Rechtsfolge II: Strafrahmenwahl/konkrete Zumessung, oder: Gesamtwürdigung fehlerhaft

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Und dann noch eine Entscheidung zur Strafzumessung, aber nichts vom BGH, sondern der OLG Karlsruhe, Beschl. v. 28.02.2024 – 1 ORs 340 SRs 86/24. Über den Beschluss habe ich schon einmal berichtet, und zwar wegen der „beA-Frage“ (s. hier: beA II: beA/elektronisches Dokument im Strafrecht, oder: Wiedereinsetzung, Ersatzeinreichung, Email ).

Nun also noch einmal wegen der Strafzumessung. Das AG hatte den Angeklagten wegen gewerbsmäßigen Bandencomputerbetrugs in 305 Fällen, gewerbsmäßigen Bandenbetrugs in 10 Fällen und versuchten gewerbsmäßigen Bandencomputerbetrugs in 58 Fällen unter Einbeziehung der Strafe von einem Jahr und 6 Monaten aus einem Urteil des AG Frankfurt am Main zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 4 Monaten. Die gegen dieses Urteil vom Angeklagten eingelegte Berufung hat das LG verworfen, wobei es die Gesamtfreiheitsstrafe auf 2 Jahre und 10 Monate reduzierte.

Nach den Feststellungen des LG schloss sich der Angeklagte mit drei weiteren Personen im Jahr 2015 zusammen, um künftig organisiert und arbeitsteilig Krankenkassen betrügerisch zu schädigen und auf diese Weise dauerhaft Einnahmen zu erwirtschaften. Nach dem „Geschäftsmodell“ gründeten die Mitglieder der Gruppierung zwischen 2015 und 2018 eine Vielzahl von oft nur kurze Zeit existierenden Scheinfirmen, bei welchen fiktive Arbeitnehmer zu einem Monatsgehalt zwischen 3.400,- EUR und 5.600,- EUR eingestellt und bei verschiedenen gesetzlichen Krankenkassen (pflicht)versichert wurden. Mit den von den Kassen auf die nichtexistierenden Arbeitnehmer ausgestellten Ausweisen konsultierten Mitglieder der Gruppierung verschiedene Ärzte und erwirkten bei diesen unter dem Namen der Scheinmitarbeiter die Ausstellung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen. Diese reichten sie bei den Krankenkassen ein und erlangten in 305 Fällen im vollautomatisierten Verfahren Aufwendungsersatzleistungen nach dem AAG, Wobei es in weiteren 58 Fällen beim Versuch geblieben sein soll, da die Erstattung durch Verrechnung mit den Beitragsforderungen erfolgte. In 10 Fällen erlangte die Gruppierung Krankengeld, dessen Auszahlung nicht automatisiert, sondern durch Verfügung der Sachbearbeiter der Krankenkassen erfolgte. Auf diese Weise erwirtschaftete die Gruppierung insgesamt mehr als 391.000,- EUR.

Das OLG beanstandet die tatsächlichen Feststellungen als lückenhaft. Zur Strafzumessung heißt es dann:

„2. Auch die Rechtsfolgenentscheidung weist durchgreifende Rechtsfehler auf. Sowohl die Ausführungen des Landgerichts zur Strafrahmenwahl wie auch im Rahmen der konkreten Strafzumessung lassen besorgen, dass das Gericht die erforderliche Gesamtwürdigung nicht in rechtsfehlerfreier Weise vorgenommen hat, weil ein wesentlicher die Taten prägender Gesichtspunkt erkennbar nicht berücksichtigt wurde, zudem in rechtsfehlerhafter Weise Umstände zu Lasten des Angeklagten in die Abwägung eingeflossen sind.

Bei der Prüfung eines minderschweren Falles gem. § 263 Abs. 5 S. 1 2. Alt. StGB und auch – nach dessen Verneinung – bei der konkreten Strafzumessung hat die Kammer zu Lasten des Angeklagten gewertet, dass er die Taten über einen langen Zeitraum und mit einem sehr hohen Gesamtschaden begangen hat, wobei dieser noch in voller Höhe bestehe und nicht einmal teilweise wiedergutgemacht worden sei. Diese Erwägungen lassen nicht nur besorgen, dass dem Angeklagten rechtsfehlerhaft (vgl. Schönke-Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 46 Rn. 57i) das Fehlen eines Milderungsgrundes (Schadenswiedergutmachung) angelastet wurde, sondern auch, dass entgegen § 46 Abs. 3 StGB die Gewerbsmäßigkeit seines Vorgehens als ein die Qualifikation des § 263 Abs. 5 StGB begründendes Merkmal zu seinen Lasten berücksichtigt wurde. Zwar können bei der Strafzumessung Abstufungen bei den Tatbestands- bzw. Qualifikationsmerkmalen nach der individuellen tatschuld vorgenommen werden. Doch hat die Kammer nicht bedacht, dass die gewerbsmäßig begangenen Taten Bestandteil einer Tatserie waren (dieser Aspekt findet lediglich bei der Gesamtstrafenbildung Erwähnung), weshalb eine sinkende Hemmschwelle zu einer Verminderung des Schuldgehalts der Folgetaten führen kann (BGH Urt. v. 20.7.2016 – 2 StR 18/16, NStZ-RR 2016, 368; BGH Urt. v. 28.3.2013 – 4 StR 467/12, BeckRS 2013, 6623), auch wenn diese über einen langen Zeitraum begangen werden. Die Fortsetzung gleichförmig ausgeführter, nicht notwendig von vornherein geplanter Serienstraftaten in großer Zahl und über einen längeren Zeitraum ist daher nicht stets als Hinweis auf eine erhöhte bzw. sich steigernde krimineller Energie zu verstehen. Für eine Herabsetzung der Hemmschwelle des Angeklagten spricht, dass dieser – nach Auffassung der Kammer glaubhaft – bekundet hat, das Ganze sei schleichend immer größer geworden. Als sie gesehen hätten, wie einfach das gegangen sei, hätten sie weitergemacht. Es habe genug Ärzte gegeben, die mit Krankmeldungen schnell dabei gewesen seien, sie seien überrascht gewesen, wie das so einfach funktioniert habe.

