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BGH I: Hat die Hauptverhandlung schon begonnen?, oder: Wer ist „gesetzlicher Richter“?

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Ich stelle heute drei BGH-Entscheidungen vor. Die beiden ersten sind zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt.

Hier dann zunächst das BGH, Urt. v. 17.01.2024 – 2 StR 459/22 – zum Begriff des Beginns der Hauptverhandlung und zum gesetzlichen Richter.

Der Angeklagte ist vom LG wegen eines Verstoßes gegen das BtMG verurteilt worden. Dagegen die Revision des Angeklagten, mit der Verfahrensrüge und Sachrüge erhoben hat. Die Revision hatte keinen Erfolg.

Bei der Verfahrensrüge ging es um folgendes Verfahrensgeschehen: Der Vorsitzende der Strafkammer hatte den mit den Verfahrensbeteiligten abgesprochenen Beginn der Hauptverhandlung auf den 08.04.2022 und weiteren Fortsetzungstermine festgesetzt. Da der 08.04.2022 kein regulärer Sitzungstag der Strafkammer war, wurden ihr die Ersatzschöf­fen D und B zugewiesen. Die Gerichtsbesetzung wurde den Be­teiligten mit Verfügung vom 31.03.2022 mitgeteilt.

Der Verteidiger eines Mit­angeklagten teilte dem Vorsitzenden am 05.04.2022 mit, sein Mandant sei mittels PCR-Test positiv auf das Coronavirus getestet wor­den; eine Vorführung könne deshalb nicht erfolgen. Der Vorsitzende benachrichtigte die Verfahrensbeteiligten per E-Mail da­raufhin, dass die Sache dennoch aufgerufen werden solle; ggf. könne ein Rechtsgespräch geführt werden.

Am 08.04.2022 rief der Vorsitzende dann die Sache auf. Als Schöffen wirkten die ehrenamtlichen Richter D und B mit. Der Vorsitzende gab nach der Bestellung von Pflichtverteidigern be­kannt, dass das Verfahren nicht abgetrennt, sondern abgewartet werden solle, wie die COVID-19-Erkrankung ver­laufe. Die Hauptverhandlung wurde sodann bis zur Fortsetzung am 26.04.2022 unterbrochen. Im Anschluss führte die Strafkammer einschließlich der Schöffen außer­halb der Hauptverhandlung mit den weiteren Verfahrensbeteiligten ein nichtöf­fentliches Rechtsgespräch. Am 26.04.2022 rief der Vorsitzende die Sache in unveränderter Besetzung auf und setzte die Verhandlung fort. Einen förmlichen Einwand gegen die Gerichtsbesetzung oder das Vorgehen des Vorsitzenden er­hob keiner der Verfahrensbeteiligten. Die Revision des Angeklagten beanstandet, die Hauptverhandlung habe erst am 26.04. 2022 begonnen. Deshalb hätten auch die für diesen Tag  als ordentlichen Sitzungstag der Strafkammer bestimmten Schöf­fen Z  und Bä am Urteil mitwirken müssen.

Ich stelle hier nur die Leitsätze des BGH ein. Wegen der Einzelheiten der doch recht umfangreichen Begründung verweise ich auf den verlinkten Volltext:

    1. Die Hauptverhandlung beginnt gemäß § 243 Abs. 1 Satz 1 StPO mit demAufruf der Sache; damit sind die für diesen Sitzungstag bestimmten Schöffen zur Verhandlung und Entscheidung in der Sache berufen.
    2. Das grundrechtsgleiche Recht des Angeklagten auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG kann durch den Aufruf der Sache im Einzelfall verletzt werden, wenn sich der Vorsitzende dafür mit missbräuchlichen Erwägungen entscheidet.

Missbrauch hat der BGH hier im Übrigen verneint.

StPO II: Auch ein Feiertag kann zum ordentlicher Sitzungstag bestimmt werden, oder: Gesetzlicher Richter

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Die zweite StPO-Entscheidung kommt vom 3. Strafsenat des BGH, und zwar mit dem BGH, Beschl. v. 16.10.2018 – 3 StR 168/18. Ergangen ist sie in einem Revisionsverfahren betreffend ein Urteil des LG Verden. Dort hatte der LG-Präsident den 31.10.2017 als Sitzungstag bestimmt, obwohl der Tag, der sonst nur in einigen Bundesländern Feiertag ist, bundesweit als Feiertag bestimmt worden war. Grund: 500 Jahre Reformation.

