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Nochmals: Verwertung einer Dashcam-Aufzeichnung, oder: Unfallaufklärung mit Dashcam bei Beweisnot

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Im „Kessel Buntes“ am Samstag dann heute zwei Entscheidungen aus dem Verkehrszivilrecht.

Ich beginne mit dem LG Aachen, Urt. v. 15.06.2023 – 12 O 398/22 -, das sich noch einmal zur Verwertung von Dashcam-Aufzeichnungen äußert. Das LG hatte über Schadensersatzansprüche bei einem Kollisionsunfall nach einer Kurvendurchfahrt mit dem Vorwurf des beiderseitigen Fahrstreifenwechsel zu entscheiden. Das LG hat Zeugen vernommen, was aber kein Ergebnis gebracht hat. Das LG hat dann eine vorliegende Dashcam-Aufzeichung verwertet. Zur Zulässigkeit führt es aus:

„(bb) Die Verwertung des Dashcam-Videos war als Beweismittel auch zulässig.

(1) Keine Partei – insbesondere nicht der Kläger – hat der Verwertung der Dashcam-Videos widersprochen.

(2) Es kann auch dahinstehen, ob die streitgegenständliche Videoaufzeichnungen nach den geltenden datenschutzrechtlichen Bestimmungen unzulässig sind. Selbst wenn dies der Fall wäre, wäre ihre Verwertung als Beweismittel dennoch zulässig. Das ergibt sich aus einer vorzunehmenden Güterabwägung (ausführlich BGH, Urteil vom 15. Mai 2018 – VI ZR 233/17 –, BGHZ 218, 348-377, Rn. 39, juris).

(a) Auf der einen Seite stehen das Interesse des (Gegen-)Beweisführers – hier des Beklagten zu 1) – an der Durchsetzung seiner zivilrechtlichen Ansprüche und seines im Grundgesetz verankerten Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Interesse an einer funktionierenden Zivilrechtspflege und an einer materiell richtigen Entscheidung nach freier Beweiswürdigung. Auf der anderen Seite steht das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung (BGH, Urteil vom 15. Mai 2018 – VI ZR 233/17 –, BGHZ 218, 348¬377, Rn. 40 m.w.N., juris).

(b)  Zwar begründet die Dashcam-Aufnahme, durch die das Fahrzeug des Klägers mit dessen Kraftfahrzeugkennzeichen in und kurz nach der Unfallsituation aufgenommen und diese Sequenz abgespeichert worden ist, einen Eingriff in das Recht des Klägers, der durch die Nutzung als Beweismittel fortgesetzt wird (BGH, Urteil vom 15. Mai 2018 – VI ZR 233/17 –, BGHZ 218, 348-377, Rn. 41 f., juris).

(c) Der Eingriff ist allerdings nicht rechtswidrig, da die schutzwürdigen Belange des Beklagten zu 1) das Schutzinteresse des Klägers überwiegen. In der Rechtsprechung sind wegen der Eigenart des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als eines Rahmenrechts, dessen Reichweite nicht absolut feststeht, Abwägungskriterien u.a. nach Maßgabe einer abgestuften Schutzwürdigkeit bestimmter Sphären, in denen sich die Persönlichkeit verwirklicht, herausgearbeitet worden. Danach genießen besonders hohen Schutz die sogenannten sensitiven Daten, die der Intim-und Geheimsphäre zuzuordnen sind. Geschützt ist aber auch das Recht auf Selbstbestimmung bei der Offenbarung von persönlichen Lebenssachverhalten, die lediglich zur Sozial- und Privatsphäre gehören. Allerdings hat der Einzelne keine absolute, uneingeschränkte Herrschaft über „seine“ Daten; denn er entfaltet seine Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft. In dieser stellt die Information, auch soweit sie personenbezogen ist, einen Teil der sozialen Realität dar, der nicht ausschließlich dem Betroffenen allein zugeordnet werden kann. Vielmehr ist über die Spannungslage zwischen Individuum und Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und -gebundenheit der Person zu entscheiden (BGH, Urteil vom 15. Mai 2018 – VI ZR 233/17 –, BGHZ 218, 348-377, Rn. 44 m.w.N.).

(d) Bei der gebotenen Abwägung ist zunächst zu berücksichtigen, dass der Kläger lediglich in seiner Sozialsphäre betroffen ist. Aufgezeichnet wurde ein Unfallgeschehen unter Beteiligung seines Kraftfahrzeugs. Das Geschehen ereignete sich im öffentlichen Straßenraum, in den er sich freiwillig begeben hat. Er hat sich durch seine Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr selbst der Wahrnehmung und Beobachtung durch andere Verkehrsteilnehmer ausgesetzt. Rechnung zu tragen ist zudem der häufigen besonderen Beweisnot, die der Schnelligkeit des Verkehrsgeschehens geschuldet ist. Wenn überhaupt Zeugen vorhanden sind, ist der Beweiswert ihrer Aussagen angesichts der Flüchtigkeit des Unfallgeschehens und der Gefahr von Rekonstruktions- und Solidarisierungstendenzen regelmäßig gering; unfallanalytische Gutachten setzen verlässliche Anknüpfungstatsachen voraus, an denen es häufig fehlt. Zu berücksichtigen ist weiter, dass die Aufnahmen auch Feststellungen zum Fahrverhalten des Aufzeichnenden erlauben und grundsätzlich auch zu Gunsten des Beweisgegners sprechen und verwertet werden können.

