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Corona II: Vorlage gefälschter COVID-19-Impfzertifikate, oder: (Allgemeine) Anforderungen an Beweiswürdigung

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Und als zweite (Aufarbeitungs)Entscheidung dann der BayObLG, Beschl. v. 30.05.2023 – 202 StRR 29/23. Das BayObLG nimmt Stellung zu den Anforderungen an die Beweiswürdigung bei einer Verurteilung wegen Urkundenfälschung durch Vorlage gefälschter COVID-19 – Impfzertifikate. Die Ausführungen sind auch allgemein interessant.

Das AG hat die Angeklagte wegen Urkundenfälschung (Tatzeit: 29.11.2021) zu einer Geldstrafe  Euro verurteilt. Die hiergegen gerichtete Berufung der Angeklagten hat das LG als unbegründet verworfen. Dagegen die Revision der Angeklagten, die Erfolg hatte:

„Die zulässige Revision ist weitgehend begründet und führt auf die Sachrüge hin zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang. Die Überzeugung der Berufungskammer hinsichtlich der den Schuldspruch wegen Urkundenfälschung tragenden Feststellungen werden von den im Urteil mitgeteilten Beweistatsachen und der aus diesen gezogenen Folgerungen und dem Beweisergebnis nicht getragen.

1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:

Am Montag, den 29.11.2021 legte die Angeklagte in der A-Apotheke in Aschaffenburg einem/r dortigen Mitarbeiter/in einen auf ihren Namen lautenden angeblichen Impfausweis vor, in welchem sich eine gefälschte Dokumentation über zwei Schutzimpfungen gegen Covid-19 befand. Als angebliches Datum der Impfungen war der 11.10.2021 und der 15.11.2021 eingetragen. In der Rubrik ‚Handelsname und Chargennummer des Impfstoffes (Vignette)‘ befand sich jeweils ein Aufkleber mit dem angegebenen Impfstoff ‚Comirnaty®‘ und die Chargennummer ‚EX3599‘ (11.10.2021) bzw. ‚1D014A‘ (15.11.2021). In der Spalte ‚Art des Impfstoffs (z.B. mRNA, Vektor etc.)‘ war jeweils ‚mRNA‘ eingetragen. In der Rubrik ‚Unterschrift und Stempel des Arztes‘ befand sich jeweils der vorgebliche Arztstempel Dr. med. S. T., B.-Straße 22, Frankfurt a. Main‘ und die angebliche jeweilige Unterschrift des genannten Arztes. Bei dem von ihr in der Apotheke vorgelegten Impfpass handelte es sich – wie die Angeklagte wusste – um eine Totalfälschung. Der angebliche Aussteller der Impfbescheinigung, der Arzt Dr. med. S. T., hatte diese in Wahrheit nicht ausgestellt. Die Angeklagte war in dessen Arztpraxis nicht gegen Covid -19 geimpft worden. Durch die Vorlage des gefälschten Impfnachweises wollte die Angeklagte den/die Apothekenmitarbeiter/in über die angeblich durch den genannten Arzt dokumentierten, tatsächlich jedoch nicht durchgeführten und nicht von dem genannten Arzt bescheinigten Schutzimpfungen gegen Covid-19 täuschen, um ein digitales Impfzertifikat zu erlangen. Der/die Apothekenmitarbeiter/in schöpfte jedoch Verdacht, dass es sich bei dem von der Angeklagten vorgelegten angeblichen Impfausweis – der wie ein echter Impfausweis aussah – um eine Fälschung handelte und stellte kein digitales lmpfzertifikat aus.

