst hinreichend wird verteidigen können.

Zwar genügt die bloße Betreuerbestellung nicht, um allein deswegen eine Verteidigerbestellung auszusprechen. Gemäß § 140 Abs. 2 StPO liegt aber dann ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, wenn der Angeklagte aufgrund seiner geistigen Fähigkeiten oder seines Gesundheitszustandes in seiner Verteidigungsfähigkeit eingeschränkt ist. Eine Pflichtverteidigerbestellung ist mithin schon dann notwendig, wenn an der Fähigkeit der Selbstverteidigung erhebliche Zweifel bestehen (Meyer-Goßner/Schmitt, 62. Auflage 2019, § 140 Rn. 30).

Der Betreuungsakte ist zu entnehmen, dass bei dem Angeklagten eine Lernbehinderung mit kognitiven Einschränkungen besteht, in Folge dessen er nicht in der Lage ist sein Vermögen sinnvoll zu verwalten (vgl. gutachterliche Stellungnahme vom 29.11.2018, BI. 101 f d.A.), sodass ein Einwilligungsvorbehalt eingerichtet wurde. Nach ärztlicher Einschätzung ist er mit der Regelung seiner administrativen Angelegenheiten völlig überfordert (vgl. gutachterliche Stellungnahme vom 21.06.2017, BI; 7f der Betreuungsakte). Dementsprechend umfassend ist die eingerichtete Betreuung, was für sich betrachtet bereits erhebliche Zweifel an seiner Fähigkeit zur Selbstverteidigung begründet.

Der Umstand, dass der durch Einspruch angefochtene Strafbefehl auf die Rechtsfolgen beschränkt ist, steht dem nicht entgegen, weil die notwendige Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO nicht stets eine bestimmte Tatschwere voraussetzt. Außerdem muss sich der Angeklagte auch hinsichtlich der Rechtsfolgen, insbesondere der Tagessatzhöhe verteidigen können, was Kenntnisse über seine Einkunfts- bzw. Vermögenslage voraussetzt. Hierbei handelt es sich um einen von dem Aufgabenkreis des Betreuers ausdrücklich umfassten Bereich.

Auch die Tatsache, dass dem Angeklagten ein Berufsbetreuer bestellt ist, ändert nichts an der Voraussetzung des § 140 Abs. 2 StPO, da sich die Aufgaben eines Betreuers und die eines Verteidigers grundlegend unterscheiden. Das Gesetz stellt in § 140 Abs. 2 StPO auf die Person des Verfahrensbeteiligten und dessen Fähigkeiten zur Selbstverteidigung ab und nicht auf die seines gesetzlichen Vertreters.“

Und als zweite Entscheidung dann der LG Weiden i.d. OPf., Beschl. v. 20.04.2020 – 2 Qs 17/20. Das LG hat wegen Vorliegens einer schwierigen Rechtsfrage einen Pflichtverteidiger beigeordnet:

„Sie ist auch begründet. Es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung vor nach § 140 Il StPO.

Es ist die Rechtsfrage zu prüfen, ob die Polizeibeamten ohne jeden Anlass die Identität des Angeklagten feststellen durften, ihn durchsuchen durften und ob der Zufallsfund des Betäubungsmittels verwertbar ist.“

Pflichti III: Sprachunkundiger Flüchtling/Ausländer, oder: Das LG Koblenz ordnet bei

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Und zum Tagesschluss dann noch der LG Koblenz, Beschl. v. 15.03.2019 – 2 Qs 14/19, den mir der Kollege Dr. Fromm aus Koblenz geschickt hat. Es geht noch einmal um die Beiordnung eines Pflichtverteidigers beim sprachunkundigen Ausländer. Anders als in dem gestern vorgestellten LG Heilbronn, Beschl. v. 21.01.2019 – 8 Qs 2/19 – (vgl., dazu Pflichti I: Der sprachunkundige Syrer, oder: Dolmetscher als Allheilmittel) kommt das LG Koblenz hier zur Bestellung:

„Die Staatsanwaltschaft Koblenz wirft dem als Flüchtling in die Bundesrepublik gelangten Angeklagten in der zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklage Urkundenfälschung zur Last. Ausgangspunkt der Ermittlungen war eine Mitteilung des BAMF zu ge/verfälschten Reisedokumenten, die sich auf ein Behördengutachten zur Physikalisch-Technischen Urkundenuntersuchung stützt. Gegenstand der Untersuchung war eine vom Angeklagten vorgelegte ID-Karte (sogenannte Tazkira, Ablichtung vom Original BI. 11 d.A.), die von afghanischen Behörden ausgestellt sein soll.

