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StPO I: Vorläufige Einschätzung in anderem Verfahren, oder: Besorgnis der Befangenheit in Folgeverfahren?

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Ich starte in die 37. KW dann mit zwei StPO-Entscheidungen zur Besorgnis der Befangenheit.

In der ersten Entscheidung, die ich vorstelle, dem OLG Oldenburg, Beschl. v. 10.06.2022 – 1 Ws 203/22, 1 Ws 204/22 – geht es um die Frage der (Besorgnis der) Befangenheit in den Fällen de sog. Vorbefassung.

Folgender Sachverhalt:

„Die Staatsanwaltschaft Oldenburg hat unter dem 29. März 2022 gegen die Beschwerdeführer und vier weitere Angeschuldigte Anklage vor der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Oldenburg wegen Beihilfe zu einem am TT. MM 2021 in Ort1 von dem gesondert verfolgten FF begangen Mord an GG erhoben. FF selbst ist in dem gegen ihn gesondert geführten Verfahren 5 Ks 1204 Js 72704/21 (1/22) wegen dieser Tat sowie wegen Mordes an HH, mit der er nach jesidischem Recht verheiratet war, am 13. Mai 2022 zu lebenslanger Freiheitsstrafe als Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt worden.

In dem Verfahren gegen FF hatte die Schwurgerichtskammer unter dem 26. April 2022 eine vorläufige Einschätzung der auf der Basis der bisherigen Beweisaufnahme gewonnenen Erkenntnisse abgegeben und dabei unter anderem ausgeführt, dass der Angeklagte, der fälschlicherweise von einer sexuellen Beziehung zwischen den später Getöteten ausgegangen sei, zur Tatzeit an einem lang anhaltenden Eifersuchtswahn (ICD-10: F22.0) gelitten habe. Sollte der Angeklagte die Taten auf Grund eines spontanen Tatentschlusses begangen haben, sei von einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit auszugehen. Möglicherweise habe er dann auch nicht aus niedrigen Beweggründen gehandelt, so dass die beiden vorgeworfenen Taten als Totschlag zu werten seien. Wenn allerdings festgestellt würde, dass der Angeklagte spätestens während eines Treffens mit den Angeschuldigten im vorliegenden Verfahren vor Begehung der Taten diesen von einer sexuellen Beziehung zwischen den späteren Tatopfern erzählt, diese ihm geglaubt und – getragen von tradierten jesidischen Überzeugungen hinsichtlich der Ehre der Familie – zusammen mit ihm einen Plan zur Tötung beider Personen entwickelt oder ihn zumindest in einem solchen Plan bestärkt bzw. unterstützt hätten und der Angeklagte sodann im Zusammenwirken mit diesen Personen und nicht etwa autonom auf Grund eines spontanen Entschlusses die Taten begangen hätte, sei von einer voll erhalten Schuldfähigkeit auszugehen. Im Rahmen der mündlichen Urteilsbegründung am 13. Mai 2022 führte der Vorsitzende der Schwurgerichtskammer unter Darlegung der Telekommunikation zwischen FF und den Angeschuldigten und Darstellung deren Beteiligung an der Tötung des GG unter anderem aus, diese hätten – getragen von tradierten jesidischen Überzeugungen hinsichtlich der Ehre der Familie – dessen Tötung entweder mit ihm zusammen geplant oder ihn in einem solchen Plan bestärkt bzw. unterstützt.

Der Vorsitzende der Schwurgerichtskammer und die beisitzenden Richter, die auch im vorliegenden Verfahren nach der Geschäftsverteilung zuständig wären, haben unter Verweis auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 16. Februar 2021 (1128/17 – Meng/Deutschland) unter dem 13. bzw. 16. Mai 2022 – der Vorsitzende unter Darstellung des Hinweisbeschlusses vom 26. April 2022 sowie des Inhalts der mündlichen Urteilsbegründung – Selbstanzeigen gemäß § 30 StPO abgegeben. Unter Bezugnahme auf diese Selbstanzeigen haben die Angeschuldigten AA und BB den Vorsitzenden Richter des Schwurgerichts und die Beisitzer wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt.