2. Die Beweiswürdigung ist in entscheidenden Punkten rechtsfehlerhaft.

a) Zwar ist die Beweiswürdigung Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Ihm allein obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind. Die Prüfung durch das Revisionsgericht ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht nur der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, sie gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder überhöhte Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung gestellt wurden oder sich auf nichtexistierende Erfahrungssätze stützt (st.Rspr., vgl. zuletzt nur BGH, Urt. v. 23.03.2023 – 3 StR 277/22; 16.03.2023 – 4 StR 252/22; Beschl. v. 02.03.2023 – 2 StR 119/22, jew. bei juris; BayObLG, Urt. v. 16.12.2022 – 202 StRR 110/22 bei juris; 16.07.2021 – 202 StRR 59/21 = OLGSt StGB § 306 Nr 2; Beschl. v. 07.06.2022 – 202 ObOWi 678/22 = VerkMitt 2022, Nr 46 = NStZ-RR 2022, 318; 03.02.2022 – 202 StRR 11/22 = NStZ-RR 2022, 119, jew. m.w.N.).

b) Diesen Anforderungen wird die Beweiswürdigung des Landgerichts hinsichtlich der Feststellungen zur inhaltlichen Unrichtigkeit des Impfausweises und zur Ausstellereigenschaft jedoch nicht gerecht. Die diesbezüglichen Ausführungen sind in mehrfacher Hinsicht lückenhaft.

aa) Die Berufungskammer stützt ihre Überzeugung zur Unrichtigkeit des Impfausweises im Wesentlichen darauf, dass nach den polizeilichen Ermittlungen das Verfallsdatum der Impfstoffe im ausgewiesenen Zeitpunkt der (angeblichen) Impfung jeweils bereits abgelaufen war, die Angeklagte bei dem Arzt, der nach dem Inhalt des Impfausweises die Impfung durchgeführt haben soll, nicht Patientin war und die Arztpraxis zu dem (angeblichen) Datum der zweiten Impfung geschlossen gewesen sei, was für sich genommen aus revisionsgerichtlicher Sicht nicht zu beanstanden wäre, weil die gezogenen Schlüsse nur möglich, nicht aber zwingend sein müssen (vgl. nur BayObLG, Beschl. v. 07.06.2022 – 202 ObOWi 678/22 a.a.O.). Allerdings leitet die Berufungskammer die entsprechenden Indizien ausschließlich aus der Verlesung eines polizeilichen Ermittlungsberichts her, ohne dass die Berufungskammer sich von deren Richtigkeit überzeugt hat. Es wird aufgrund der Urteilsgründe bereits nicht ersichtlich, wie die Ermittlungsbeamten zu diesen Ergebnissen gelangt sind, ob sie etwa auf der Befragung von Zeugen oder auf sonstigen Ermittlungshandlungen beruhen, sodass dem Revisionsgericht insgesamt die Nachprüfung verwehrt bleibt, ob die Beweiswürdigung, die nicht etwa der Ermittlungsbehörde, sondern dem Tatgericht obliegt, auf einer tragfähigen, verstandesmäßig einsehbaren Tatsachengrundlage beruht (vgl. hierzu zuletzt BGH, Beschl. v. 20.12.2022 – 2 StR 232/21 bei juris = BeckRS 2022, 46863).

bb) Ungeachtet dessen konnten der oder die Beamten, die den in der Hauptverhandlung verlesenen Ermittlungsbericht gefertigt haben, ohnehin nur Zeugen vom Hörensagen sein, weil auszuschließen ist, dass sie die von der Berufungskammer zugrunde gelegten Indizien aufgrund eigener Wahrnehmung festgestellt haben, es vielmehr naheliegt, dass die Erkenntnisse aufgrund der Befragung von Beweispersonen erlangt wurden. Zwar verbietet die Strafprozessordnung nicht von vornherein die Verwertung derartiger Angaben. Allerdings kann nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung eine Feststellung nur dann auf solche Angaben gestützt werden, wenn sie durch andere gewichtige Gesichtspunkte bestätigt werden (st.Rspr., vgl. zuletzt BGH, Beschl. v. 06.12.2022 – 4 StR 412/22 bei juris = BeckRS 2022, 45562; 24.02.2021 – 1 StR 489/20 bei juris = BeckRS 2021, 8266; 16.12.2020 – 4 StR 297/20 bei juris = NStZ-RR 2021, 78 = BGHR BtMG § 30 Abs 1 Nr 1 Beihilfe 1 = BeckRS 2020, 38057). Hierzu verhält sich das Berufungsurteil indes nicht. Es ist schon nicht erkennbar, ob und gegebenenfalls auf wessen Angaben die Ermittlungsergebnisse beruhen und warum die Auskunftsperson glaubhaft über die festgestellten Umstände berichten konnte. Indizien, die die Angaben stützen können, werden ebenfalls nicht mitgeteilt.

