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Pflichti I: Nochmals rückwirkende Beiordnung, oder: Mehr als ein Monat muss für die Bestellung reichen

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Heute ist dann ein Tag mit Pflichtverteidigungsentscheidungen.

Und ich starte mit Entscheidungen zur rückwirkenden Beiordnung. Das ist derzeit der Daruerbrenner bzw. hier liegt m.E. der Schwerpunkt der Rechtsprechung. Zunächst stelle ich jetzt die positiven Entscheidungen vor, die mir in der letzten Zeit geschickt worden sind bzw. auf die ich gestoßen bin.

Aufhänger des Posts ist der LG Aurich, Beschl. v. 05.05.2020 – 12 Qs 78/20. Das AG hatte den Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger bestellt. Dagegen die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft, zu der das LG meint:

„Das Amtsgericht Aurich hat in seinem Beschluss vom 02.04.2020 zu Recht dem Beschuldigten A. J. K. Herrn Rechtsanwalt A. als notwendigen Verteidiger bestellt. Die Voraussetzungen des § 141 Abs. 1 StPO liegen vor.

Um Wiederholungen zu vermeiden, wird zunächst auf die zutreffenden Ausführungen des angefochtenen Beschlusses verwiesen.

Nachdem am 03.02.2020 die Wohnung des Beschuldigten aufgrund eines Verdachts der unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gemäß § 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG durchsucht und der Beschuldigte über den Tatvorwurf belehrt worden war, beantragte sein Verteidiger, Herr Rechtsanwalt A. mit Schreiben vom 10.02.2020 Akteneinsicht, seine Beiordnung als Pflichtverteidiger und erklärte, dass er sein Wahlmandat im Falle einer Beiordnung niederlegen werde. Mit Verfügung vom 18.02.2020 gewährte die Staatsanwaltschaft dem Verteidiger Akteneinsicht, eine Entscheidung über den Beiordnungsantrag durch das zuständige Amtsgericht Aurich erfolgte nicht. Am 11.03.2020 stellte der Verteidiger erneut den Antrag auf Beiordnung als Pflichtverteidiger und beantragte zudem die Weiterleitung an das zuständige Gericht. Die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gemäß § 170 Abs. 2 StPO erfolgte am 13.03.2020 durch die Staatsanwaltschaft Aurich sowie der formlose Hinweis an den Verteidiger, dass die Voraussetzungen für eine Beiordnung gemäß §§ 141, 142 StPO nicht vorliegen, woraufhin der Verteidiger mit Schriftsatz vom 30.03.2020 gerichtliche Entscheidung gemäß § 142 Abs. 4 S. 3 StPO beantragte. Das Amtsgericht Aurich bestellte Rechtsanwalt A. mit Beschluss vom 02.04.2020 als notwendigen Verteidiger.

Die Kammer ist der Auffassung, dass zum Zeitpunkt der Antragstellung am 10.02.2020 ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO vorlag. Darüber hinaus waren auch die Voraussetzungen des § 141 Abs. 1 StPO gegeben.

Soweit in dem Wortlaut des § 141 Abs. 1 StPO von einem Beschuldigten, „der noch keinen Verteidiger hat“, die Rede ist, so vermag dies das Vorliegen der Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung nicht entfallen zu lassen. Denn auch der bisherige Wahlverteidiger kann zum Pflichtverteidiger bestellt werden, wenn dieser die Niederlegung – wie im vorliegenden Fall – für den Fall der beantragten Bestellung ankündigt (vgl. OLG Oldenburg, Beschluss vom 20.04.2009 – 1 Ws 235/09; BeckOK, StPO, § 141, Rn. 2).