Der Untersuchungsbefund kommt zu dem Ergebnis, dass Formulardruck und Nummer des vor-gelegten Dokuments kopiertechnisch erstellt wurden. Der Gutachter geht nach „derzeitigem Kenntnisstand“ von einer nichtamtlichen Ausstellung aus.

Unter Berücksichtigung dessen, dass der Angeklagte der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig ist, war dem Angeklagten bei der vorliegenden Sachlage ein Pflichtverteidiger nach § 140 Abs. 2 StGB wegen Unfähigkeit der Selbstverteidigung beizuordnen. Die Kammer verkennt dabei nicht, dass Verständigungsschwierigkeiten nur regelmäßig, nicht aber ausnahmslos eine Beiordnung gebieten; insbesondere dann nicht, wenn die Rechte eines Angeklagten durch die Vorschrift des § 187 GVG ausreichend gewahrt werden (Mayer-Goßner/Schmidt, 61. Aufl., § 140 Rn 30a). Die vorliegenden tatsächlichen und gegebenenfalls damit in der Folge verbundenen rechtlichen Schwierigkeiten sind jedoch von einem Gewicht, das allein durch die Heranziehung eines Dolmetschers nicht ohne weiteres ausräumbar erscheint. Es handelt sich um ein ausländisches Dokument, bei dem der Urkundensachverständige nur nach „derzeitigem Kenntnisstand“ von einer nichtamtlichen Ausstellung ausgeht. Dies wird zwar gewichtig durch den Befund gestützt, dass auch die Nummer des Dokuments kopiertechnisch erstellt worden sein soll. Denn bei der Nummerierung „17833711″ handelt es sich nach dem Anschein der bei der Akte befindlichen Kopie (BI. 11 d.A.) wohl ursprünglich um einen Stempelaufdruck. Zur Abklärung dieser Auffälligkeit wird jedoch das Original der Vorlage in Augenschein zu nehmen sein. Vor dem Hintergrund der über das Ausländeramt aktenkundig gewordenen Erkenntnisse (vgl. Bearbeitervermerk BI. 31 d.A.) und dem sich möglicherweise hieraus ergebenden weiteren Aufklärungsbedarf, der wiederum unter Umständen eine rechtliche Neubewertung erforderlich machen könnte, erscheint die Wahrung der Verteidigungsrechte allein durch einen Dolmetscher hier nicht hinreichend sichergestellt.“

Pflichti II: Der Verteidiger als Störenfried im JGG-Verfahren, oder: Du kannst/musst dich von deiner Mutter unterstützen lassen

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Ziemlich geärgert hat mich die zweite Entscheidung, die ich heute vorstelle. Den LG Koblenz, Beschl. v. 02.01.2019 – 2 Qs 120/18 jug – hat mir der Kollege Scheffler aus Bad Kreuznach übersandt. Der Beschluss lässt sich m.E. in die Rubrik: „Der Verteidiger ist ein Störenfried“ einordnen.

Das LG hat die Ablehnung einer Pflichtverteidigerantrags des Kollegen in einem Verfahren gegen eine Jugendliche – knapp 15 Jahre alt – durch das AG abgesegnet. Grundlage ist etwa folgender Sachverhalt:

Gegen die wird wegen falscher Verdächtigung ein Strafverfahren geführt. Ihr wird vorgeworfen, sie habe den Geschädigten gegenüber der Polizei bewusst wahrheitswidrig der Vergewaltigung bezichtigt, um gegenüber ihrem Freund zu vertuschen, dass der Geschlechtsverkehr mit dem Geschädigten tatsächlich einvernehmlich war. In dem daraufhin eingeleiteten Ermittlungsverfahren konnte der Geschädigte WhatsApp-Nachrichten vorlegen, die deutliche Anhaltspunkte für die Einvernehmlichkeit des Geschlechtsverkehrs beinhalteten. Aufgrund dieser Erkenntnisse wurde die Angeklagte nochmals polizeilich vernommen. Hierbei wurde sie trotz des sich aus den WhatsApp-Nachrichten ergebenden Verdachts, bei der Anzeigeerstattung die Unwahrheit gesagt zu haben, nicht als Beschuldigte belehrt. In der Vernehmung äußerte sie, die Anzeige zurückziehen zu wollen, da der Sachverhalt anders gewesen sei als in der Anzeige niedergelegt.