Mit Beschluss vom 23. Mai 2022, auf den wegen der Einzelheiten ebenso Bezug genommen wird wie auf die übrigen bezeichneten Schriftstücke, hat die wegen der Ablehnung sämtlicher Mitglieder der Schwurgerichtskammer zuständige 4. große Strafkammer unter gleichzeitiger Feststellung, dass eine Befangenheit nicht zu besorgen ist, die Befangenheitsanträge der Angeschuldigten gegen den Vorsitzenden Richter am Landgericht CC, den Vorsitzenden Richter am Landgericht DD und den Richter am Landgericht EE als unbegründet zurückgewiesen“

Dagegen die sofortige Beschwerde, die beim OLG keinen Erfolg hatte. Wegen der Einzelheiten der Begründung verweise ich auf dne verlinkten Volltext. Hier stelle ich nur den (amtlichen) Leitsatz zu der Entscheidung ein, und zwar:

Die Vorbefassung des erkennenden Richters mit einem einen anderen Tatbeteiligten betreffenden Strafverfahren vermag auch im Lichte der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 16. Februar 2021 (1128/17 – Meng/Deutschland) grundsätzlich nur dann die Besorgnis der Befangenheit zu begründen, wenn im Ursprungsverfahren hinsichtlich des nunmehr beschuldigten Tatbeteiligten über das für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch Erforderliche hinausgehende Feststellungen getroffen oder hierfür entbehrliche rechtliche Bewertungen vorgenommen worden sind.

 

StPO III: Befangenheit nur bei „objektiven“ Gründen, oder: Terminsfragen und dienstliche Äußerung

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Und weil es so schön war mit einer Entscheidung aus einem Zivilverfahren, dann hier gleich noch eine weitere, und zwar der KG, Beschl. v. 25.04.2022 – 2 U 69/19. In dem (Ablehnungs)Verfahren geht es u.a. um einen Terminsverlegungsantrag und Fragen der Begründung des Ablehnungsantrags. Die Ausführungen des KG dazu kann man ggf. auch im Strafverfahren verwenden:

„Die Ablehnungsersuchen des Klägers sind nicht begründet, weil kein Grund vorliegt, der nach § 42 Abs. 2 ZPO geeignet wäre, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des abgelehnten Richters zu rechtfertigen. Solche Gründe folgen weder aus der Zurückweisung des Terminverlegungsantrags (1.) noch aus der nach dem Empfinden des Klägervertreters menschenverachtenden und behindertenfeindlichen Einstellung des abgelehnten Richters (2.). Schließlich gibt auch der Inhalt der dienstlichen Erklärungen des Richters keinen Anlass zur Besorgnis der Befangenheit (3). Eine Kostenentscheidung ist ebenso wenig veranlasst wie eine Zulassung der Rechtsbeschwerde (4.).

1. Die Zurückweisung des Antrags, den Termin zur mündlichen Verhandlung vom 28. März 2022 kurzfristig wegen der krankheitsbedingten Verhinderung des Klägervertreters aufzuheben, rechtfertigt die Besorgnis der Befangenheit nicht. Alleiniger Gegenstand eines Ablehnungsverfahren nach §§ 42 ff. ZPO ist eine mögliche Parteilichkeit des Richters und nicht die inhaltliche Richtigkeit seiner Handlungen und Entscheidungen, deren Überprüfung allein den Rechtsmittelgerichten vorbehalten ist. Ein Ablehnungsersuchen kann daher grundsätzlich nicht erfolgreich auf die Verfahrensweise oder Rechtsauffassung eines Richters gestützt werden (BGH, Beschluss vom 12. Oktober 2011 – V ZR 8/10, NJW-RR 2012, 61; OLG Dresden, Beschluss vom 19. Mai 2020 – 4 W 300/20, juris; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 26. November 2013 – 17 U 221/12, MDR 2014, 242; MüKoZPO/Stackmann, 6. Aufl. 2020, § 42 Rn. 28). Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ist nur dann geboten, wenn die Gestaltung des Verfahrens oder die Entscheidungen des Richters sich so weit von den anerkannten rechtlichen – insbesondere verfassungsrechtlichen – Grundsätzen entfernen, dass sie aus Sicht der Partei nicht mehr verständlich und offensichtlich unhaltbar erscheinen und dadurch den Eindruck einer willkürlichen oder doch jedenfalls sachfremden Einstellung des Richters erwecken (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 8. Juni 2006 – 15 W 31/06, NJW-RR 2006, 1577; Musielak/Voit/Heinrich, ZPO, 18. Aufl. 2021, § 42 Rn. 11).