Ebenso der Umstand, dass das Ermittlungsverfahren zwischenzeitlich eingestellt worden ist, hindert die Bestellung die Beiordnung nicht. Zwar vertritt auch die Kammer die Auffassung, dass die nachträgliche Beiordnung eines Verteidigers nach dem endgültigen Abschluss eines Verfahrens grundsätzlich nicht mehr in Betracht kommt und ein entsprechender Antrag unzulässig ist (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 141, Rn. 8 m. w. N.). Im Hinblick auf die Intention des Gesetzgebers zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung (vgl. Bundestag-Drucksache 19/13829 und Bundestag-Drucksache 19/15151) muss eine rückwirkende Bestellung allerdings ausnahmsweise zulässig sein, wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung gemäß § 140 Abs. 1, Abs. 2StPO vorlagen und die Entscheidung durch interne Vorgänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte (vgl. LG Mannheim, Beschluss vom 26.03.2020 – 7 Qs 11/20; LG Magdeburg, Beschluss vom 20.02.2020 – 29 Qs 2/20).

So liegt der Fall hier: Der Beiordnungsantrag ist eine Woche nach der durchgeführten Durchsuchung beim Amtsgericht und zwei Tage danach bei der Staatsanwaltschaft eingegangen. Zwischen dem Eingang des Antrages und der Einstellung des Ermittlungsverfahrens ist mehr als 1 Monat vergangen, ohne dass der Antrag beschieden wurde. Eine Weiterleitung an das zuständige Gericht erfolgte erst nach Eingang des dritten Schriftsatzes des Verteidigers vom 30.03.2020. Dies steht insbesondere mit der Regelung des § 142 Abs. 1 StPO in Widerspruch, wonach ein Antrag des Beschuldigten nach § 141 Abs. 1 S. 1 StPO durch die Staatsanwaltschaft unverzüglich mit einer Stellungnahme dem zuständigen Gericht vorzulegen ist.

Weiterhin hat das das Amtsgericht in seinem angefochtenen Beschluss zutreffend ausgeführt, dass die angenommene Unzulässigkeit einer rückwirkenden Pflichtverteidigerbestellung nicht ausnahmslos gelten dürfe. „Der Gesetzgeber sieht gegen die Versagung einer Beiordnung ein Rechtsmittel vor. Die dem Beschuldigten hierdurch kraft Gesetzes gewährte Überprüfungsmöglichkeit darf ihm nicht dadurch entzogen werden, dass der Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung durch Einstellung des Verfahrens überholt wird.“

M.E. zutreffend und wird hoffentlich die Staatsanwaltschaften dazu anhalten, entsprechende Anträge zeitnah vor Verfahrenseinstellung zu bescheiden. Sonst könnte ja tatsächlich noch der Eindruck entstehen, man verzögere bewusst 🙂 .

Zu Thematik ebenfalls ähnlich geäußert haben sich:

Aktenversendungspauschale, oder: Der ortsansässige Verteidiger in Großstädten/Berlin

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Am heutigen Gebührenfreitag weise ich als erstes auf den AG Tiergarten, Beschl. v. 13.12.2018 – (229 Ds) 3021 Js 2985/15 (189/15) hin. Den hatte mit der Kollege Scheiding , der ihn erstritten hat, schon vor meinem Uralub zukommen lassen. Ich kann ihn aber erst jetzt einstellen.

Im Beschluss geht es nicht um große Summe – es geht nur um die Aktenversendungspauschale Nr. 9003 KV GKG – aber: Der Beschluss hat für alle Kollegen in Großstädten Bedeutung. Denn gerade dort wird von der Staatskasse gern die Erstattung der 12 € Aktenversendungspauschale Nr. 9003 KV GKG verweigert mit dem Argument: Ortsansässig. Das ist dort erst recht falsch, m.E. aber auch in anderen (kleineren) Orten. Kurz und knapp dazu das AG Tiergarten:

„Auch bei einem ortsansässigen Verteidiger kann die Aktenversendungspauschale notwendige Kosten der Verteidigung sein (vgl. auch AG Köln Beschluss vom 8.6.2018- 707 Ds 101/15) So liegt es hier: Die einfache Entfernung zwischen der Kanzlei und dem Amtsgericht Tiergarten beträgt laut Routenplaner 18 km, das ist nicht zumutbar. Es ist völlig abwegig, in einer Großstadt das Kriterium der Ortsansässigkeit heranzuziehen, ohne auf die tatsächlichen Verhältnisse abzustellen. Berlin ist nun einmal keine Kleinstadt und nicht alle Verteidiger praktizieren direkt in Nähe des Amtsgericht Tiergarten.“

Die Kollegen in Berlin wird es freuen 🙂 , nun ja, nicht nur die…..

