Von meinem „Urteilsbegleiter des Vertrauens“ – Oliver Garcia vom Blog de legisbus – bin ich auf den OLG Hamm, Beschl. v. 02.06.2015 – 1 ollz S) 180/15 hingewiesen und gefagt worden, ob das nichts für mein Blog wäre. Ja, es ist etwas, denn es geht um die Frage der Koalitionsfreiheit im Strafvollzug und um die Auswirkungen eines im Strafvollzug gegründeten Vereins. Es gibt nämlich, was ich bislang nicht wusste, eine imMai 2014 als nicht rechtsfähiger Verein gemäß § 54 i.V.m. § 21 BGB gegründete „Gefangenengewerkschaft/Bundesweite Organisation“. Der Antragsteller (im OLG Hamm-Verfahren) ist seit Juni 2014 als gewählter Sprecher dieses Vereins für die Justizvollzugsanstalten X I und II einschließlich der Zweiganstalten L und N tätig. Im Rahmen seiner Tätigkeit als Sprecher versucht er, Mitgefangene zur Mitgliedschaft anzuwerben. Der Vereinsgründe S sandte an den Betroffenen im Juli und August 2014 ein Exemplar der Erstausgabe der Zeitschrift „P“, Briefpapier mit dem Aufdruck „Gefangenengewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO)“ und Anträge auf Mitgliedschaft in der Gefangenengewerkschaft in unbekannter Menge. Diese Sendungen wurden zunächst der Abteilung für Sicherheit und Ordnung zur Prüfung zugeleitet. Ihre sofortige Aushändigung unterblieb, weil die Justizvollzugsanstalt der Auffassung war, der Antragsteller habe vor der Lieferung einen Antrag auf Zusendung von Gegenständen stellen müssen. Am 04.08.2014 stellte der Betroffene einen Antrag auf Herausgabe der Gegenstände. Am 05.08.2014 entschied der Leiter der Justizvollzugsanstalt X I, dass die zugesandten Unterlagen zur Habe zu nehmen seien.
„bb) Nach § 28 Abs. 2 S. 2 StVollzG NW können vom Paketempfang ausgeschlossene Gegenstände zur Habe genommen werden. Nach § 28 Abs. 1 S. 2 StVollzG NW sind (neben hier nicht relevanten Nahrungs- und Genussmitteln) ausgeschlossene Gegenstände solche, die die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt gefährden. Aus § 15 Abs. 2 S. 2 StVollzG NW ergibt sich, dass Strafgefangene nur solche Gegenstände in ihrem Gewahrsam haben dürfen, die ihnen erlaubt wurden. Aus § 15 Abs. 2 S. 3 StVollzG NW folgt, dass Gefangene bestimmte Gegenstände, u.a. solche, die die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt oder die Erreichung des Vollzugsziels gefährden, nicht besitzen dürfen.
Aus dem Zusammenspiel dieser beiden Vorschriften ergibt sich, dass Gefangene bestimmte Gegenstände schon aufgrund gesetzlicher Anordnung nicht besitzen bzw. empfangen dürfen. Insoweit besteht allenfalls auf Tatbestandsseite ein gewisser Beurteilungsspielraum (vgl. dazu: Kment/Vorwalter, JuS 2015, 193) der Justizvollzugsanstalt. Bei anderen Gegenständen hängt der Besitz bzw. Empfang von einer Erlaubnis ab, welche im Ermessen der Anstalt steht.29
Die Antragsformulare sind keine Gegenstände, deren Empfang bzw. Besitz schon aufgrund des Gesetzes verboten wäre. Sie gefährden weder die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt noch das Erreichen des Vollzugszieles.