In der Revision war dann mit der Verfahrensrüge die vorschriftswidrige Besetzung des Landgerichts beanstandet worden. Der BGH hat die  Rüge als unbegründet angesehen,

„…. weil der Präsident des Landgerichts den 31. Oktober 2017 in rechtmäßiger Weise als ordentlichen Sitzungstag der Schwurgerichtskammer festgestellt hat.

Es kann offenbleiben, ob die Feststellung der ordentlichen Sitzungstage der Strafkammer gemäß § 77 Abs. 1 und 3, § 45 Abs. 1 GVG einer vollumfänglichen Rechtmäßigkeits- oder einer bloßen Willkürprüfung unterliegt (zur Unterscheidung: BVerfG, Beschlüsse vom 16. Februar 2005 – 2 BvR 581/03, NJW 2005, 2689, 2690; vom 23. Dezember 2016 – 2 BvR 2023/16, wistra 2017, 187, 189; vom 20. Februar 2018 – 2 BvR 2675/17, NJW 2018, 1155, 1156; BGH, Urteile vom 22. November 2013 – 3 StR 162/13, BGHSt 59, 75, 79 f.; vom 9. April 2009 – 3 StR 376/08, BGHSt 53, 268, 274 ff.; Beschluss vom 10. Juli 2013 – 2 StR 116/13, NStZ 2014, 226, 227), da sie sich auch bei Anlegung des strengeren Maßstabs als rechtsfehlerfrei erweist.

§ 45 GVG dient der Konkretisierung des gesetzlichen Richters (KK-Barthe, StPO, 7. Aufl., § 45 GVG Rn. 1) und gewährleistet durch die weitgehend generell-abstrakte Vorherbestimmung der Zuständigkeit den „gesetzlichen Schöffen“ (MüKoStPO/Schuster, § 45 GVG Rn. 1). Die (vollumfängliche) Überprüfung des Geschäftsverteilungsplans auf Grund einer diesen selbst betreffenden Rüge ist daher an den Gewährleistungen des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu messen und richtet sich darauf, ob die angewendete Regelung generell-abstrakt ist (BVerfG, Beschlüsse vom 23. Mai 2012 – 2 BvR 610/12 u.a., NStZ 2012, 458, 459; vom 23. Dezember 2016 – 2 BvR 2023/16, wistra 2017, 187, 189; vom 20. Februar 2018 – 2 BvR 2675/17, NJW 2018, 1155, 1156).

Danach ist gegen die Feststellung von Feiertagen als ordentliche Sitzungstage des Schöffengerichts bzw. der Strafkammern rechtlich nichts zu erinnern, weil sie einfachgesetzlich zulässig ist und die generell-abstrakte Festlegung des gesetzlichen Richters im Voraus gewährleistet. Weder die Strafprozessordnung noch das Gerichtsverfassungsgesetz verbieten grundsätzlich die Anberaumung von Hauptverhandlungstagen an Wochenenden oder Feiertagen (LR/Jäger, StPO, 26. Aufl., § 213 Rn. 6; KK-Gmel, StPO, 7. Aufl., § 213 Rn. 4a); gegebenenfalls kann sie sogar geboten sein (BVerfG, Beschluss vom 29. November 2005 – 2 BvR 1737/05, NJW 2006, 668, 670). Die praktische Durchführung solcher in richterlicher Unabhängigkeit festgesetzten Hauptverhandlungstage wird im vorliegenden Fall durch § 9 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Nds.ArbZVO gewährleistet, der es dem Dienstvorgesetzten des nichtrichterlichen Dienstes ermöglicht anzuordnen, dass an Sonntagen, Feiertagen oder an anderen dienstfreien Tagen Dienst zu leisten ist. Die spätere, tatsächliche Anberaumung eines konkreten Hauptverhandlungstermins obliegt gemäß § 213 Abs. 1 StPO ohnehin dem Vorsitzenden.

Schließlich wird die generell-abstrakte Festlegung des gesetzlichen Richters durch die Feststellung von Feiertagen als ordentliche Sitzungstage in keiner Weise beeinträchtigt, da sie genauso zu im Voraus bestimmten Schöffen führt wie die ausschließliche Feststellung von Werktagen.“

Fassungslos, wenn ein Schwurgericht jahrelang keinen kammerinternen Geschäftsverteilungsplan hat, oder: Mia san mia?