BtM-Bestellung/Handel via Internet, oder: Nichteröffnung aus tatsächlichen Gründen

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Und die dritte Entscheidung kommt dann auch aus Berlin. Der Kollege Schönrock hat mir zur Vervollständigung der Sammlung von Entscheidungen zur Nichteröffnung von BtM-Verfahren mit dem Vorwurf des Handeltreibens – Stichtwort: Internetbestellung/Darknet – den AG Tiergarten, Beschl. v. 20.06.2018 – (268 Ls) 273 Js 5719/16 (56/17) – geschickt. Das AG Tiergarten hat (auch) nicht eröffnet:

„Dem Angeschuldigten wird mit Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Berlin vom 21.08.2017 zur Last gelegt, zwischen dem 30.01. und 02.04.2016 durch vier selbständige Handlungen mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unerlaubt Handel getrieben zu haben (§§ 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG, 53 StGB).

Der Angeschuldigte bestellte an folgenden Tagen über Internet über die

Website „chemical-love. to“ bzw. „chemical-love.cc“ folgende Betäubungsmittel zum Versand an seine Wohnanschrift in der pp. Berlin:

  1. Am 03.01.2016: 50 g Amfetamin
  2. Am 30.01.2016: 100 g Amfetamin und 5 Stück pinkfarbene Tabletten des Wirkstoffes MDMA (3,4-Methylendioxymethamfetamin)
  3. Am 29.02.2016: 100 g Amfetamin
  4. Am 02.04.2016: 100 g Amfetamin

Der Angeschuldigte handelte in allen Fällen in der Absicht, die Substanzen gewinnbringend zu verkaufen. Zudem war ihm jeweils bewusst, dass er nicht über die zum Vertrieb der genannten Substanzen erforderliche Erlaubnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte verfügte.

Verbrechen, strafbar nach §§ 1 Abs. 1 i.V.m. Anlage III, 3 Abs. 1, 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG, 53 StGB

Zwar gibt es eine Packliste, die bei den Betreibern des Webshops „chemical-Love“, aus der sich als billing-address und shipping address der Name und die Anschrift des Angeklagten ergibt. Aus dem bei ihm sichergestellten Lebenslauf des Angeklagten ergibt sich, dass er Amphetamin, Kokain und Heroin konsumierte.

Es kann jedoch nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden, ob der Angeklagte die Betäubungsmittel selbst bestellt und auch tatsächlich selbst erhalten hat. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass er mit Betäubungsmittel Handel getrieben hat. Aus seinem Lebenslauf ergibt sich darüber hinaus nicht, wann er Amphetamin in welchen Mengen konsumiert hat.

Bei der Wohnungsdurchsuchung sind keine Betäubungsmittel sichergestellt worden.

Die Eröffnung des Hauptverfahrens war daher gemäß § 204 Abs. 1 St PO aus tatsächlichen Gründen abzulehnen.“

Wer mehr solche Entscheidungen sucht: Bitte einfach bei der Suche unter „Darknet“ oder „Internet“ suchen. Das gibt dann einige Treffer.

Verkehrsrecht II: Fahruntüchtig?, oder: Wenn der Angeklagte „immer wie ein Pinguin läuft“

entnommen wikimedia.org
Fotograf: Michael Van Woert, NOAA NESDIS, ORA, Feb 1998

Bei der zweiten Entscheidung, die ich vorstelle, handelt es sich auch um ein Urteil, das den Vorwurf einer Trunkenheitsfahrt (§ 316 StGB) zum Gegenstand hat. Das AG Tiergarten hat im AG Tiergarten, Urt. v. 06.11.2018 –  (311 Cs) 3024 Js 6441/18 (145/18) – allerdings eine Trunkenheitsfahrt  abgelehnt und den Angeklagten nur wegen einer Ordnungswidrigkeit nach § 24a Abs. 1 StVG verurteilt. Begründung: Keine sichere Feststellung alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit:

