Die zweite Entscheidung, die ich vorstelle, ist der OLG Celle, Beschl. v. 10.12.2021 – 5 AR (P) 7/20. Thematik: Bei der Pauschgebühr nach kostenloser Umbeiordnung zu berücksichtigende Tätigkeiten. Pauschgebühranträge haben ja i.d.R. nur noch selten Erfolg. Um so erfreulicher ist es, wenn man dann mal, so wie hier, über einen erfolgreichen Antrag berichten kann, auch wenn der Pflichtverteidiger ganz erhebliche Abstriche gegenüber seinem Antrag hat hinnehmen müssen.
Folgender Sachverhalt: Der Rechtsanwalt war Pflichtverteidiger in einem Staatsschutzverfahren beim OLG wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland u.a. Dem Angeklagten war am 09.11.2016 zunächst ein anderer Rechtsanwalt J zum Pflichtverteidiger bestellt worden. Daneben war seit dem 01.12.2016 auch Rechtsanwalt S. als Verteidiger mandatiert, seine Beiordnung als weiterer Pflichtverteidiger erfolgte am 27.07.2017. Aufgrund von Meinungsverschiedenheiten der Verteidiger über die weitere Verteidigungsstrategie nach Beginn der Hauptverhandlung erfolgte am 18.04.2018 auf Antrag des Angeklagten die Entpflichtung von Rechtsanwalt S. unter gleichzeitiger Beiordnung des antragstellenden Rechtsanwalt. Dieser hatte zuvor mit Schreiben vom 16.04.2018 erklärt, dass „der Staatskasse (…) durch die Umbeiordnung keine zusätzlichen Kosten entstehen“ werden.
Der Rechtsanwalt hat eine Pauschgebühr in Höhe von 1.950.470,00 EUR beantragt, was in etwa dem Neunfachen der Wahlanwaltsgebühren entsprach. Die Vertreterin der Landeskasse hat eine Pauschgebühr in Höhe 34.000,00 EUR (ca. 50 % der Differenz der Pflichtverteidigergebühren zur Wahlverteidigerhöchstgebühr) vorgeschlagen. Das OLG hat eine Pauschgebühr in Höhe von rund 30.000 EUR bewilligt.
Da es ein sehr umfangreicher Beschluss ist, stelle ich hier nur die Passage vor, in der das OLG zum Umfang der zu berücksichtigen Tätigkeiten Stellung nimmt:
„3. Die Sache hatte auch einen besonderen Umfang.
a) Nicht berücksichtigt werden kann dabei im Fall des Antragstellers allerdings die erstmalige Einarbeitung in die Ermittlungsakten und die allgemeine Vorbereitung auf die Hauptverhandlung.
Die Verfahrensakten hatten zwar einen weit überdurchschnittlichen Umfang. Hinzu kommt, dass der Antragsteller erst nach dem 44. Hauptverhandlungstag zum weiteren Verteidiger bestellt wurde und die ihm zur Verfügung stehende Einarbeitungszeit deshalb vergleichsweise kurz war.
Indes ist zu beachten, dass der Antragsteller mit Schreiben vom 16. April 2018 erklärt hat, dass „der Staatskasse (…) durch die Umbeiordnung keine zusätzlichen Kosten entstehen“ werden. Hierauf hat der Vorsitzende des 4. Strafsenats in seinem Umbeiordnungsbeschluss vom 18. April 2018 auch ausdrücklich abgestellt. Der Antragsteller hat dementsprechend im Rahmen der Kostenfestsetzung auf die Grundgebühr und die Verfahrensgebühren verzichtet.
Der Gebührenverzicht im Rahmen der Umbeiordnung ist zulässig und wirksam (vgl. KG, Beschluss vom 2. September 2016 – 4 Ws 125/16, StraFo 2016, 513; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 17. Dezember 2015 – 2 Ws 582/15, NStZ 2016, 305; Volpert in: Burhoff/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl., Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse [§§ 44, 45, 50], Rn. 2398; jew. mwN). Er wirkt sich auch auf die Bewilligung der Pauschgebühr aus. Wenn nämlich dem Pflichtverteidiger für einen Verfahrensabschnitt oder eine bestimmte Tätigkeit keine (gesetzlichen) Gebühren zustehen – sei es, dass eine Gebühr gar nicht entstanden ist, oder sei es, dass auf eine entsprechende Gebühr verzichtet worden ist –, kann dieser Verfahrensabschnitt oder diese Tätigkeit auch bei der Bewilligung einer Pauschgebühr nicht berücksichtigt werden (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 5. Januar 2012 – III-5 RVGs 81/11, StraFo 2012, 161 m. Anm. Burhoff; Gerold/Schmidt/Burhoff, aaO § 51 Rn. 16; Burhoff in: Burhoff/Volpert, aaO, RVG § 51 Rn. 21; BeckOK RVG/K. Sommerfeld/M. Sommerfeld, § 51 Rn. 9).