Der mögliche Eingriff in die allgemeinen Persönlichkeitsrechte anderer Verkehrsteilnehmer, Fußgänger, Radfahrer oder anderer Kraftfahrer bzw. Insassen führt nicht zu einer anderen Gewichtung. Zwar besteht durch permanent und anlasslos aufzeichnende Videokameras in zahlreichen Privatfahrzeugen für das informationelle Selbstbestimmungsrecht der übrigen Verkehrsteilnehmer ein Gefährdungspotential, da durch die bestehenden Möglichkeiten von Gesichtserkennungssoftware, Weiterleitung und Zusammenführung der Daten zahlreicher Aufzeichnungsgeräte nicht auszuschließen ist, dass letztlich Bewegungsprofile individueller Personen erstellt werden könnten. Dem ist jedoch nicht durch Beweisverwertungsverbote im Zivilprozess zu begegnen. Zwar ist nicht zu verkennen, dass die Möglichkeit einer Beweisverwertung Anreize für die Nutzung von Dashcams setzen kann, doch ist ihr Gefahrenpotential nicht im Zivilprozess einzugrenzen oder (zusätzlich) zu sanktionieren. Deshalb ist es für die Frage der Verwertbarkeit des Beweismittels nicht von Bedeutung, dass der Teil der Aufzeichnung, der nicht im Prozess vorgelegt worden oder für die Unfallrekonstruktion nicht erheblich ist, möglicherweise zu Eingriffen in das allgemeine Persönlichkeitsrecht dritter Personen führt.

Dem danach nicht so schwerwiegenden Eingriff in das Recht des Klägers steht nicht nur ein „schlichtes“ Beweisinteresse gegenüber. Denn jedes Beweisverwertungsverbot beeinträchtigt nicht nur die im Rahmen der Zivilprozessordnung grundsätzlich eröffnete Möglichkeit der Wahrheitserforschung und damit die Durchsetzung der Gerechtigkeit und die Gewährleistung einer funktionstüchtigen Zivilrechtspflege, sondern auch durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Rechte der auf Durchsetzung ihres Anspruchs klagenden Parteien. Es besteht auch ein individuelles Interesse der Partei eines Zivilprozesses an der Findung der materiellen Wahrheit bis hin zur Abwehr eines möglichen Prozessbetruges (zum Ganzen: BGH, Urteil vom 15. Mai 2018 — VI ZR 233/17 —, BGHZ 218, 348-377, Rn. 43 ff. m.w.N., juris).

(e) In der Konsequenz war die Verwertung der Dashcam-Aufzeichnungen hier zulässig. Dabei war im konkreten Einzelfall zusätzlich zu berücksichtigen, dass dem Beklagten zu 1) hier insbesondere auch keine anderen Beweismittel zur Verfügung standen, um den Gegenbeweis zu führen und seine (vollständige oder quotale) Haftung zu widerlegen, wohingegen der Kläger mit dem Zeugen II» über ein Beweismittel verfügte.

(cc) Nach allem ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger zu 1) im Zuge des Abbiegevorgangs einen (teilweisen) Fahrspurwechsel durch Überfahren der Trennlinie vorgenommen hat und es hierdurch zum Unfall gekommen ist. Damit hat der Kläger gegen § 7 Abs. 5 StVO verstoßen. Dass er einen Abbiegevorang beabsichtigt und angekündigt hätte, hat er bereits nicht vorgetragen, sondern bestritten, einen Wechsel überhaupt vorgenommen zu haben. Ohnehin konnte ein Wechsel der Fahrspur zum fraglichen Zeitpunkt nicht ohne Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer vonstattengehen, wie es § 7 Abs. 5 StVO allerdings voraussetzt, weil sich der Beklagte zu 1) mit seinem Fahrzeug praktisch neben dem klägerischen Fahrzeug befand und insofern kein Einscheren an der fraglichen Stelle möglich war.“

Und das war es dann für die Klage. Die hat das LG abgewiesen.

Anzumerken ist, dass das LG die Vorgaben aus der genannten Entscheidung des BGH umsetzt werden, ohne dass allerdings den gestiegenen Bedeutungsgehalt des Datenschutzes in Form der DSGVO näher zu erörtern. Andererseits frage ich mich, warum das LG die Verwertbarkeit des  Videos überhaupt erörtert, denn es hatte keine Partei der Verwertung widersprochen.