Bzgl. der Gefährdung der Sicherheit oder Ordnung ist auf eine abstrakte, vom Verhalten des einzelnen Gefangenen unabhängig zu beurteilende Gefährdung abzustellen (vgl. nur BVerfG NStZ 2003, 621 m.w.N.) Eine solche (auch nur abstrakte) Eignung der Antragsformulare für eine Gefährdung der Sicherheit der Anstalt ist nicht erkennbar. Es ist nicht ersichtlich und auch nicht Grund der Versagung, dass etwa mittels der Papierblätter gefährliche, waffenähnliche Gegenstände hergestellt werden könnten oder dass sie einen gedanklichen Inhalt aufweisen, der die Sicherheit der Anstalt gefährden könnte. Auch einen ordnungsgefährdenden Inhalt, also einen Inhalt, der das geordnete Zusammenleben der Gefangenen beeinträchtigen könnte, weist ein bloßes Antragsformular nicht auf. Zu dem Inhalt des Antragsformulars wurden nähere Feststellungen nicht getroffen, so dass angesichts der Bezeichnung „Antragsformular“ und angesichts der erfolgten Aushändigung eines Exemplars davon auszugehen ist, dass es lediglich die Erklärung erhält, dass der Vereinigung beigetreten wird und es Leerstellen enthält zur Angabe bestimmter persönlicher Daten des Antragstellers. Der gedankliche Inhalt des Antragsformulars ist damit nicht gefährlich. Auch eine Gefährdung des Vollzugsziels ist nicht zu erkennen.31
Die Antragsformulare könnten allenfalls dann zu gefährlichen Gegenständen werden, wenn der Betroffene sie zur Mitgliederwerbung für die Gefangenengewerkschaft nutzt und durch diese Tätigkeit die Bildung subkultureller Strukturen, welche der Erreichung des Vollzugsziels entgegenstehen, gefördert würde, bzw. Druck auf andere Gefangene ausgeübt würde, indem ihnen (ggf. konkludent) Nachteile in Aussicht gestellt würden für den Fall eines Nichtbeitritts zur Gefangenengewerkschaft. Insoweit handelt es sich aber nicht um eine Gefahr, die von den Antragsformularen ausgeht, sondern bestenfalls um eine solche die – unabhängig von den Formularen – von einer Werbetätigkeit des Betroffenen (die ihm offenbar als solche nicht untersagt ist) ausgehen könnte. Denn Mitgliederwerbung kann der Betroffene auch ohne Antragsformulare betreiben und es ist auch nichts dafür erkennbar, dass die Gefangenengewerkschaft nur solche Bewerber aufnimmt, die sich mit dem Antragsformular um eine Mitgliedschaft bewerben (also Formularzwang herrscht), aber solche die dies in anderer Weise tun (etwa durch eigenes Schreiben oder durch vom Betroffenen auf dem ihm ausgehändigten Briefpapier vorformulierte Anträge), nicht. Die Justizvollzugsanstalt hat aber selbst die Werbetätigkeit des Betroffenen nicht als gefährlich eingestuft (jedenfalls enthält der angefochtene Beschluss dazu keine Feststellungen), sondern im Verfahren vor der Strafvollstreckungskammer lediglich damit argumentiert, dass sie ihn bei dieser nicht unterstützen könne, da er ohnehin kein Recht zur Organisation in einer Gefangenengewerkschaft habe.
Letzteres ist indes so nicht zutreffend. Die Grundrechte der Vereinigungs- bzw. Koalitionsfreiheit sind – von Art. 9 Abs. 2 GG abgesehen – vorbehaltslos gewährleistet ist und gelten auch im Bereich des Strafvollzuges (OLG Karlsruhe NStZ 1983, 527; OLG Nürnberg NStZ 1986, 286; LG Mannheim NStZ 1982, 487, 488; wohl auch: KG Berlin NStZ 1982, 222). Vom Schutzbereich der Grundrechte ist auch die Mitgliederwerbung umfasst (BVerfGE 84, 372, 378). Diese Grundrechte unterliegen zwar verfassungsimmanenten Schranken (vgl. BVerfG NStZ 1983, 331; OLG Karlsruhe a.a.O.; OLG Nürnberg a.a.O.; BayObLG NStZ 1982, 84 m. Anm. Seebode). So mögen sie durch diese einschränkbar sein, soweit dies für einen funktionierenden Strafvollzug erforderlich ist. Diese Grundsätze wurden – nach Maßgabe der Ausführungen im angefochtenen Beschluss – aber weder durch den Leiter der Justizvollzugsanstalt im Rahmen der gebotenen Ermessensentscheidung noch durch die Strafvollstreckungskammer berücksichtigt.Bei der erneuten Behandlung und Entscheidung wird die Strafvollstreckungskammer mithin zu prüfen haben, ob der Leiter der JVA X I die Bedeutung des Grundrechts aus Art. 9 Abs. 1 oder Abs. 3 GG (der angefochtene Beschluss enthält keine näheren Angaben zu den Zwecken und dem Betätigungsfeld der Gefangenengewerkschaft; ebenso enthält er auch keine Angaben, ob der Betroffene in den personellen Schutzbereich von Art. 9 Abs. 1 GG fällt) im Rahmen seiner Ermessensentscheidung hinreichend berücksichtigt hat. Weitere Feststellungen erscheinen dem Senat möglich.„