Zwar wurde in der Rechtsprechung vereinzelt die Ansicht vertreten, dass ein Verzicht auf höhere gesetzliche Gebühren es nicht ausschließe, dass diese dem Verteidiger „dem Grunde nach zustehenden, aber aufgrund des Verzichts nicht zu beanspruchenden Gebühren“ bei der Bemessung einer Pauschgebühr und deren Berechtigung gleichwohl Berücksichtigung finden können (OLG Hamm Beschluss vom 18. August 2009 – 5 (s) Sbd. X – 65/09, BeckRS 2012, 7235). Diese Auffassung ist indes auf Kritik gestoßen (vgl. Burhoff aaO), und das Oberlandesgericht Hamm hat angedeutet, sie künftig nicht mehr zu vertreten (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 5. Januar 2012 – III-5 RVGs 81/11, StraFo 2012, 161 m. Anm. Burhoff). Ob ihr im Hinblick auf eine mögliche Kompensation durch nicht entstandene Gebühren zu folgen wäre, kann hier indes dahingestellt bleiben. Denn jedenfalls ist daraus nicht abzuleiten, dass der allgemein anerkannte Grundsatz der Vermeidung von Mehrkosten für die Staatskasse bei einem einvernehmlichen Pflichtverteidigerwechsel (vgl. nur Meyer-Goßner/Schmitt StPO 64. Aufl. § 143a Rn. 31 mwN) sich nur auf die Gebühren nach dem Vergütungsverzeichnis, nicht aber auf etwaige Mehrkosten durch eine Pauschgebühr bezieht. Zwar reichen im Falle einer kostenneutralen Umbeiordnung die durch den Mehrkostenbegriff geschützten Fiskalinteressen nicht weiter, als wenn der Beschuldigte den jetzt gewählten Verteidiger von vornherein bezeichnet hätte und dieser hätte beigeordnet werden können (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 6. Februar 2019 – 2 Ws 37/19, StraFo 2019, 263; OLG Oldenburg, Beschluss vom 21. März 2017 – 1 Ws 122/17, juris). Von dem Mehrkostenbegriff sind aber unzweifelhaft diejenigen Gebührenpositionen erfasst, die durch die Bestellung des neuen Pflichtverteidigers doppelt entstehen würden (OLG Celle aaO; Volpert in: Burhoff/Volpert, aaO, Umfang des Vergütungsanspruchs [§ 48 Abs. 1 S. 1], Rn. 2250 mwN). Das erfasst bei einem Verteidigerwechsel während der Instanz – wie hier – zunächst die Grundgebühr und die Verfahrensgebühren (vgl. Volpert aaO, Rn. 2249 mwN). In diesem Sinn „doppelt entstehen“ würde aber auch eine Pauschgebühr, deren Bewilligung an Verfahrensabschnitte oder Tätigkeiten anknüpft, die mit den – vom Verzicht eindeutig erfassten – Grund- und Verfahrensgebühren abgegolten werden. Es wäre zudem systemwidrig, die Bewilligung einer Pauschgebühr auf die Unzumutbarkeit von gesetzlichen Gebühren zu stützen, auf deren Auszahlung der Verteidiger verzichtet hat.“
Für den Rest müssen dann die Leitsätze reichen – Leitsatz 4 ist der des OLG, der Rest stammt von mir
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- Die Bewilligung einer Pauschgebühr stellt die Ausnahme dar; die anwaltliche Mühewaltung muss sich bei einer Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls von sonstigen – auch überdurchschnittlichen Sachen – in exorbitanter Weise abheben.
- Ein Pauschgebührenantrag kann nur noch bedingt auf vor dem 1.7.2004 ergangene Rechtsprechung gestützt werden.
- Zur besonderen Schwierigkeit in Staatschutzverfahren.
- Ein zur Vermeidung von Mehrkosten für die Staatskasse bei Umbeiordnung erklärter Gebührenverzicht des Verteidigers wirkt sich auch auf die Bewilligung der Pauschgebühr aus. Da dem Pflichtverteidiger für die von dem Verzicht erfassten Verfahrensabschnitte oder Tätigkeiten keine gesetzlichen Gebühren zustehen, können diese Verfahrensabschnitte oder Tätigkeiten auch bei der Bewilligung der Pauschgebühr nicht berücksichtigt werden.
- Nur in Ausnahmefällen ist im Rahmen der Bemessung der Pauschgebühr eine Anhebung der dem Pflichtverteidiger gesetzlich zustehenden Terminsgebühr möglich. Dies kommt in Betracht, wenn an sich in die Hauptverhandlung fallende Vorgänge – etwa das Verlesen von Urkunden durch Anordnung des Selbstleseverfahrens – nach außen verlagert werden oder im Rahmen der Hauptverhandlung neue Unterlagen bekannt werden, die eine intensive Vor- oder Nachbereitung erfordern.
- Die Bejahung einer fast ausschließlichen Inanspruchnahme durch die Hauptverhandlung kommt unter Zugrundelegung einer fünftägigen Arbeitswoche grundsätzlich nicht schon bei Prozesswochen mit zwei ganztägigen Verhandlungen, sondern erst bei solchen mit jedenfalls drei ganztägigen Verhandlungen in Betracht.