„Der Angeklagte hat sich unwiderlegbar dahin eingelassen, dieser Unfall sei nicht alkoholbedingt gewesen. Es handele sich bei der Brunowstraße, was gerichtsbekannt ist, um eine sehr schmale Straße mit Kopfsteinpflaster, in welcher zwei Fahrzeuge nur schwierig aneinander vorbei kommen. Hier sei es zu einer Berührung mit dem Spiegel des geparkten Fahrzeuges gekommen, wodurch die Spiegelkappe herunter gefallen sei. Er sei ausgestiegen und habe die Spiegelkappe an dem geparkten Fahrzeug wieder befestigt. Ein Schaden sei seiner Meinung nach hierdurch nicht entstanden.

Die Zeugin G. sagte aus, sie sei am Tattag mit der Familie beim Griechen essen gewesen. Sie habe vor dem Lokal gestanden und habe gesehen, dass der Angeklagte sehr langsam gefahren sei und hierbei den Spiegel an dem geparkten Fahrzeug abgebrochen habe. Dies habe er möglicherweise gar nicht gemerkt. Sie habe sich daher mit dem ihrem Schwiegersohn, dem Zeugen H., vor das Fahrzeug des Angeklagten gestellt, um diesen am Weiterfahren zu hindern. Der Angeklagte sei ausgestiegen und habe immer wieder gesagt, es sei doch nichts passiert. Er habe den Spiegel wieder an dem geparkten Fahrzeug befestigt. Alkoholgeruch habe sie bei dem Angeklagten nicht wahrgenommen. Sie habe jedoch Lebenserfahrung und habe an seinen Augen gesehen, dass dieser alkoholisiert ist. Auch habe er eine lallende Sprache gehabt. Dies sei zum einen auf seinen italienischen Akzent, zum anderen auf die Alkoholisierung zurückzuführen.

Der Zeuge H. sagte aus, er sei der Schwiegersohn der Zeugin G. Er habe mit seiner Frau etwas abseits gestanden von den anderen und vor dem italienischen Lokal, wo sie essen gewesen seien, geraucht. Er habe bei dem Angeklagten Alkoholgeruch in der Atemluft wahrgenommen. Dieser habe ein wenig gelallt und auch leicht geschwankt.

Der Zeuge Ho. sagte aus, er sei als Polizeibeamter von den Zeugen zum Unfallort gerufen worden. Die Zeugen hätten ihn darauf aufmerksam gemacht, dass der Angeklagte alkoholisiert ist. Er selbst könne sich heute nicht mehr an Ausfallerscheinungen erinnern. Der Angeklagte habe die Situation nicht ernst genommen, er habe gelacht und mit Humor reagiert. Der Angeklagte sei sehr kooperativ gewesen. Er, der Zeuge Ho., habe an den Fahrzeugen keinen Schaden feststellen können. Da die Zeugen darauf aufmerksam gemacht haben, habe er dem Angeklagten einen AAK-Test angeboten. Dieser habe einen Wert von über 0,9 %o ergeben, so dass eine freiwillige Blutentnahme in der GESA durchgeführt worden sei.

Der Zeuge K. sagte aus, er sei als Polizeibeamter gemeinsam mit dem Zeugen Ho. zum Unfallort gerufen worden. Er könne sich an Ausfallerscheinungen des Angeklagten nicht erinnern. Er wisse jedoch noch, dass der Angeklagte ein lockeres Verhalten gehabt habe. Dass dieser Alkohol zu sich genommen habe könnte, habe ihm die Zeugin Grundmann gesagt.

Die Zeugin P. sagte aus, sie sei mit dem Angeklagten befreundet. Dieser laufe schon immer wie ein Pinguin, seit seiner Operation im Jahre 2013 sei dies noch schlimmer geworden. Der Angeklagte schaukele beim Gehen hin und her.

