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StPO II: Verlesung einer richterlichen Vernehmung? oder: 14-jährige Mädchen können 300/640 km anreisen

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Die zweite StPO-Entscheidung kommt vom OLG Hamm. Es ist der OLG Hamm, Beschl. v. 19.02.2109 – III-3 RVs 6-7/19, den der Kollege Thilo Schäck aus Osnabrück mir geschickt hat.

Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern. Der Angeklagte hatte seine Verurteilung mit der Verfahrensrüge angegriffen und u.a. beanstandet, dass in der Berufungshauptverhandlung beim LG die Protokolle über die richterlichen Vernehmungen der Zeuginnen pp. und pp. – offenbar die „Geschädigten“ in der Hauptverhandlung verlesen wurden, obwohl die Voraussetzungen des § 251 Abs. 2 Nr. 2 StPO nicht vorgelegen haben. Die Rüge hatte Erfolg:

„bb) Die Rügen sind auch begründet, da das Landgericht von der Vorschrift des § 251 Abs. 2 Nr. 2 StPO in rechtsfehlerhafter Weise Gebrauch gemacht hat.

Nach dieser Regelung kann die Vernehmung eines Zeugen durch die Verlesung der Niederschrift über seine frühere richterliche Vernehmung ersetzt werden, wenn dem Zeugen das Erscheinen in der Hauptverhandlung wegen großer Entfernung nicht zugemutet werden kann. Insoweit hat das Tatgericht eine Abwägung vorzunehmen, wobei einerseits die Verkehrsverhältnisse und die persönlichen Verhältnisse der Auskunftsperson (etwa Alter, Gesundheitszustand, familiäre und berufliche Unabkömmlichkeit) und andererseits die Bedeutung der Sache, die Wichtigkeit der Aussage und des persönlichen Eindrucks von dem Zeugen, die gerichtliche Aufklärungspflicht sowie das Beschleunigungsgebot zu berücksichtigen sind (BGH, Urteil vom 10. März 1981 — 1 StR 808/80; Beschluss vom 16. März 1989 — 1 StR 18/89; jeweils zitiert nach juris; KK-StPO/Diemer, 7. Auflage 2013, § 251, Rn. 28). Je wichtiger der Aufklärungswert einer Aussage ist, desto weniger kommt es auf die Entfernung des Zeugen vom Gerichtssitz und die mit der Anreise für ihn verbundenen Belastungen an (Meyer-Goßner/Schmitt, a. a. O., § 251, Rn. 23 iVm § 223, Rn. 8; MüKo-StPO/Kreicker, § 251, Rn 76). Eine deutschlandweite Anreise ist im Regelfall zumutbar, sofern es nicht nur um einen ganz geringfügigen Tatvorwurf geht und die Bedeutung der Aussage nicht nur als voraussichtlich gering zu veranschlagen ist (MüKo-StPO/Kreicker, a.a.O.).

Daran gemessen durfte das Landgericht eine unmittelbare Vernehmung der Zeuginnen nicht durch eine Verlesung der Protokolle über ihre richterlichen Vernehmungen ersetzen. Zwar handelt es sich bei den Zeuginnen um zum Zeitpunkt der Berufungshauptverhandlung am 13. November 2018 jeweils vierzehnjährige Mädchen, deren Wohnsitze zwischen rund 300 bis 640 Kilometer vom Gerichtssitz entfernt lagen. Im Hinblick auf andere Reisen, die Jugendliche dieses Alters üblicherweise unternehmen — zum Beispiel im Rahmen von Urlaubs- oder Klassenfahrten — hätten Alter und Entfernung einer Anreise nach Bielefeld allerdings nicht entgegengestanden, jedenfalls nicht in Begleitung eines Elternteils oder einer anderen Bezugsperson. Zudem ist über individuelle Beeinträchtigungen oder Bedürfnisse der Zeuginnen, die für die mit der Anreise verbunden Belastungen von Belang sein könnten, nichts bekannt. Zugleich ist der Beweiswert ihrer Aussagen als besonders hoch zu bewerten, da es sich jeweils um das einzige unmittelbare Beweismittel handelte, mit welchem der — für die Frage der Strafbarkeit bedeutsame — Inhalt der fraglichen Telefongespräche festgestellt werden konnte. Auch standen ein erheblicher Tatvorwurf, eine erstinstanzlich verhängte Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten sowie der Widerruf einer zur Bewährung ausgesetzten Strafe im Raum. Anlass zu einer besonderen Verfahrensbeschleunigung bestand demgegenüber nicht.

Ob das Landgericht diese Gesichtspunkte überhaupt gesehen und abgewogen hat, ist nicht erkennbar. Denn die Beschlüsse, durch welche die Verlesung der Zeugenaussagen angeordnet worden sind, enthalten sich jeglicher Begründung. Auch deshalb ist die Revision begründet (BGH, Beschluss vom 7. Januar 1986 — 1 StR 571/85, juris; MüKo-StPO/Kreicker, a. a. 0., Rn. 92, m. w. N.). Denn das Ergebnis der Abwägung ist gem. § 251 Abs. 4 StPO in einem begründeten Beschluss niederzulegen und bekanntzugeben. Die Begründung darf sich hierbei nicht lediglich auf die Wiedergabe des Gesetzeswortlauts beschränken, sondern muss die Tatsachen, welche die Verlesung rechtfertigen, sowie die das Gericht leitenden Erwägungen beinhalten (KK-StPO/Diemer, a.a.O., Rn. 31, m. w. N.).

Ob ein weiterer Verfahrensverstoß auch darin liegt, dass — wie von dem Angeklagten vorgebracht – auf seine Widersprüche gegen die Verlesung der Urkunden möglicherweise schon – mangels Beratung – keine ordnungsgemäßen Kammerbeschlüsse im Sinne von § 251 Abs. 4 StPO ergangen sind, kann nach alledem dahinstehen.“