Den Opener macht heute der KG, Beschl. v. 29.03.2017 – 1 Ws 19/16. Auf diesen Beschluss habe ich schon länger gewartet, gestern habe ich ihn nun – druckfrisch – bekommen. Es handelt sich um die Beschwerdenentscheidung zum LG Berlin, Beschl. v. 31.03.2016 – (538 KLs) 283 Js 2801/14 29103V (7/15) Kbd1 (dazu: Vorschussanrechnung, oder: Der „Dreh“ der Bezirksrevisorin mit der „wirtschaftlichen Obergrenze“). In der Entscheidung steckt eine Menge Geld für (Pflicht)Verteidiger.
Ich erinnere: In dem Verfahren geht es um die Anrechnung von Vorschüssen/Zahlungen, die der betroffene Kollege als Wahlverteidiger für das Ermittlungsverfahren von seinem Mandanten erhalten hat, auf die gesetzlichen Gebühren, die der Kollege, der später dann zum Pflichtverteidiger bestellt worden ist, für das gerichtliche Verfahren erhält. Es war nach der Anrechnung auf die Gebühren für das Ermittlungsverfahren noch ein „Restvorschuss“ übrig geblieben, den der Bezirksrevisor nun auf die Gebühren für das gerichtliche Verfahren anrechnen wollte.
Ich hatte in dem o.a. ja schon gewettert, dass das nicht geht. Dem steht § 58 Abs. 3 Satz 1 RVg entgegen. Und – so auch das LG Berlin: Etwa anderes ergibt sich auch nicht aus dem durch das 2. KostRMoG eingefügten § 58 Abs. 3 Satz 4 RVG.
Den wollte die Staatskasse analog auf § 58 Abs. 3 Satz 1 RVG anwenden. Aus der Regelung in Satz 4 ergebe sich eine wirtschaftliche Obergrenze. Ich hatte bereits an verschiedenen Stellen – mit dem LG Berlin – eine analoge Anwendung verneint. Das KG sieht das nun ähnlich und kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die Anrechnung eines „Restvorschusses“ auf Gebühren für andere Angelegenheiten nicht zulässig ist. Es kommt zu dem Ergebnis aber nicht über die Frage: Analoge Anwendung ja oder nein?, sondern sieht in § 58 Abs.3 Satz 4 RVG keine allgemeine Anrechnungsreglung, über die die Anrechnung zulässig wäre.
„Die Auslegung des § 58 Abs. 3 Satz 4 RVG ergibt, dass es sich hierbei nicht um eine derartige allgemeine Anrechnungsregelung handelt.
Zwar ließe der Wortlaut der Norm ein solches Verständnis zu. Auch stünde die Gesetzessystematik dieser Auslegung nicht entgegen. § 58 Abs. 3 RVG könnte, worauf die Beschwerdeführerin hingewiesen hat, auch folgendermaßen verstanden werden: Satz 1 enthält lediglich die Grundaussage, dass die in einer gebührenrechtlichen Angelegenheit erhaltenen Vorschüsse und Zahlungen auf die von der Staatskasse für diese Angelegenheit zu zahlenden Gebühren anzurechnen sind. Satz 3 regelt, wie und in welchem Umfang angerechnet wird. Satz 4 schließlich erhöht den nach Satz 3 anrechnungsfreien Betrag auf den Betrag der Höchstgebühr, die der Verteidiger als Wahlanwalt in dieser gebührenrechtlichen Angelegenheit geltend machen könnte, und ermöglicht (bzw. ordnet sogar an), dass der darüberhinausgehende gezahlte Betrag auch auf die anderen gebührenrechtlichen Angelegenheiten, insbesondere die Gebühren des gerichtlichen Verfahrens, angerechnet werden kann.
Eine solche Auslegung widerspräche jedoch dem maßgebenden objektivierten Willen des Gesetzgebers (vgl. dazu nur Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 59. Aufl., Einl. Rdn. 193 m.w.N.). Es fehlen jegliche Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber mit der Einfügung des Satzes 4 eine sich auf andere gebührenrechtliche Angelegenheiten erstreckende Anrechnungsregelung einführen wollte, welche in einem deutlichen Gegensatz zur Rechtslage vor und nach der Novellierung des Anwaltsvergütungsrechts durch das 1. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz gestanden hätte.