Die Zeugin F. sagte aus, sie sei die Tochter des Angeklagten. Seit sie ihn kenne, laufe dieser wie ein Pinguin. Dies habe sich seit seiner Herz-OP noch verschlimmert.

Der Gang des Angeklagten wurde in der Hauptverhandlung in Augenschein genommen: Es ist tatsächlich so, dass dieser einen merkwürdigen Gang hat und beim Laufen hin und her schaukelt.

Der Angeklagte hat in der Hauptverhandlung auch gesprochen: Hierbei war festzustellen, das dieser, obwohl er bereits seit 1980 in Berlin wohnhaft ist, nach wie vor einen sehr starken italienischen Akzent hat. Die Aussprache des Angeklagten ist schleppend. Er spricht verwaschen. Diese Art zu sprechen ist seiner italienischen Herkunft geschuldet.

In der Hauptverhandlung wurde des Weiteren der ärztliche Bericht zur Blutentnahme verlesen. Danach wurden durch den Arzt, der die Blutentnahme durchgeführt hat, keine Ausfallerscheinungen festgestellt. Als Gesamteindruck war angekreuzt: „leicht beeinflusst durch Alkohol“.

Zusätzlich hat der Arzt bemerkt: „Beurteilung diffizil, er ist stark erregt und scheint nicht durch Alkohol massiv verändert zu sein“.

Desweiteren wurde in der Hauptverhandlung das Ergebnis der Blutalkoholuntersuchung verlesen. Danach enthielt die Blutprobe, welche dem Angeklagten am 10.02.2018 um 20.35 Uhr entnommen wurde, 0,92 %o Ethanol im Vollblut.

Nach alledem lagen zwar Anhaltspunkte für eine alkoholbedingte Fahruntauglichkeit vor. Diese reichen jedoch für eine Verurteilung wegen einer Trunkenheit im Verkehr gemäß § 316 StGB nicht aus.

Wie das Gericht selbst feststellen konnte, ist der leicht schwankende Gang des Angeklagten offenbar angeboren oder beruht auf orthopädischen Veränderungen, und auch die Sprache des Angeklagten ist kein klares und deutliches Deutsch, sondern eine schleppende, verwaschene Sprache mit einem starken italienischen Akzent.

Auch ist nach dem Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“ davon auszugehen, dass der Unfall nicht alkoholbedingt war, zumal ein solcher Unfall, bei dem beim Vorbeifahren in einer engen Straße der Spiegel eines geparkten Fahrzeuges beschädigt wird, auch einem nicht alkoholisierten Fahrzeugführer passieren kann.“

„Trunkenheitsfahrt“ mit 0,88 Promille, oder: Wenn die Ausfallerscheinungen „nicht reichen“

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Und die dritte und letzte Entscheidung des Tages kommt auch aus Berlin, allerdings nicht aus der Elßholzstraße, also vom KG, sondern vom AG Tiergarten. Es ist das AG Tiergarten, Urt. v. 31.08.2018 – 343 Cs) 3034 Js 7166/18 (112/18).

Angeklagt war eine Trunkenheitsfahrt nach § 316 StGB, das AG hat den Angeklagten aber nur wegen eines Verstoßes gegen § 24a Abs. 1 StVG verurteilt. Grund: Keine ausreichenden Feststellungen zur relativen Fahruntüchtigkeit – der Angeklagte hat eine BAK von 0,88 Promille – möglich:

„II.

Am 11.05.2018 gegen 03:13 Uhr befuhr der Angeklagte mit dem Pkw Porsche, amtliches Kennzeichen, den Olivaer Platz und den Kurfürstendamm in Berlin. Er wies dabei infolge Alkoholgenusses eine Blutalkoholkonzentration von 0,88 Promille auf, was er bei Beachtung der erforderlichen Sorgfalt als Kraftfahrzeugführer hätte erkennen können und müssen. Alkoholbedingte Ausfallerscheinungen, die eine Fahruntüchtigkeit des Angeklagten begründen könnten, ließen sich zur Überzeugung des Gerichts nicht feststellen.

III.

Die vorstehenden Feststellungen ergeben sich zur Überzeugung des Gerichts aus der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung.