Den Beiordnugsantrag hat das AG – mehr als drei Monate nach Antragstellung und nach Eröffnung des Hauptverfahrens – zurückgewiesen. Die hiergegen eingelegte Beschwerde hatte keinen Erfolg. Das LG „segnet“ wie folgt ab:;

Die Voraussetzungen, unter denen eine Beiordnung gemäß §§ 68 Nr. 1 und Nr. 4 JGG, 140 Abs. 1 oder 2 StPO erfolgt, liegen nicht vor.

Gemäß § 68 Nr. 1 JGG bestellt der Vorsitzende dem Beschuldigten einen Verteidiger, wenn einem Erwachsenen ein Verteidiger zu bestellen wäre.

Liegen – wie hier – die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 StPO nicht vor, ist gemäß § 140 Abs. 2 StPO die Mitwirkung eines Verteidigers in der Hauptverhandlung und die Bestellung eines Pflichtverteidigers erforderlich, wenn wegen der Schwere der Tat oder der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Angeklagte nicht selbst verteidigen kann. In § 68 Nr. 1 JGG wird hinsichtlich der Voraussetzungen für eine Pflichtverteidigerbestellung uneingeschränkt auf das allgemeine Strafrecht verwiesen. Die zur näheren Konkretisierung und Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe des § 140 Abs. 2 StPO im Erwachsenenrecht ergangene Rechtsprechung findet daher auch im Jugendstrafrecht Anwendung. Den Besonderheiten des Jugendstrafverfahrens ist jedoch Rechnung zu tragen (vgl. KG NStZ-RR 2013, 357 m.w.N).

1. Eine Beiordnung als Pflichtverteidiger ist nicht wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage angezeigt.

Für die Schwierigkeit der Sachlage ist unter anderem auf die voraussichtliche Dauer der Haupt-verhandlung und die Schwierigkeit der Beweislage abzustellen. Dabei ist eine schwierige Sachlage nicht stets bei längerer Dauer der Hauptverhandlung oder bei schwieriger Beweislage anzunehmen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl., § 140 Rn. 26a). Vorliegend ist mit der Durchführung einer Hauptverhandlung zu rechnen, die an einem Tag zum Abschluss kommen kann. Von der Staatsanwaltschaft sind drei Zeugen benannt. Ferner dürften die WhatsApp-Nachrichten zu verlesen sein. Es ist demnach von einer allenfalls durchschnittlichen Dauer der Haupt-verhandlung und einer zumindest nicht schwierigen Beweislage auf der Grundlage der gefundenen Beweismittel auszugehen.

Das Gericht sieht auch darin, dass sowohl das tatsächliche Geschehen am 15. April 2018 als auch die Aussagen der Angeklagten hinsichtlich dieses Geschehens zu rekonstruieren sein werden, keine Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage. Denn entweder war der Geschlechtsverkehr einvernehmlich, dann kommt in Betracht, dass die – verwertbare Aussage – vom 16. April 2018 geeignet ist, den Straftatbestand des § 164 StGB zu erfüllen oder der Geschlechtsverkehr war nicht einvernehmlich, sodass eine Strafbarkeit gern. § 164 StGB nicht in Betracht kommt. Der Sachverhalt ist daher denkbar einfach gelagert und bedarf keiner aufwendigen Rekonstruktion verschiedener Geschehensabläufe.

Die Kammer sieht auch keinen Anlass dafür, dass eine vollständige Akteneinsicht erforderlich sein soll. Maßgeblicher Akteninhalt für die Hauptverhandlung sind die Whats-App-Nachrichten, die beiden protokollierten Aussagen der Angeklagten und die protokollierte Aussage des Zeugen pp. Ihre beiden Aussagen hat die Angeklagte selbst abgegeben. An der WhatsApp-Unterhaltung mit dem Zeugen pp. war die Angeklagte unmittelbar selbst beteiligt. Eine Kenntnis über diese Beweismittel besteht bei der Angeklagten. Dass der Zeuge pp. vernommen wurde, ist ohne weiteres auch für eine nicht anwaltlich vertretene Jugendliche erkennbar, da der ursprünglich von ihr vorgebrachte Tatvorwurf gegen ihn gerichtet war. Die Kammer sieht keinen Grund dafür, dass es der Angeklagten nicht möglich sein soll, diese Aktenteile zu benennen.

Eine schwierige Rechtslage ist dann gegeben, wenn bei Anwendung des materiellen oder formellen Rechts komplexe und höchstrichterlich bis dato nicht geklärte Rechtsfragen im konkreten Fall entschieden werden müssen oder wenn die Subsumtion unter die anzuwendende Vorschrift des materiellen Rechts Schwierigkeiten bereiten wird (vgl. MüKoStPO/Kaspar, 1. Auflage 2018, JGG § 68 Rn. 14-17a).