cc) Überdies wird die vom Landgericht zugrunde gelegte Feststellung, dass es sich bei den Eintragungen in dem Impfausweis über die Impfung gegen das SARS-CoV-2-Virus um eine Totalfälschung handelt, nicht beweiswürdigend belegt. Das Landgericht hat offensichtlich aus der inhaltlichen Unrichtigkeit der Eintragungen im Impfausweis ohne weiteres darauf geschlossen, dass sie nicht vom angeblichen Aussteller, also dem Arzt, stammen. Es hat damit der Überzeugungsbildung aber einen Erfahrungssatz zugrunde gelegt, den es nicht gibt (vgl. hierzu zuletzt BayObLG, Beschl. v. 03.02.2022 – 202 StRR 11/22 = NStZ-RR 2022, 119 = BeckRS 2022, 3282). Die Berufungskammer hat von vornherein ausgeblendet, dass gegebenenfalls der Arzt die nicht erfolgten Impfungen tatsächlich bescheinigt haben könnte. Diese Möglichkeit, die nach den Erfahrungen mit Blick auf zu Unrecht von Ärzten ausgestellte Atteste im Zusammenhang mit Befreiungen von der Verpflichtung zur Tragung eines Mund-Nasen-Schutzes keineswegs von vornherein fern liegt, zieht die Berufungskammer gar nicht in Erwägung.“

Urteilsgründe II: Ist „Beweiswürdigung“ denn so schwer?, oder: Thema verfehlt

entnommen wikimedia.org
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Bei der zweiten Entscheidung, die ich zur der heutigen Tagesthematik vorstelle, handelt es sich um den BGH, Beschl. v. 11.03.2020 – 2 StR 380/19. Schon etwas älter, aber ein schönes (?) Beispiel, wie der BGB eine Beweiswürdigung auseinander nehmen kann.

Verurteilt worden ist der Angeklagte wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, wegen sexueller Nötigung und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Verbreitung kinderpornographischer Schriften, sowie wegen Besitzes kinderpornographischer Schriften in Tateinheit mit Besitz jugendpornographischer Schriften. Dem BGH gefällt – wie egsagt – die Beweiswürdigung des LG nun gar nicht:

„a) Zur Abfassung von Urteilsgründen hat der Bundesgerichtshof bereits mehrfach entschieden, dass die Urteilsgründe nach § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben müssen, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden; die Sachverhaltsschilderung soll kurz, klar und bestimmt sein und alles Unwesentliche fortlassen.