Nach diesen Grundsätzen vermag der Umstand, dass der abgelehnte Richter dem Terminverlegungsantrag einer Partei nicht entsprochen hat, die Besorgnis der Befangenheit grundsätzlich nicht zu rechtfertigen, weil eine Aufhebung oder Verlegung eines Termins zur mündlichen Verhandlung nach § 227 ZPO nur beim Vorliegen erheblicher Gründe in Betracht kommt (BGH, Beschluss vom 6. April 2006 – V ZB 194/05, NJW 2006, 2492 [2494]; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 6. Mai 2021 – 9 W 25/21, NJW-RR 2021, 1077; OLG Brandenburg NJ 2019, 390; Wieczorek/Schütze/Gerken, ZPO, 5 Aufl. 2020, § 42 Rn. 20 f.; Stein/Jonas/Bork, ZPO, 23. Aufl. 2014, § 42 Rn. 14 m. w. N. in Fn. 81). Anders ist es nur dann, wenn erhebliche Gründe für eine Verlegung oder Aufhebung des Termins offensichtlich vorliegen, die Zurückweisung des Antrags für die betreffende Partei schlechthin unzumutbar wäre und somit deren Grundrecht auf rechtliches Gehör verletzte (BGH, Urteil vom 28. April 1958 – III ZR 43/56, BGHZ 27, 163 [167] = NJW 1958, 1186; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 2. Juli 2020 – 3 W 41/20, NJW-RR 2020, 1325; OLG Brandenburg, Beschluss vom 30. September 1998 – 1 W 32/98, NJW-RR 1999, 1291 [1292]) oder sich aufgrund der Ablehnung des Verlegungsantrags der Eindruck einer sachwidrigen Benachteiligung einer Partei aufdrängt (OLG Dresden, Beschluss vom 22. November 2016 – 18 WF 985/16, NJ 2017, 29; KG Berlin, Beschluss vom 7. Juli 2006 – 15 W 43/06, NJW 2006, 2787).

Ausgehend von diesem Maßstab sind für eine berechtigte Besorgnis der Befangenheit in dem hier vorliegenden Fall keinerlei Anhaltspunkte ersichtlich. Dies folgt bereits daraus, dass die rechtlichen Voraussetzungen für die beantragte Aufhebung des Termins wegen der fehlenden Glaubhaftmachung der eingetretenen Erkrankung tatsächlich nicht vorlagen. Zwar ist eine Partei zur Glaubhaftmachung der geltend gemachten Hinderungsgründe gemäß § 227 Abs. 2 ZPO grundsätzlich nur auf Aufforderung des Gerichts bzw. des Vorsitzenden verpflichtet. Wird ein Terminänderungsantrag – wie in dem hier vorliegenden Fall – allerdings erst unmittelbar vor dem anberaumten Termin unter Hinweis auf eine Erkrankung gestellt und bleibt dem Vorsitzenden daher keine Zeit, die Partei zur Glaubhaftmachung der Verhandlungs- bzw. Reiseunfähigkeit aufzufordern, müssen die Gründe für die Verhinderung bereits in dem Verlegungsantrag so angegeben und untermauert werden, dass das Gericht die Frage der Verhandlungsfähigkeit selbst zu beurteilen vermag (BGH, Beschluss vom 12. März 2015 – AnwZ (Brfg) 43/14, juris Rn. 5; OVG Münster, Beschluss vom 13. April 2021 – 6 A 2041/18, juris Rn. 12, VGH München, Beschluss vom 27. Juli 2016 – 11 ZB 16.30121, NJW 2017, 103; Prütting/Gehrlein/Kazele, ZPO, 13. Aufl. 2021, § 227 Rn. 2; Zöller/Feskorn, ZPO, 34. Aufl. 2022, § 227 Rn. 8).

…..

2. Die Besorgnis der Befangenheit ist auch nicht deshalb gerechtfertigt, weil der abgelehnte Richter nach dem Empfinden des Klägers bzw. seines Prozessbevollmächtigten von einem „aggressiven Zynismus“, einer „noch nicht erlebten Variante richterlicher Selbstherrlichkeit“ sowie einer „Menschen-Verachtung und speziell Behinderten-Feindlichkeit“ geprägt sei und nicht über ein „Minimum an menschlichem Einfühlungsvermögen“ verfüge.

Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters vermögen nur objektive Gründe zu rechtfertigen, welche vom Standpunkt des Ablehnenden bei vernünftiger Betrachtung die Befürchtung wecken können, der Richter stehe der Sache nicht unvoreingenommen und damit unparteiisch gegenüber (BGH, Beschluss vom 21. Februar 2011 – II ZB 2/10 – Rn. 13, NJW 2011, 1358; BGH, Beschluss vom 02. Oktober 2003 – V ZB 22/03 –, BGHZ 156, 269 = NJW 2004, 164; BVerfG, Beschluss vom 10. Mai 2000 – 1 BvR 539/96 –, BVerfGE 102, 122 (125) = NJW 2000, 2808). Es gilt somit ein objektiver Maßstab, der allerdings durch die Bezugnahme auf den Standpunkt der ablehnenden Partei einen gewissen subjektiven Einschlag erhält (Musielak/Voit/Heinrich, 18. Aufl. 2021, § 42 ZPO Rn. 6; Conrad, MDR 2015, 1048 f.). Ein erfolgreiches Ablehnungsersuchen setzt danach nicht voraus, dass der Richter tatsächlich befangen ist. Ebenso wenig kommt es darauf an, ob er sich selbst für befangen hält. Entscheidend ist vielmehr, ob aus Sicht der ablehnenden Partei objektiv nachvollziehbare Gründe vorliegen, welche an seiner Unparteilichkeit zweifeln lassen (vgl. auch MüKoZPO/Stackmann, a. a. O., Rn. 4). Rein subjektive, unvernünftige Vorstellungen und Gedankengänge der ablehnenden Partei reichen hingegen grundsätzlich nicht aus, um ein Ablehnungsersuchen zu rechtfertigen (Wieczorek/Schütze/Gerken, a. a. O., § 42 Rn. 5; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, 32. Aufl. 2021, § 42 Rn. 9).

Nach diesen Maßstäben vermag die Befürchtung des Klägers, aufgrund einer negativen Einstellung des abgelehnten Richters gegenüber seinem Prozessbevollmächtigten unfair behandelt zu werden, die Besorgnis der Befangenheit nicht zu rechtfertigen. Denn diese subjektive Befürchtung beruht nicht auf auch nur annähernd objektiv nachvollziehbaren Erwägungen. Die Verfügung vom 25. März 2022, mit dem der abgelehnte Richter die Aufhebung des Termins zur mündlichen Verhandlung vom 28. März 2022 aus – wie bereits dargelegt – rechtlich zutreffenden Gründen abgelehnt hat, ist in einem höflichen und gegenüber den Parteien respektvollen Ton verfasst. Darüber hinaus ist der abgelehnte Richter dem Prozessbevollmächtigten des Klägers dadurch entgegenkommen, dass er ihm eine Teilnahme an der mündlichen Verhandlung im Wege der Ton- und Bildübertragung angeboten hat.

3. Schließlich begründen auch die von dem abgelehnten Richter abgegebenen dienstlichen Erklärungen vom 28. März 2022 – entgegen der mit dem Schriftsatz vom 29. März 2022 geltend gemachten Auffassung des Klägers – nicht die Besorgnis der Befangenheit…..“

StPO I: „wir befinden nicht über moralische Mitschuld“, oder: Wie zweckmäßig sind moralische Bewertungen?

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Heute dann wieder ein StPO-Tag, und zwar ein „Befangenheitstag“, also (nur) Entscheidungen zur Besorgnis der Befangenheit (§§ 24 ff. StPO).

Ich eröffne den Reigen mit dem BGH, Beschl. v. 03.03.2022 – 4 StR 379/21. Der BGH äußert sich zu Äußerungen des Vorsitzenden im Rahmen der mündlichen Urteilsbegründung gegenüber der Mitangeklagten nach Abtrennung der bis dahin gegen sie und den Angeklagten gemeinsam geführten Hauptverhandlung. Auf diese Äußerungen – dazu siehe unten im Zitat – war ein gestützten Befangenheitsantrag des Angeklagten des Angeklagten gestützt worden. Der BGh hat gegen dessen Zurückweisung keine Bedenken.:

„1. Die Rüge einer Verletzung der „§§ 24 Abs. 2, 338 Nr. 3 StPO, Art. 6 Abs. 1 EMRK“ ist unbegründet. Die Zurückweisung des auf Äußerungen des Vorsitzenden im Rahmen der mündlichen Urteilsbegründung gegenüber der Mitangeklagten nach Abtrennung der bis dahin gegen sie und den Angeklagten gemeinsam geführten Hauptverhandlung gestützten Befangenheitsantrags des Angeklagten begegnet auch unter Berücksichtigung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 16. Februar 2021 ? 1128/17, NJW 2021, 2947, keinen Bedenken