Der vertretungsbevollmächtigte Verteidiger, welcher für den abwesenden Angeklagten auftrat, trug zu dessen persönlichen Verhältnisse vor und gab zum Anklagevorwurf keine Einlassung ab. Dass der Angeklagte nicht vorbestraft ist, ergab sich aus dem in der Hauptverhandlung verlesenen, ihn betreffenden Auszug aus dem Bundeszentralregister vom 16.05.2018, welcher keine Eintragungen enthält.

Aus den Schilderungen der Polizeibeamten H. und R. ließ sich zur Überzeugung des Gerichts die Fahrereigenschaft des Angeklagten feststellen und das in der Hauptverhandlung verlesene Gutachten des Landeskriminalamtes vom 14.05.2018 belegte die Blutalkoholkonzentration von 0,88 Promille zum Zeitpunkt der Blutentnahme um 04:30 Uhr. Da über den Zeitpunkt des Trinkendes beziehungsweise der Resorptionsphase keine Feststellungen getroffen werden konnten, war zu Gunsten des Angeklagten von einer Blutalkoholkonzentration von 0,88 Promille zur Tatzeit auszugehen. Darüber hinausgehende alkoholbedingte Fahrfehler beziehungsweise körperliche Ausfallerscheinungen im Hinblick auf eine relative Fahrunsicherheit ließen sich nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Wahrscheinlichkeit feststellen.

Die Zeugen R.und H. berichteten übereinstimmend von ihrer Streifenfahrt, die sie zur Tatzeit auf den Kurfürstendamm in nordöstlicher Richtung geführt habe, als ihnen in Höhe der Kreuzung Kurfürstendamm / Olivaer Platz ein schwarzer Porsche (ppp.) mit lauten Motorengeräuschen und überhöhter Geschwindigkeit entgegengekommen sei. Sie hätten gewendet, die Verfolgung aufgenommen und kurz vor der Kreuzung Kurfürstendamm / Lewishamstraße zu dem Porsche aufgeschlossen. Der Porsche habe nun ohne zu blinken gewendet und sei zurück in Richtung Olivaer Platz gefahren, wo er in die Konstanzer Straße abbog. Der Streifenwagen habe direkt zu dem Porsche aufschließen können, als dieser erneut ohne zu blinken wendete. Bei diesem Wendemanöver hätten die Zeugen bei guter Straßenbeleuchtung erkennen können, dass der Fahrer allein im Fahrzeug gewesen sei. Die Zeugin H. habe den Fahrer in dieser Situation als einen südländisch wirkenden Typ, mit dunklem Hemd und leicht zurückgegelten Haaren wahrgenommen. Übereinstimmend bezeugten beide, es habe sich dabei um die später kontrollierte Person, den hier Angeklagten, gehandelt.

Im Anschluss an dieses Wendemanöver habe der Porsche stark beschleunigt, sei erneut in den Kreuzungsbereich Kurfürstendamm / Olivaer Platz eingefahren und anschließend ohne zu blinken in die Giesebrechtstraße eingebogen. Der Streifenwagen habe nun Probleme gehabt zu folgen, jedenfalls hätten die Zeugen noch erkennen können, wie der Porsche am Ende der Giesebrechtstraße in die Clausewitzstraße eingebogen sei. Selbst mit einer Geschwindigkeit von etwa 70 bis 80 km/h sei es ihnen nicht möglich gewesen, aufzuschließen. Sie hätten den Porsche für rund 10 Sekunden aus den Augen verloren, seien dann ohne Sichtkontakt die Clausewitzstraße Richtung Kurfürstendamm gefahren und dort nach rechts eingebogen. Nach einer nur kurzen Wegstrecke sei den Zeugen auf Höhe Kurfürstendamm Nr. 69 auf der dort befindlichen Parkinsel der Porsche wieder aufgefallen. Als sie sich ihm genähert hätten, sei die Person ausgestiegen, die sie bei dem Wendemanöver in der Konstanzer Straße als Fahrer wahrgenommen hätten. Andere Personen hätten sie im Umfeld des Porsches nicht wahrnehmen können. Bei dem kontrollierten habe es sich um den Angeklagten gehandelt, der beim Aussteigen aus dem Porsche seine Jacke vom Beifahrersitz gegriffen und beim Anziehen derselben erheblich Probleme gehabt habe, den Arm einzufädeln. Der Angeklagte habe eine kräftige Statur gehabt und die Jacke sei eng gewesen. Während des Gesprächs mit dem Angeklagten habe dieser undeutlich, leicht lallend gesprochen und man habe Alkoholgeruch wahrnehmen können.

