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OWi I: Einspruchsverwerfung, oder: Nicht, wenn die Fürsorgepflicht die Terminsverlegung gebietet

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Der Tag heute ist drei verfahrensrechtlichen Entscheidungen aus dem Bußgeldverfahren gewidmet.

Bei der ersten Entscheidung handelt es sich um den KG, Beschl. v. 8.10.2019 – 3 Ws (B) 282/19. Ergangen ist sie nach einer Verurteilung des Betroffenen wegen eines qualifizierten Rotlichtverstoßes. Der Verteidiger hatte vor der Hauptverhandlung beanstandet, dass ihm die Messdaten im tuff-Format nicht gewährt worden ist. Diese Daten erhielt er erst am Tag vor dem Hauptverhandlungstermin. Noch am selben Tag beantragte er die Verlegung des Hauptverhandlungstermins, da ihm die Einsicht in die nun vorliegenden Messdaten noch nicht möglich gewesen und beabsichtigt sei, diese an den von der Verteidigung beauftragten Sachverständigen zur Auswertung zu übermitteln. Das AG hat am Folgetag den Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid verworfen, da er im Hauptverhandlungstermin trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht erschienen war, obgleich er nicht von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden gewesen ist. Zur Begründung hat es ausgeführt, dem Aussetzungsantrag des Verteidigers, der dem Gericht am Hauptverhandlungstag zuging und mit dem der Verteidiger erneut Akteneinsicht beantragt, um die Falldatei im Tuff-Format einzusehen, werde nicht stattgegeben. Es habe bereits ausreichend Gelegenheit zur Akteneinsicht bestanden. Die Akte mit den entsprechenden Rohmessdaten sei an den Verteidiger zur Akteneinsicht übersandt worden. Bereits fünfmal seien Termine anberaumt und auf Anträge der Verteidigung verlegt worden.

Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen war erfolgreich:

„Die Rechtsbeschwerde führt auf die nach § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 OWiG statthafte und in zulässiger Weise erhobene Verfahrensrüge zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht.

Das nach § 74 Abs. 2 OWiG ergangene Verwerfungsurteil hat keinen Bestand, weil das Amtsgericht durch die Ablehnung des Terminverlegungsantrages gegen seine prozessuale Fürsorgeflicht verstoßen hat.

Das Gericht hat den Einspruch des Betroffenen ohne Verhandlung zur Sache durch Urteil zu verwerfen, wenn dieser ohne genügende Entschuldigung ausbleibt, obwohl er nicht von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden war, § 74 Abs. 2 OWiG. Die Entschuldigung eines Ausbleibens im Termin ist dann als  genügend anzusehen, wenn die im Einzelfall abzuwägenden Belange des Betroffenen einerseits und seine öffentlich-rechtliche Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung andererseits den Entschuldigungsgrund als triftig erscheinen lassen (vgl. Senat, Beschluss vom 27. August 2018 — 3 Ws (B) 194/18 -, juris).

Der Betroffene war in diesem Sinne genügend entschuldigt, da der Verteidigung die Einsichtnahme in die vom Gericht beigezogenen Daten ohne eigenes Verschulden vor der Hauptverhandlung nicht möglich war und das Gericht angesichts dessen mit der Ablehnung des darauf gestützten Terminverlegungsantrags seine Fürsorgepflicht verletzt hat.

1. Die Umsetzung der dem Verteidiger formal gewährten Akteneinsicht konnte vor dem Hintergrund des Umstandes, dass ihm die Mitteilung hierüber erst am Tag vor dem Hauptverhandlungstermin zugegangen ist, nicht in zumutbarer Weise erfolgen.

Das Recht eines Betroffenen, sich nach §§ 137 Abs. 1 Satz 1 StPO, 46 Abs. 1 OWiG in jeder Lage des Verfahrens des Beistands eines Verteidigers zu bedienen, umfasst vor dem Hintergrund des darin zum Ausdruck kommenden Rechts auf ein faires Verfahren auch die Befugnis, sich im Ordnungswidrigkeitenverfahren von einem  gewählten Anwalt seines Vertrauens verteidigen zu lassen (vgl. OLG Thüringen VRS 113, 322; BayObLG, Beschluss vom 31. Oktober 2001 – 1 ObOWi 433/01  juris m.w.N.). Diesem ist gemäß § 147 Abs. 1 StPO, § 46 Abs. 1 OWiG Einsicht in die dem Gericht vorliegenden Akten zu gewähren, worunter auch jene Aktenbestandteile zählen, die vom Gericht beigezogen worden sind (vgl. BGH, Beschluss vom 11. November 2004 – 5 StR 299/03 – und Urteil vom 26. Mai 1981 – 1 StR 48/81 -, jeweils bei juris; OLG Karlsruhe NStZ 1982, 299).