Die Äußerungen des Vorsitzenden, die Kammer habe nicht darüber zu befinden, ob sie ? die Mitangeklagte ? eine „moralische Mitschuld“ am Tode des Säuglings trage, sowie sein erläuternder Hinweis, er gehe ? dem rechtsmedizinischen Sachverständigen folgend ? davon aus, dass E. durch den Angeklagten zu vier verschiedenen Zeitpunkten Rippenserienfrakturen zugefügt worden seien, begründen jenseits von Fragen der Zweckmäßigkeit moralischer Bewertungen in einem Strafverfahren nicht die Besorgnis, der Vorsitzende trete dem Angeklagten nicht mehr unvoreingenommen gegenüber.

Die mündlichen Ausführungen des Vorsitzenden zu den Ergebnissen der bis zur Abtrennung zur Urteilsverkündung gegen die Angeklagten gemeinsam durchgeführten Hauptverhandlung stimmen inhaltlich mit der den Verfahrensbeteiligten übersandten „vorläufigen Würdigung des bisherigen Beweisergebnisses der Beweisaufnahme“ vom 5. Februar 2021 überein und tragen erkennbar vorläufigen Charakter. Die mündliche Urteilsbegründung enthielt schließlich ? anders als das schriftliche Urteil in der Fallkonstellation, die dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 16. Februar 2021 ? 1128/17, NJW 2021, 2947 zugrunde lag ? keine nähere Feststellung oder Würdigung des dem Angeklagten zur Last liegenden Tötungsverbrechens zum Nachteil seines Sohnes.“

Besetzung II: Wer entbindet Schöffen wegen Urlaubs?, oder: In Berlin z.T. eigenständig die Geschäftsstelle

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Manchmal bin ich über Beschlüsse, die mir Kollegen zuschicken erstaunt. Denn an sich gehe ich davon aus, dass mich so schnell besondere „Verfahrensgestaltungen“, die sich Gerichte überlegt haben, nicht mehr überraschen, weil sich viele Dinge ja gleichen. Manchmal trifft man aber doch auf etwas „Neues“, zumindest für mich.

So ist es mir bei dem AG Tiergarten, Beschl. v. 14.07.2021 -217b AR 62/21 -, den mir der Kollege Elobied aus Berlin geschickt hat, ergangen. Er betrifft im Grunde auch eine Frage in Zusammenhnag mit der Gerichtsbesetzung, was ich so noch nicht erlebt habe. Es scheint nämlich wohl beim AG Tiergarten die Praxis zu bestehen, dass zumindest einige der dort tätigen Richter die Entbindung von Schöffen von der Dienstleistung wegen Urlaubs an die Geschäftsstelle delegiert haben, die diese eigenständig vornehmen, ohne dass der jeweils zuständige Richter hieran beteiligt ist.

So auch in einem Verfahren, in dem der Kollege Elobied verteidigt. Er hat das zum Anlass genomme, die zuständige Richterin wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen. Aber – warum wundert mich das nicht? – das AG hat das Ablehnungsgesuch zurückgewiesen:

„Die zulässigen Ablehnungsanträge sind unbegründet.

Gemäß § 24 Abs. 2 StPO findet die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen. Dieses ist nach ständiger Rechtsprechung dann gegeben, wenn der Ablehnende bei verständiger Würdigung des ihm bekannten Sachverhalts Grund zu der Annahme hat, dass der abgelehnte Richter ihm gegenüber eine innere Haltung eingenommen habe, die seine Unvoreingenommenheit und Unparteilichkeit störend beeinflussen kann, indem sie ein persönliches, parteiliches Interesse des Richters – sei es wirtschaftlicher, ideeller, politischer oder rein persönlicher Art — am Verfahrensgang- und am Ausgang des Verfahrens begründet.

Maßgebend ist hier der Standpunkt eines vernünftigen Angeklagten und die Vorstellungen, die sich ein geistig gesunder, bei voller Vernunft befindlicher Prozessbeteiligter bei der ihm zumutbaren ruhigen Prüfung der Sachlage machen kann (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Auflage, § 24 Rn. 8 Rn. w. N).