Gemäß § 101 Abs. 1 Satz 1 BRAGO waren auf die von der Staatskasse zu zahlenden Gebühren Vorschüsse und Zahlungen anzurechnen, die der Rechtsanwalt vor oder nach der gerichtlichen Bestellung für seine Tätigkeit „in der Strafsache“ von dem Beschuldigten oder einem Dritten erhalten hat. Der Wortlaut und die Gesetzessystematik hätten es zugelassen, diese Norm sehr weit auszulegen und so auch auf die „in der Strafsache“ für die Rechtsmittelinstanz erbrachten Zahlungen auf die Pflichtverteidigergebühren anzurechnen. Gleichwohl entsprach es einhelliger Meinung, dass nur die in ein und derselben Angelegenheit erbrachten Zahlungen anrechnungsfähig waren. Darunter fielen zwar nach damaligem Verständnis das Ermittlungs- und das sich anschließende gerichtliche Verfahren, nicht aber die Rechtsmittelinstanz (vgl. etwa Hartmann, Kostengesetze 33. Aufl., § 101 BRAGO Rdn. 7). Der Gesetzgeber des 1. Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes hat diesen Grundsatz der Anrechenbarkeit ausschließlicher solcher Zahlungen, die in derselben gebührenrechtlichen Angelegenheit geleistet wurden, in der Rechtspraxis vorgefunden und in § 58 Abs. 3 RVG (a.F.) an ihm festgehalten. Der durch das 2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz eingefügte § 58 Abs. 3 Satz 4 RVG hat hieran nichts geändert. Zweck der Vorschrift war es ausweislich der Gesetzesmaterialien (allein), die in Rechtsprechung und Schrifttum streitig gewesene Frage zu klären und zu entscheiden, dass der Pflichtverteidiger neben den vollen Pflichtverteidigergebühren zusammen mit den bereits erhaltenen Zahlungen und Vorschüssen nicht mehr als die Höchstgebühren eines Wahlverteidigers erhalten sollte (vgl. BT-Drs. 17/11471 (neu), S. 270 f. unter Hinweis auf Burhoff in Gerold/Schmidt, RVG 19. Aufl., § 58 Rdn. 71; näher dazu Volpert in Burhoff (Hrsg.), RVG – Straf- und Bußgeldsachen a.a.O., § 58 Abs. 3 Rdn. 59 f.). Ein solcher Fall läge etwa vor, worauf das Landgericht in seiner Nichtabhilfeentscheidung zutreffend hingewiesen hat, wenn ein Pflichtverteidiger an einer mehr als fünfstündigen Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht teilnimmt, dementsprechend der doppelte Betrag aus den Gebühren Nr. 4108, 4110 VV RVG = 660 Euro anrechnungsfrei bliebe, wohingegen dem Wahlverteidiger gemäß Nr. 4108 VV RVG höchsten 480 Euro zustünden. § 58 Abs. 3 Satz 4 RVG ermöglicht es, dass unabhängig von der Regelung des Abs. 3 Satz 3 auch unterhalb des Doppelten der Pflichtverteidigergebühren anzurechnen ist, wenn der Rechtsanwalt seine Vergütung in Höhe der höchstmöglichen Wahlanwaltsvergütung erhalten hat (vgl. auch das Fallbeispiel bei N. Schneider/Fölsch in Schneider/Wolf (Hrsg.), Anwaltkommentar RVG a.a.O., § 58 Rdn. 76).
Ein weitergehender Zweck des § 58 Abs. 3 Satz 4 RVG als der eben genannte hat im 2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz keinen Niederschlag gefunden. Bei dieser Sachlage verbietet sich auch eine analoge Anwendung der Norm. Eine planwidrige Regelungslücke, die Voraussetzung für eine Analogie wäre, besteht nicht.“
Nun, ist mir letztlich egal, wie man zu dem zutreffenden Ergebnis kommt: Ob über die – zu verneinende – Frage, ob § 58 Abs. 3 Satz 4 RVG analog anzuwenden oder über die – verneinte Frage – ob die Vorschrift unmittelbar Anwendung findet, weil sie eine allgemeine Anrechnungsregelung dahingehend enthält, dass Vorschüsse und Zahlungen, die die nach § 58 Abs. 3 Satz 3 RVG verbleibenden Gebühren übersteigen, auch auf Gebühren in anderen Angelegenheiten anzurechnen sind. Entscheidend ist – um es mit Helmut Kohl zu sagen – was hinten raus kommt. Alles andere ist positiver „juristischer Eiertanz“ 🙂 , wobei sich m.E. beide Auffassungen gut vertreten lassen.
Entscheidend für den Verteidiger ist: Angriff der Staatskasse auf die neue Anrechnungsregelung abgewehrt 🙂