Der Einwand, dass bei der falschen Verdächtigung gern. § 164 StGB eine Absicht erforderlich sei, gegen den Anderen ein Verfahren einzuleiten und diese Absicht von anderen Vorsatzarten abgegrenzt werden müsse, trägt die Begründung einer schweren Rechtslage nicht. Es handelt sich um ein gewöhnliches subjektives Tatbestandsmerkmal, das keine besondere rechtliche Schwierigkeit bereitet. Im Übrigen hat die Angeklagte bei ihrer polizeilichen Vernehmung am 16. April 2018 ausdrücklich gesagt, dass sie möchte, dass der Angeklagte dafür bestraft werde, so-dass sich ein Auseinandersetzen mit den verschiedenen Vorsatzformen im konkreten Fall erübrigen dürfte.

Auch ein gegebenenfalls bestehendes Beweisverwertungsverbot wegen der unterbliebenen Beschuldigtenbelehrung vor der polizeilichen Nachvernehmung der Angeklagten führt im vorliegenden Fall nicht zu einer schwierigen Rechtslage. Vorliegend geht die Kammer da-von aus, dass sich das Amtsgericht durch die Vernehmung der Zeugen pp. und pp. sowie durch die Verlesung der am 14. und 15. April 2018 geführten WhatsApp-Unterhaltung zwischen der Angeklagten und dem Zeugen pp. eine hinreichende Überzeugung darüber bilden kann, ob der Tatvorwurf zutreffend ist oder nicht, sodass es im Rahmen der Beweisaufnahme im konkreten Fall gar nicht auf die gegenüber dem Zeugen pp. im Wege der Nachvernehmung getätigten Aussage ankommen dürfte. Doch auch, wenn das Amtsgericht seine Beweiswürdigung auf die gegenüber dem Zeugen pp. abgegebene Aussage in der Nachvernehmung stützen wird, stellt die Entscheidung über ein Beweisverwertungsverbot wegen einer unterbliebenen Beschuldigtenbelehrung im Ermittlungsverfahren keine komplexe und höchstrichterlich ungeklärte Rechtsfrage dar.

Der Fall ist sowohl in sachlicher als auch in rechtlicher Hinsicht einfach gelagert.

2. Eine Pflichtverteidigerbestellung ist auch nicht deshalb erforderlich, weil die Angeklagte sich nicht selbst verteidigen könnte.

Ob der Beschuldigte in der Lage ist, sich selber zu verteidigen, ist unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls zu beurteilen, wobei insbesondere die Persönlichkeit mitsamt der seelischen Verfassung des Jugendlichen und der Tatvorwurf einzubeziehen sind (BeckOK/Noak, JGG, 11. Edition, § 68 Rn. 28). Relevant für die Frage der Verteidigungsfähigkeit sind etwaige Anhaltspunkte für Faktoren der Unterlegenheit im psychischen Bereich wie Schüchternheit, Empfinden des Ausgeliefertseins oder psychische Schwäche, sowie verminderte Intelligenz. Das Gleiche gilt für etwaige erhebliche Defizite im Leistungsbereich wie zum Beispiel im Elementarbildungsniveau oder das Vorhandensein einer Schreib-Leseschwäche. Ferner können etwaige Beeinträchtigungen im Sozialverhalten relevant sein, gerade auch im Zusammenhang mit Alkohol- oder Betäubungsmitteleinfluss (vgl. Eisenberg JGG, 20. Auflage 2018, § 68 Rn. 27, 27a). Solche Beeinträchtigungen liegen bei der Angeklagten nicht vor. Sie geht in die neunte Klasse der Realschule pp. und es bestehen keinerlei Hinweise auf eine verminderte Intelligenz oder erhebliche Defizite im Leistungsbereich. Auch im Sozialverhalten zeigte sich die Angeklagte nach vorläufigem Bericht der Jugendgerichtshilfe bislang nicht auffällig. Der Tatvorwurf ist vorliegend denkbar einfach gelagert und auch für die Angeklagte, die nunmehr 15 Jahre und 6 Monate alt ist, leicht überschaubar. Im Übrigen kann diese die Unterstützung ihrer Mutter vor Gericht in Anspruch nehmen. Diese war zwar weder am 15. April 2018 noch bei den beiden polizeilichen Aussagen der Tochter zugegen, sie kann sich den Sachverhalt jedoch – ebenso wie der Verteidiger – von der Angeklagten im Vorfeld schildern lassen und ihrer Tochter bei der Darlegung des Sachverhaltes in der Hauptverhandlung behilflich sein. Darauf, dass sich die Angeklagte lieber von einem Anwalt vertreten lassen will, kommt es nicht an.