Der dargestellte unstreitige Sachverhalt rechtfertigt für die Angeklagten bei vernünftiger und verständiger Betrachtung auch aus deren Perspektive nicht die Annahme, die abgelehnte Richterin würde ihnen gegenüber eine innere Haltung einnehmen, die ihre Unparteilichkeit und. Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann.

Zwar ist nach § 54 Abs. 1 Satz 1 GVG der Richter beim Amtsgericht für die Entscheidung über die Entbindung von Schöffen von der Pflicht zur Dienstleistung zuständig:

Jedoch stellen Verfahrensverstöße grundsätzlich keinen Ablehnungsgrund dar, sofern sie nicht den Anschein der Willkür erwecken (vgl. BGH NStZ 2010, 342).

So liegt der Fall hier.

Wie von den Verteidigern ausgeführt und der abgelehnten Richterin bestätigt, handelt es sich bei der oben geschilderten Praxis um eine solche, die von mindestens fast allen Wirtschaftsabteilungen des Amtsgerichts Tiergarten so gehandhabt wird.

Auch die abgelehnte Richterin lässt diese-Praxis in allen Verfahren zu.

Dies zeigt, dass diese Vorgehensweise sich gerade nicht auf einen der hier Angeklagten bezieht und somit keine verfahrensbezogene Willkür gegeben. ist.

Es ist auch abwegig, aus dieser von vielen Richtern des Amtsgerichts so gehandhabten Praxis den Schluss zu ziehen, der abgelehnten Richterin würden auch andere Verfahrensgarantien gleichgültig sein. Hierfür ist weder ein Anhaltspunkt vorgetragen noch sonst ersichtlich.“

Na ja, markige Worte des entscheidenen Amtsrichters. „Abwegig“ ist immer als Totschlagargument gut (oder auch nicht). Aber kein Wort zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG – „gesetzlicher Richter“ und auch kein Wort dazu, dass es sich um eklatante Verletzung der durch § 54 Abs. 1 Satz 1 GVG vorgegebenen Zuständigkeiten handelt. Und warum soll der Umstand, dass sich offenbar viele Amtsrichter beim AG Tiergarten so verhalten gegen die Besorgnis der Befangenheit und Willkür sprechen. Weil es alles bewusst falsch machen, macht es doch nicht besser.

Ich kann nur hoffen, dass die Frage dann vielleicht doch mal das KG beschäftigt.

Wenn sich der Sachverständige und ein Mitarbeiter der Beklagten duzen, oder: Reicht das für eine Ablehnung?

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In der zweiten Entscheidung, dem OLG Dresden, Beschl. v. 31.08.2021 – 4 W 587/21 – geht es noch einmal u, die Ablehnung eines Sachverständigen wegen Besorgnis der Befangenheit (vgl. dazu auch schon OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 18.08.2021 – 17 W 12/21 und dazu Ablehnung II: Tatsachen im Gutachten unvollständig, oder: Ist der Sachverständige deshalb befangen?).

Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren wegen einer Klage auf Zahlung von Schadensersatz und Schmerzensgeld wegen einer fehlerhaften ärztlichen Behandlung. Das LG hat ein Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. T. M. eingeholt und ihn in der mündlichen Verhandlung vom 14.07.2021 angehört. Nach Abschluss der Anhörung wurde die mündliche Verhandlung kurzzeitig unterbrochen. In dieser Zeit unterhielt sich der Sachverständige mit dem Chefarzt der Beklagten. Nach Wiedereintritt in die mündliche Verhandlung stellte der Kläger einen Befangenheitsantrag gegen den Sachverständigen, weil er sich nach Eintritt in die Pause freundschaftlich mit Herrn Dr. S. per Du unterhalten habe.

Das LG hat den Befangenheitsantrag zurückgewiesen. Die sofortige Beschwerde dagegen hatte keinen Erfolg:

„Ein Sachverständiger kann abgelehnt werden, wenn hinreichende Gründe vorliegen, die in den Augen einer vernünftigen Partei geeignet sind, Zweifel an seiner Unparteilichkeit zu wecken (vgl. Senat, Beschluss vom 12.12.2017 – 4 W 1113/16 – juris). Erforderlich sind objektive Gründe, die vom Standpunkt des Ablehnenden bei vernünftiger Betrachtung die Befürchtung wecken können, der Sachverständige stehe der Sache nicht unvoreingenommen und unparteiisch gegenüber (vgl. Senat, a.a.O.; vgl. BGH, Beschluss vom 11.04.2013 – VII ZB 32/12 – juris). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.