Die Verteidigung kann zwar, soweit es zur Überprüfung des standardisierten Messverfahrens erforderlich ist, grundsätzlich auch in solche Unterlagen Einsicht nehmen, die sich nicht bei den Akten befinden, da sie ohne Kenntnis aller  Informationen, die den Verfolgungsbehörden zur Verfügung stehen, nicht beurteilen kann, ob Beweisanträge gestellt oder Beweismittel vorgelegt werden sollen (vgl. Senat, Beschluss vom 27. April 2018 — 3 Ws (B) 133/18 -, juris). Sind aber derartige Unterlagen vom Gericht beigezogen worden, hat es der Verteidigung die Einsicht in diese – in zumutbarer Weise (vgl. OLG Hamm NJW 1972, 1096) – zu ermöglichen.

Zwar hat die Tatrichterin die Einsichtnahme in die Dateien im tuff-Format genehmigt, allerdings war es dem in Gotha ansässigen Verteidiger angesichts des Umstandes, dass dieser erst am Tag vor dem Hauptverhandlungstermin Kenntnis vom Eingang der Unterlagen erlangte, faktisch nicht mehr möglich, die Akteneinsicht in zumutbarer Weise wahrzunehmen. Dies gilt insbesondere angesichts des Umstandes, dass es der Verteidigung gerade darum bestellt war, die erforderten Unterlagen dem von ihr hinzugezogenen Sachverständigen zur Prüfung zu übergeben, was dem Amtsgericht aufgrund der Übersendung dessen vorläufiger Einschätzung und der entsprechenden Mitteilungen durch den Verteidiger bekannt war.

2. Die gerichtliche Fürsorgepflicht hätte es daher erfordert, dem Terminverlegungsantrag zu entsprechen.

Das Gericht hat über einen Terminaufhebungsantrag der Verteidigung nach  pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, wobei maßgeblich ist, ob die gerichtliche Fürsorgepflicht eine Terminverlegung gebietet (vgl. Senat, Beschluss vom 30. Juli 2014 – 3 Ws (B) 255/14 -, juris). Die Terminierung ist grundsätzlich Sache des Vorsitzenden, der jedoch gehalten ist, über derartige Anträge unter Berücksichtigung  der eigenen Terminplanung, der Gesamtbelastung des Spruchkörpers, des Gebotes der Verfahrensbeschleunigung und der • berechtigten Interessen der Prozessbeteiligten zu entscheiden (vgl. BGH NStZ 1998, 311; Senat, Beschluss vom  30. Juli 2014 a.a.O.). Bei dieser Güterabwägung ist insbesondere das Verteidigungsinteresse des Betroffenen zu berücksichtigen, welchem im Zweifel Vorrang einzuräumen ist (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 25. Juni 2015 — 3 RBs 200/15 -, BeckRS 2015, 16614). So kann das Recht auf ein faires Verfahren sowie die gerichtliche Fürsorgepflicht eine Terminverlegung gebieten (vgl. OLG Köln DAR 2005, 576; Senat NZV 2003, 433; BayObLG zfs 1994, 387; Bohnert/Krenberger/Krumm in Krenberger/Krumm, OWiG, 5. Aufl., § 74 Rn. 17 m.w.N.).