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Heute dann ein „Besetzungstag“ und den eröffnet der BGH, Beschl. v. 08.02.2017 – 1 StR 493/16.

Wenn man den Beschluss liest, dann weiß man nicht, wie man das Posting überschreiben soll. „Klassischer Fehler“ wäre falsch, denn es ist wohl zum Glück kein „klassischer Fehler“ i.e.S. Auch „Anfängerfehler“ wird dem Verfahrensgeschehen nicht gerecht. Ich habe mich dann für „Ich bin fassungslos“ entschieden, weil es die Sache m.E. am besten trifft.

Worum geht es? Nun, es geht um § 21g GVG, der da lautet:

„(1) Innerhalb des mit mehreren Richtern besetzten Spruchkörpers werden die Geschäfte durch Beschluss aller dem Spruchkörper angehörenden Berufsrichter auf die Mitglieder verteilt. Bei Stimmengleichheit entscheidet das Präsidium.
(2) Der Beschluss bestimmt vor Beginn des Geschäftsjahres für dessen Dauer, nach welchen Grundsätzen die Mitglieder an den Verfahren mitwirken; er kann nur geändert werden, wenn es wegen Überlastung, ungenügender Auslastung, Wechsels oder dauernder Verhinderung einzelner Mitglieder des Spruchkörpers nötig wird.“
Also im Grunde genommen ganz einfach und auf den Punkt gebracht: Jede Strafkammer muss einen sog. kammerinternen Geschäftsverteilungplan haben, der „vor Beginn des Geschäftsjahres“ ausgestellt sein muss. Das/ein Schwurgericht beim LG München I war offenbar anderer Auffassung – vielleicht unter Anwendung des Satzes: „Mia san mia“. Dort gab es für die Jahre 2012 – 2015 (!!!!!!!!) eine solche kammerinterne Geschäftsverteilung nicht. Das wird dann von einem Verteidiger in einem Verfahren wegen versuchten Totschlags mit der Besetzungsrüge geltend gemacht. Der Besetzungseinwand wird vom Schwurgericht als unbegründet zurückgewiesen und zur Begründung u.a. darauf verwiesen: „Mit Anklageerhebung Ende März 2015 lag zwar kein schriftlicher interner Geschäftsverteilungsplan der 1. Strafkammer für das Geschäftsjahr 2015 vor. Eine schriftliche Beschlussfassung war jedoch – wie auch für die Geschäftsjahre 2012 und 2014 – nur versehentlich unterblieben und wurde am 16.04.2015 unmittelbar nach Erkennen des Fehlens für das verbleibende Geschäftsjahr 2015 nachgeholt. Der Geschäftsverteilungsplan vom 16.04.2015 sieht im Übrigen keine Abweichungen zur Geschäftsverteilung vor, wie sie zuletzt mit Beschluss vom 27.12.2012 für das Geschäftsjahr 2013 schriftlich festgelegt worden war und aufgrund mündlicher Übereinkunft der Kammermitglie-der auch in der Folgezeit so gehandhabt wurde. Es kann mithin nicht von einem willkürlichen Verstoß gegen die Vorgaben aus § 21g Abs. 1 und 2 GVG ausgegangen werden.

Es wird dann „munter“ verhandelt und der Angeklagte wird zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten verurteilt. Nicht so „munter “ ist dann der BGH. Der schreibt dem Schwurgericht einiges zum gesetzlichen Richter ins Stammbuch:

„Das Gebot des gesetzlichen Richters wird dabei nicht erst durch eine willkürliche Heranziehung im Einzelfall verletzt. Unzulässig ist vielmehr auch schon das Fehlen einer abstrakt-generellen und hinreichend klaren Regelung, aus der sich der im Einzelfall zur Entscheidung berufene Richter möglichst eindeutig ablesen lässt (BVerfG, Plenumsbeschluss vom 8. April 1997 – 1 PBvU 1/95, BVerfGE 95, 322 Rz. 30). Entsprechend ist deshalb in § 21g Abs. 1 und 2 GVG geregelt, dass innerhalb eines mit mehreren Richtern besetzten Spruchkörpers vor Beginn des Geschäftsjahres für dessen Dauer die Geschäfte durch Beschluss aller dem Spruchkörper angehörenden Berufsrichter zu verteilen sind. Wie für die allgemeine gerichtsinterne Geschäftsverteilung gilt auch für die kammerinterne Geschäftsverteilung damit das Jährlichkeitsprinzip, nach dem die Regelung der Geschäftsverteilung mit dem Ablauf des Geschäftsjahres, das mit dem Kalenderjahr übereinstimmt, ohne weiteres außer Kraft tritt (BGH, Beschluss vom 5. Mai 2004 – 2 StR 383/03, BGHSt 49, 130).