Allein die berufliche Bekanntschaft zwischen einem medizinischen Sachverständigen und einem oder mehreren Behandlern der Beklagten in einem Arzthaftungsverfahren vermag die Besorgnis der Befangenheit nicht zu begründen (vgl. Senat, Beschluss vom 18.04.2017 – 4 W 288/17 – juris). Ebenso wenig genügt eine persönliche Bekanntschaft. Entscheidend ist vor allem die Nähe der Beziehung (vgl. Senat, Beschluss vom 25.07.2019 – 4 W 610/19 – juris). Ein solches persönliches Näheverhältnis, dass aus Sicht einer vernünftigen Partei die Besorgnis der Befangenheit begründen könnte, ist hier aber nicht festzustellen.

Es kann unterstellt werden, dass die Prozessbevollmächtigte des Klägers den Sachverständigen und Herrn Dr. S. nach Rückkehr in den Gerichtssaal in freundschaftlich wirkender Pose dicht beieinander gestanden gesehen hat, wobei der eine zum Abschied kurz die Schulter des anderen berührt hat. Ein solches Beieinanderstehen mag aus der Sicht der Prozessbevollmächtigten des Klägers freundschaftlich ausgesehen haben. Dies stellt jedoch ebenso wie das kurze Berühren der Schulter keine belastbare Tatsache dar, aus der auf ein enges Näheverhältnis geschlossen werden könnte.

Soweit die Rechtsreferendarin der Prozessbevollmächtigten des Klägers in ihrer eidesstattlichen Versicherung angegeben hat, dass der Sachverständige seine mitgebrachten Unterlagen provokativ zugeklappt habe, als die Klägervertreterin mit der Befragung begonnen habe und der Tonfall ihr gegenüber auch deutlich härter und abweisender gewesen sei, wird dies schon durch die entgegenstehenden Beobachtungen der Mitglieder der Kammer des Landgerichts widerlegt. Ein abweisendes und hartes Auftreten gegenüber der Klägerseite durch den Sachverständigen konnte die Kammer nicht wahrnehmen. Die Prozessbevollmächtigte des Klägers habe die bereits schriftsätzlich vorformulierten und durch die Kammer bereits gestellten Fragen mit verschiedenen Bezugnahmen und Umstellungen erneut gestellt. Mit zunehmender Dauer der Anhörung des Sachverständigen und der mehrfachen Wiederholung derselben Fragen habe der Sachverständige jedoch in zunehmendem Maße auf seine bereits getätigten Ausführungen verwiesen. Weder verächtliche Blicke noch Reaktionen konnte die Kammer wahrnehmen. Soweit die Rechtsreferendarin E. in ihrer eidesstattlichen Versicherung schilderte, dass sich der Sachverständige und der Chefarzt Dr. S. geduzt hätten und sie Sätze gehört habe wie: „Lass uns am Fenster reden.“, „Vor so etwas rufe ich immer telefonisch an, das gehört sich so unter Kollegen.“ und „Ich wünsche dir eine schöne Woche.“ steht dies im Widerspruch zu den übereinstimmenden Angaben des Prof. Dr. M. und des Dr. S., die erklärten, weder persönlich bekannt noch befreundet und auch nicht per Du zu sein. Eine irgendwie gearteten Arbeitsbeziehung wurde von dem Sachverständigen ebenfalls verneint. Herr Dr. S. erklärte, dass er den Sachverständigen lediglich gebeten habe, Grüße an einen bekannten Kollegen von ihm ausrichten zu lassen. Es besteht kein Anlass, den Angaben der Rechtsreferendarin E. mehr Glauben zu schenken als denen des Sachverständigen und des Arztes der Beklagten Dr. S. Unabhängig davon würde auch die Verwendung der Anrede „Du“ für sich genommen nicht den Schluss auf ein besonderes Näheverhältnis rechtfertigen, das aus Sicht einer vernünftigen Partei die Besorgnis der Befangenheit begründen könnte. Wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, ergibt sich auch nicht, in welchem Zusammenhang der Satz „Vor so etwas rufe ich immer telefonisch an, das gehört sich so unter Kollegen.“ gefallen sein soll. Eine Verfahrensbezogenheit der Aussage ist nicht ersichtlich.“