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Corona/Haft II: Außervollzugsetzung des Haftbefehls, oder: Der Angeklagte kann doch eh nicht fliehen

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Und als zweite Entscheidung zum Themenbereich „Corona und U-Haft“ stelle ich dann den OLG Hamm, Beschl. v. 16.04.2020 – 4 Ws 72/20 – vor.

Folgender Sachverhalt: Der Angeklagte wurde am 10.04.2019 festgenommen und befand sich seitdem in U-Haft. Im Rahmen der Aktenvorlage gem. §§ 120, 121 StPO hat das OLG mit Beschluss vom 24.10.2019 (3 Ws 461/19) die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus angeordnet. Nach Eröffnung des Hauptverfahrens hat am 21.02.2020 der erste Hauptverhandlungstag stattgefunden. Ein weiterer Hauptverhandlungstag hat am 02.03.2020 stattgefunden.

Mit Beschluss vom 18.03.2020 hat die Strafkammer die Hauptverhandlung ausgesetzt, weil die Hauptverhandlung nicht binnen der Frist des § 229 Abs. 1 StPO fortgesetzt werden könne. Das LG könne nicht hinreichend gewährleisten, dass die Verfahrensbeteiligten (drei Angeklagte, zehn Verteidiger, vier Schöffen, vier Berufsrichter, zwei Staatsanwälte, ein Protokollführer, zwei Wachtmeister) während der Sitzung hinreichend gegen das Risiko einer Infektion mit dem „Corona-Virus“ geschützt werden könnten.

Mit Beschluss vom selben Tag hat das LG den Vollzug der Untersuchungshaft gegen den Angeklagten gegen Auflagen (u.a. Wohnsitznahme unter einen bestimmten Anschrift, Meldung bei einer Polizeidienstelle dreimal pro Woche, Sicherheitsleistung 10.000 Euro) ausgesetzt. Der Angeklagte hat die Kaution noch am selben Tag geleistet und wurde am 18.03.2020 aus der Untersuchungshaft entlassen.

Dagegen dann (natürlich) die Beschwerde der StA, der die GStA Hamm (natürlich) beigetreten ist.

Das OLG hat die Beschwerde als unbegründet verworfen:

„Der Generalstaatsanwaltschaft ist zwar darin zuzustimmen, dass der Angeklagte angesichts der sehr hohen Straferwartung einen hohen Anreiz hat, zu fliehen und es auch tatsächliche Anhaltspunkte dafür gibt, dass er Kontakte ins Ausland unterhält und über finanzielle Mittel jedenfalls im untersten sechsstelligen Bereich verfügt, die – zumindest für eine vorübergehende Zeit – eine Flucht erleichtern könnten.

Es ist allerdings festzustellen, dass jedenfalls zur Zeit die Außervollzugsetzung des Haftbefehls in Verbindung mit den getroffenen Auflagen die Erwartung hinreichend begründet, dass auch so der Fluchtgefahr begegnet werden kann.

Zum einen sind die finanziellen Mittel des Angeklagten, die er auf einer Flucht zur Verfügung hätte, durch die Sicherheitsleistung – wenn auch nur mäßig – vermindert. Durch die Meldeauflage würde eine Flucht des Angeklagten zudem zeitnah auffallen.

Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass diese Auflagen in dem nunmehr rund vierwöchigen Zeitraum seit der Haftentlassung des Angeklagten auch dazu geführt haben, dass er sich dem Verfahren gerade nicht durch Flucht entzogen hat. Eine vom Senat eingeholte Auskunft hat ergeben, dass er sich an die Meldeauflagen bisher gehalten hat.

Vor allem ist aber in der gegenwärtigen Situation Folgendes zu berücksichtigen: Der Angeklagte gehört als über sechzigjährige Person mit einer Asthmaerkrankung zu der von Covid-19 besonders gefährdeten Personengruppe. Bei dieser nimmt die Erkrankung überdurchschnittlich häufig einen schweren bzw. sogar tödlichen Verlauf.  So soll die Sterblichkeitsrate bei den 60-69-jährigen Personen (schon ohne spezielle Berücksichtigung von Vorerkrankungen) bei 3,6% liegen (vgl. : https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1039211/umfrage/sterblichkeit-durch-das-coronavirus-nach-altersgruppen-in-china/). Der Angeklagte wäre aber bei einer Flucht im Vergleich zu einem gegenwärtig empfohlenen bzw. gebotenen (vgl. etwa § 12 Abs. 1 CoronaSchVO NW) kontaktarmen Verhalten zwangsläufig einer erhöhten Zahl von Kontakten ausgesetzt. Weiter ist zu berücksichtigen, dass das Gesundheitssystem in Deutschland augenscheinlich eines der leistungsstärksten ist und mit einer höheren Zahl schwerer Krankheitsverläufe besser umgehen kann als die Gesundheitssysteme der meisten anderen Länder, so dass hier bislang eine vergleichsweise geringe Zahl an Todesopfern zu beklagen ist. Mit einer Flucht ins Ausland würde sich der Angeklagte einer erhöhten Gefährdung aussetzen. Das gilt vor allem vor dem Hintergrund, dass das Land, das nach den Telefonabhörprotokollen als Fluchtland  am wahrscheinlichsten erscheint (insoweit kann auf die Ausführungen in der Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft Bezug genommen werden), Großbritannien, angesichts der Überlastung des dortigen Gesundheitssystem ein besonders hohes Risiko birgt. Die Zahl der tödlichen Krankheitsverläufe ist dort um ein Vielfaches höher als in Deutschland.

Nicht völlig unberücksichtigt bleiben kann auch, dass Grenzübertritte zur Zeit angesichts der zahlreichen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit im In- und Ausland sowie der verstärkten Kontrollen zwar nicht unmöglich, wohl aber erschwert und eher nachverfolgbar sind.

Angesichts dieser Umstände ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass gegenwärtig der Vollzug der Untersuchungshaft nicht erforderlich ist. Das Landgericht wird ggf. zu erwägen haben, ob die von der Verteidigung angebotene Abgabe des Reisepasses des Angeklagten als weitere Auflage anzuordnen ist, wenn die weltweiten Reisebeschränkungen in Zukunft wieder verringert werden sollten.“