Der Umstand, dass ein Terminverlegungsantrag gestellt wurde, begründet zwar nicht bereits für sich genommen einen ausreichenden Entschuldigungsgrund für das Nichterscheinen des Betroffenen. Jedoch ist ihm die Teilnahme am Hauptverhandlungstermin regelmäßig dann unzumutbar; wenn der mit der Begründung seiner Verhinderung rechtzeitig vom Verteidiger gestellte Verlegungsantrag rechtsfehlerhaft abgelehnt worden ist (vgl. Senat DAR 2012, 395; OLG Bamberg StraFo 2011, 232; Krumm in Blum/Gassner/Seith, OWIG, § 74 Rn. 24 m.w.N.). Unter Berücksichtigung dessen kann auch das Nichterscheinen des Betroffenen selbst im Sinne des § 74 Abs. 2 OWiG genügend entschuldigt sein, wenn eine sachgerechte Terminvorbereitung durch Maßnahmen des Amtsgerichts verhindert worden (vgl. BayObLG, Beschluss vom 5. Juli 1990 — 2 Ob OWi 148/90 -,  juris) oder eine beantragte Akteneinsicht faktisch verweigert worden ist (vgl. Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 28. Oktober 2004 – 1 Ss 65/04 –  juris).

Diese Maßstäbe zugrunde legend durfte das Amtsgericht — worauf die Generalstaatsanwaltschaft Berlin in ihrer Stellungnahme vom 16. August 2019 zutreffend hinweist — nicht allein auf das als unentschuldigt angesehene Ausbleiben des Betroffenen selbst abstellen. Vielmehr wäre dem Terminverlegungsantrag des Verteidigers vom 27. September 2018 zu entsprechen gewesen.

In Reaktion auf den Antrag des Verteidigers vom 31. Juli 2018 hätte das Amtsgericht mit Verfügung vom 15. August 2018 die Übermittlung der Messdaten im tuff-Format beim Polizeipräsidenten in Berlin erfordert, welche am 13. September 2018 dort eingingen. Am 17. September 2018 verfügte die zuständige Richterin, dass der Verteidiger über den Eingang dieser Daten sowie die auch insoweit gewährte Akteneinsicht unterrichtet werde. Nach dem nicht widerlegten Vortrag der  Rechtsbeschwerde ging diese Nachricht erst am 27. September 2018 beim in Gotha ansässigen Verteidiger des Betroffenen ein, weshalb sich dieser veranlasst sah, mit am gleichen Tage per Fax an das Gericht übermitteltem Schriftsatz die Aufhebung des für den Folgetag angesetzten Hauptverhandlungstermins zu beantragen.

Da die Einsicht in die nun erstmals vom Gericht beigezogenen Daten im tuff-Format der Verteidigung aus tatsächlichen Gründen vor dem Hauptverhandlungstermin nicht ermöglicht worden war, wäre dieser auf den Antrag des Verteidigers aufzuheben gewesen, um Gelegenheit zu geben, die Akteneinsicht umzusetzen. Dies gilt vor allem, da die Verteidigung die Beiziehung und die entsprechende Akteneinsicht rechtzeitig beantragt hatte. Kommt das Gericht einem solchen Beiziehungsantrag nach, ist es gehalten, der Verteidigung die tatsächliche Möglichkeit zur Kenntnisnahme der beigezogenen Unterlagen einzuräumen.

Die Begründung des Amtsgerichts, dem Verteidiger sei bereits in der Vergangenheit Akteneinsicht gewährt worden, verfängt angesichts dessen nicht. Denn es ist auszuschließen, dass die erst kurz vor dem Hauptverhandlungstermin beigezogenen Unterlagen seinerzeit bereits Aktenbestandteil gewesen sind. Derartiges ist auch vor  dem Hintergrund nicht naheliegend, dass das Gericht dem Verteidiger mit Verfügung vom 17. September 2018 unter Bezugnahme auf den Eingang ergänzender  Unterlagen erneut Akteneinsicht gewährte. Unter den gegebenen Umständen konnte der Betroffene darauf vertrauen, dass das Amtsgericht seiner Fürsorgepflicht folgend dem umgehend gestellten Antrag auf Verlegung des Hauptverhandlungstermins entsprechen werde.

Schließlich stand der Gewährung von Akteneinsicht nicht entgegen, dass eine schriftliche Vollmacht des Verteidigers nicht zu den Akten gelangt war. Sollte das Amtsgericht Zweifel an der Bevollmächtigung des Verteidigers gehabt haben – wofür sich keine Anhaltspunkte ergeben -, so hätte es unverzüglich hierauf hinweisen müssen (vgl. Thüringer Oberlandesgericht a.a.O.).“