Dies gilt gleichermaßen für die Beweiswürdigung. Den gesetzlichen (§ 267 Abs. 1 Satz 2 StPO) Anforderungen an eine – aus sich heraus verständliche (vgl. BGH, Urteile vom 2. Dezember 2005 – 5 StR 268/05, NStZ-RR 2007, 22 und vom 25. Oktober 1995 – 3 StR 391/95, NStZ-RR 1996, 109) – Beweiswürdigung genügt es, klar und bestimmt die für die Überzeugungsbildung des Tatgerichts maßgeblichen Gesichtspunkte im Rahmen einer strukturierten, verstandesmäßig einsichtigen Darstellung hervorzuheben (vgl. bereits BGH, Urteil vom 23. November 1954 – 5 StR 392/54; Beschlüsse vom 21. Juli 2011 – 5 StR 32/11 BeckRS 2011, 22848; vom 25. Oktober 2011 – 5 StR 357/11, NStZ-RR 2012, 18). Als Ergebnis einer wertenden Auswahl des Tatgerichts zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem ist das Beweisergebnis daher nur so weit zu erörtern, wie es für die Entscheidung von Bedeutung ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 7. Dezember 2006 – 2 StR 470/06, NStZ 2007, 720 und vom 30. Mai 2018 – 3 StR 486/17, BeckRS 2018, 13607). Eine Dokumentation des Ermittlungsverfahrens und der Beweisaufnahme ist damit ebenso wenig angezeigt wie die Angabe eines Belegs für jede Feststellung, mag diese in Bezug auf den Tatvorwurf auch noch so unwesentlich sein (vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 25. Juli 2017 – 3 StR 111/17, BeckRS 2017, 123281; vom 4. Oktober 2017 – 3 StR 145/17, BeckRS 2017, 131902; 23. Januar 2018 – 3 StR 586/17, BeckRS 2018, 3956; vom 30. Mai 2018 – 3 StR 486/17, BeckRS 2018, 13607). Neben einem klaren sprachlichen Ausdruck dient die Gliederung der notwendigen intersubjektiven Vermittelbarkeit der bestimmenden Beweisgründe (vgl. bereits BGH, Beschluss vom 18. April 1994 – 5 StR 160/94, NStZ 1994, 400). Dabei sollte durch das Gliederungssystem insbesondere erkennbar sein, auf welche Feststellungskomplexe sich die jeweiligen Ausführungen etwa zur Beweiswürdigung beziehen.

b) Diesen grundlegenden Anforderungen wird das angefochtene Urteil in mehrfacher Hinsicht nicht gerecht. Die Beweiswürdigung der Strafkammer ist revisionsgerichtlich nicht nachvollziehbar.

aa) Es fehlt bereits an einer verständlichen Darstellung des Einlassungsverhaltens des Angeklagten. Es ist unklar, wie sich dieser konkret zu den fünf Tatvorwürfen verhalten hat. Überdies wird – auch aus der Gesamtschau der Urteilsurkunde – nicht deutlich, in welchem Umfang die Strafkammer von einem glaubhaften „Teilgeständnis“ des Angeklagten ausgegangen ist.

….

bb) Da unklar bleibt, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die Strafkammer ein glaubhaftes Geständnis hinsichtlich der Taten zum Nachteil seiner Tochter W. angenommen hat, eröffnen die Urteilsgründe dem Revisionsgericht auch nicht die Prüfung, ob das Landgericht mit Recht seine Überzeugungsbildung nicht an den strengen Anforderungen der Beweiskonstellation „Aussage-gegen-Aussage“ gemessen hat (vgl. hierzu KK-StPO/Ott, 8. Aufl., § 261 Rn. 100 ff.).

…..

cc) Die fehlende Verständlichkeit der Urteilsgründe erstreckt sich auch auf die übrige Beweiswürdigung. Diese differenziert nicht zwischen einzelnen Tatvorwürfen, sondern weist – ohne Absätze oder andere Gliederungen – auf etwa 25 eng bedruckten Seiten in ersichtlich chronologischer Weise aus, was Gegenstand der Hauptverhandlung war (UA S. 9 bis 34). Angaben zu Zeugenaussagen oder anderen Beweisergebnissen sowie gerichtliche (Zwischen-)Würdigungen finden sich zusammenhangslos eingestreut. Eine geschlossene und nachvollziehbare Darstellung etwa zu Zeugenaussagen fehlt, sodass revisionsgerichtlich auch nicht nachvollzogen werden kann, ob die Strafkammer zu recht der „Entstehungsgeschichte der Aussagen“ besondere Bedeutung bei ihrer Würdigung zugemessen hat (UA S. 10, 12, 16, 22).

……

dd) Die mehrfachen pauschalen Bewertungen der Strafkammer, dass die Feststellungen auf den „glaubhaften Angaben aller gehörter Zeugen“ beruhten (UA S. 9) und keine Anhaltspunkte dafür erkennbar gewesen seien, dass „der Angeklagte von irgendeiner Seite zu Unrecht belastet“ worden sei (UA S. 9, 30), ersetzen eine nachvollziehbare Darlegung der diesen Schluss tragenden Gründe nicht. …….“

In der Schule hätte man zusammenfassend geschrieben: Thema verfehlt.