2. Diese Anforderungen wurden vom Landgericht nicht beachtet. Die 1. Strafkammer verfügte im Zeitpunkt des Eingangs der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft München I vom 23. März 2015 nicht über eine kammerinterne Geschäftsverteilung für das Geschäftsjahr 2015.

a) Soweit die Strafkammer, was aus dem Ablehnungsbeschluss der Besetzungsrüge vom 19. Oktober 2015 auch deutlich wird, jedenfalls mündlich beschlossen hat, dass die bisherigen Mitwirkungsgrundsätze für das Ge-schäftsjahr 2015 weiter anzuwenden sind, vermag dies am Fehlen einer kammerinternen Geschäftsverteilung nichts zu ändern; denn damit wird die verfas-sungsrechtlich gebotene Schriftform nicht beachtet.

b) Die mit Beschluss vom 16. April 2015 ab diesem Zeitpunkt von den Mitgliedern der Strafkammer geschaffene kammerinterne Geschäftsverteilung für das verbleibende Geschäftsjahr 2015 hat zwar eine ordnungsgemäße Ge-schäftsverteilung innerhalb des Spruchkörpers für nach diesem Zeitpunkt neu eingehende Verfahren geschaffen, kann aber für zu diesem Zeitpunkt bereits anhängige Verfahren nachträglich keinen wirksamen kammerinternen Mitwirkungsplan begründen.

Da die Garantie des gesetzlichen Richters eine generell-abstrakte Rege-lung über die Geschäftsverteilung innerhalb des Spruchkörpers entsprechend dem Vorausprinzip erfordert, kann maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen einer solchen Regelung nur der Zeitpunkt der Anhängigkeit eines Verfahrens beim jeweiligen Spruchkörper sein, zu dem die zuständige Spruchgruppe innerhalb der Strafkammer nach den Mitwirkungsgrundsätzen für den weiteren Verfahrensgang festgelegt wird. Für das Vorliegen einer wirksamen spruchkör-perinternen Regelung zur Geschäftsverteilung darf daher nicht erst auf den Zeitpunkt des Eröffnungsbeschlusses vom 31. Juli 2015 abgestellt werden, zu dem die Strafkammer letztlich über eine entsprechende Mitwirkungsregelung für 2015 verfügte.“

Wie gesagt: Mich macht das fassungslos. Ein Schwurgericht (!!!) hat über Jahre hin keinen kammerinternen Geschäftsverteilungsplan. Ich denke, das ist kein „Anfängerfehler“ und sicherlich/hoffentlich auch kein „klassischer Fehler“. Und als man vom Verteidiger „erwischt2 wird, meint man, das mit einem „nachträglichen Geschäftsverteilungsplan“ ändern zu können und verfährt nach dem Motto: Augen zu und durch. Zum Glück hat der BGH das gestoppt.

Was nun? Nun, die Sache muss beim LG München I neu verhandelt werden. Und was ist mit früheren Verfahren? Insoweit stellt sich die Frage der Wiederaufnahme. Allerdings sehe ich einen Wiederaufnahmegrund in § 359 StPO nicht, habe aber nicht in einen Kommentar geschaut; in Betracht käme für mich ggf. § 359 Nr. 3 StPO – aber die Voraussetzungen sehe ich im Momnet nicht. Jedenfalls ist das aber wohl angedacht, wie die SZ hier berichtet: „Schwurgericht hat Urteile möglicherweise ohne rechtliche Grundlage gefällt„. Ich verweise auf diesen Bericht, obwohl ich ihn in den Formulierungen mehr als „schwach“ finde. Wenn ich schon lese: „Ein Münchner Anwalt hatte bei einem Prozess die fehlerhafte Praxis gerügt und beim Bundesgerichtshof geklagt.“ Von der SZ erwarte ich dann schon etwas mehr.