Die Schilderungen der Zeugen belegen zur Überzeugung des Gerichts die Fahrereigenschaft des Angeklagten. Sie hatten beim Wendemanöver in der Konstanzer Straße beide die Möglichkeit, den Innenraum des Porsches wahrnehmen zu können und erkannten aus kurzer Distanz den später kontrollierten Angeklagten als den Fahrer. Dem steht auch nicht die kurze Zeit entgegen, in dem die Zeugen den Sichtkontakt zum Porsche verloren. Diese Phase war lediglich etwa 10 Sekunden lang und als die Zeugen den Porsche auf der Parkinsel wieder entdeckten, stieg der Angeklagte gerade aus und zog sich anschließend die Jacke. Es ist weder vorgetragen worden noch ansatzweise wahrscheinlich, dass in der kurzen Phase der Sichtunterbrechung ein Fahrerwechsel stattgefunden haben könnte. Da die Zeugen beim Wendemanöver im Porsche lediglich einen Fahrzeuginsassen wahrnahmen, hätte der etwaige Fahrertausch zudem mit einer Person außerhalb des Fahrzeugs stattfinden müssen.

Eine (relative) Fahrunsicherheit des Angeklagten können die Schilderungen der Zeugen hingegen nicht tragen. Bei einer Alkoholisierung von 0,88 Promille müssen aufgrund des Abstands zu der in der Rechtsprechung anerkannten Grenze zur absoluten Fahrunsicherheit (ab 1,1 Promille) zusätzliche Umstände hinzukommen, die einen Rückschluss auf die Fahrunsicherheit nahelegen. Die beschriebene Fluchtfahrt mit lauten Motorengeräuschen, überhöhter Geschwindigkeit und fehlender Anzeige von Wende- beziehungsweise Abbiegmanöver kann zur Überzeugung des Gerichts nicht mit der erforderlichen Sicherheit als alkoholbedingte Ausfallerscheinung gewertet werden. Sofern man sich – aus welchen Gründen auch immer – einer Verkehrskontrolle entziehen will und versucht, dem Streifenwagen zu entfliehen, ist eine solche Fahrweise nachvollziehbar auf die Fluchtintention und nicht unbedingt auf die Alkoholisierung zurückzuführen. Dies muss umso mehr berücksichtigt werden, wenn lediglich eine bußgeldbewehrte Alkoholisierung (0,88 Promille) erreicht wurde und im Übrigen keinerlei Fahrunsicherheiten wie Schlangenlinien oder ähnliches wahrgenommen werden konnten. Auch die während der Kontrollsituation wahrgenommenen Auffälligkeiten rechtfertigen die Annahme einer Fahrunsicherheit nicht. Die Schwierigkeiten des Angeklagten, die Jacke anzuziehen können plausibel mit seiner kräftigen Statur und der eng geschnittenen Jacke in Verbindung gebracht werden. Der Alkoholgeruch deutet lediglich auf die tatsächlich vorhandene Alkoholisierung hin und die undeutliche Aussprache kann bei dem türkischen Angeklagten herkunftbedingt veranlagt sein und lässt für sich genommen keinen sicheren Rückschluss auf eine Fahrunsicherheit zu.“

Also mit einem blauen Auge davon gekommen. Das Urteil ist übrigens rechtkräftig. Die StA Berlin hat, wie mir der Kollege Kroll aus Berlin, von dem die Einsendung stammt, mitgeteilt hat, die von der Amtsanwaltschaft eingelegte Berufung zurückgenommen.