3. Schließlich ist die Mitwirkung eines Verteidigers auch nicht wegen der Schwere der Tat geboten.

Für die Gewichtung des Tatvorwurfs ist auch im Jugendstrafrecht maßgeblich auf die zu erwartende Rechtsfolgenentscheidung abzustellen. Zu berücksichtigen sind aber auch die Verteidigungsfähigkeit des Angeklagten sowie sonstige schwerwiegende Nachteile, die er infolge der Verurteilung zu gewärtigen hat. Die Schwere der Tat gebietet danach die Beiordnung eines Pflicht-verteidigers grundsätzlich auch im Jugendstrafrecht jedenfalls dann, wenn nach den Gesamtumständen eine Freiheitsentziehung von mindestens einem Jahr zu erwarten ist oder jedenfalls an-gesichts konkreter Umstände in Betracht kommt.

Bei der nicht vorbestraften Angeklagten ist nicht von einer Anwendung von Jugendstrafrecht auszugehen.

Da auch ein Fall des § 68 Nr. 4 JGG nicht vorliegt, war die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.“

Ich rufe in Erinnerung: Die Angeklagte ist knapp 15 Jahre alt.

Und einer so jungen Angeklagten wird vorgehalten, dass die Frage, ob ihre Angaben in ihrer zweiten Vernehmung trotz der unterlassenen Beschuldigtenbelehrung verwertbar sind, kurzerhand für irrelevant sei und dazu lapidar ausführt, der Tatnachweis könne ja auch anderweitig geführt werden. Abgesehen davon, dass die Frage eines Beweisverwertungsverbotes in den Fällen nun wahrlich nicht zum täglichen Allerlei gehört, hängt die Frage, ob ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist, doch nicht davon ab, welche sonstigen Beweismittel zur Verfügung stehen. Man kann doch auch nicht voraussetzen, dass eine 15-Jährige (!) die Rechtsprechung zur Frage eines Beweisverwertungsverbots schon kennen wird, da es ja nicht um eine höchstrichterlich ungeklärte Frage gehe. In meinen Augen: Verfehlte Argumentation. Und: Kein Wort zu anders lautender Rechtsprechung, mit der man sich lieber gar nicht erst auseinander setzt. Augen zu und durch.

Damit setzt die Kammer die Angeklagte der Gefahr ausgesetzt, eines ganz wesentlichen Strafmilderungsgrunds verlustig zu gehen, würde doch ein Strafverteidiger angesichts der aufgrund der WhatsApp-Nachrichten recht ungünstigen Beweislage zumindest erwägen, der Verwertung der Angaben trotz des Verfahrensfehlers zuzustimmen, um auf der Rechtsfolgenebene damit argumentieren zu können, dass die Tat bereits in einem eher frühen Verfahrensstadium eingeräumt wurde. Zu derartigen Erwägungen ist eine 15-Jährige offensichtlich nicht in der Lage.

Endgültig zum großen Ärgernis wird der Beschluss, wenn die Kammer die Angeklagte dann darauf verweist, sie möge doch ihre Mutter in die Sitzung mitbringen. Das Anwesenheitsrecht der Erziehungsberechtigten in der Hauptverhandlung soll doch jugendlichen Angeklagten (zuästzliche) Hilfe und Unterstützung sichern, und nicht die Bestellung von Pflichtverteidigern verhindern. Findet die Argumentation des LG Koblenz Nachahmer, wird wohl bald der erste erwachsene Angeklagte zu lesen bekommen, dass ihm kein Verteidiger bestellt wird, da er ja seine Frau in die Hauptverhandlung mitbringen könne (s. § 149 StPO). Und man fragt sich, welches Verständnis die Kammer eigentlich von den Rechten (jugendlicher) Angeklagter hat. Offensichtlich ein verfehltes.

Im Übrigen: Das AG hat es für angemessen gehalten, einen im August gestellten Beiordnungsantrag im Dezember zu bescheiden. Wie man das mit dem im JGG-Verfahren geltenden Beschleunigungsgrundsatz in Einklang bringen will, erschließt sich nicht. Dazu von der Kammer natürlich kein Wort. Warum auch? ist/war ja alles nicht schwierig und die Angeklagte kann es gut allein machen. Unfassbar.