Im Übrigen muss die Zumessung der Einzelstrafen bezogen auf das jeweilige durch das begangene Delikt verwirklichte Unrecht erfolgen. Dabei hätte insbesondere die Höhe der Einzelschäden in den Blick genommen werden müssen. Dies ist offensichtlich nicht geschehen, da die Kammer die Einzeltaten durch Festsetzung von Einzelstrafen in identischer Art und Höhe – festgesetzt wurden Einzelfreiheitsstrafen von je einem Jahr und zwei Monaten für die vollendeten Fälle und 58 Einzelgeldstrafen von je 120 Tagessätzen zu je 60,-€ für die versuchten Fälle – „über einen Kamm gebürstet“ hat ohne zu berücksichtigen, dass die Schäden teilweise (wie etwa im Fall 17 mit 67,09 €) im nur zweistelligen, teilweise (wie etwa im Fall 22 mit 7.349,17 €) im vierstelleigen Bereich liegen.

Auch hat die Kammer nicht bedacht, dass die Würdigung der Gesamtheit der Taten bei Bemessung der Einzelstrafen keine Rolle spielt, sondern erst auf der Ebene der Gesamtstrafenbildung zu berücksichtigen ist (BGH Beschl. v. 18.7.2023 – 2 StR 423/22, NStZ-RR 2024, 9). Deshalb hätte die Kammer bei der Strafrahmenfindung und der konkreten Strafzumessung nicht auf den verursachten Gesamtschaden von über 391.000,-€ abstellen dürfen.“

Rechtsfolge I: Mildere Strafe bei versuchtem Mord, oder: Keine Strafmilderung nur bei Erschwerungen

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Und heute dann am letzten Tag im April – vier Monate des Jahres 2024 liegen also schon hinter uns – einige Entscheidungen zu Rechfolgen. Das war schon länger nicht mehr Thema.

Ich eröffne den Reigen mit dem BGH, Urt. v. 01.02.2024 – 4 StR 287/23, über das ich schon einmal berichtet habe (StGB II: Hat der Angeklagte „heimtückisch“ gehandelt?, oder: Überraschen in einer hilflosen Lage). Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen versuchten Mordes zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt. Dagegen die  Revision des Angeklagten, der u.a. auch die Strafzumessung beanstandet. Die zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft ist auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt und macht Erörterungsmängel im Rahmen der Strafzumessung und Maßregelanordnung geltend. Beide Rechtsmittel waren unbegründet:

„….

2. Entgegen der Auffassung der Revision weist die Strafzumessung keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf. Zwar ist im Rahmen der Strafzumessung im engeren Sinne nicht ausdrücklich strafmildernd aufgeführt, dass der Angeklagte sich zur Tat aufgrund der vorangegangenen „Provokation“ durch den Geschädigten entschloss. Der Senat schließt unter den hier gegebenen Umständen jedoch aus, dass dem Tatgericht dieser in den Urteilsgründen mehrfach erwähnte Gesichtspunkt im Rahmen der Strafzumessung aus dem Blick geraten sein könnte. Anderenfalls wäre die mit vier Jahren und neun Monaten eher milde bemessene Freiheitsstrafe nicht verständlich.

III.

Die zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte und wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft hat keinen Erfolg. Strafzumessung und Maßregelanordnung weisen weder einen den Angeklagten begünstigenden noch einen ihn beschwerenden (vgl. § 301 StPO) Rechtsfehler auf.

1. Die Strafrahmenwahl begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Die Erwägungen, mit denen das Landgericht den Strafrahmen des § 211 Abs. 1 StGB gemäß § 23 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB zugunsten des Angeklagten gemildert hat, halten einer rechtlichen Nachprüfung stand. Entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft liegt ein den Bestand des Strafausspruchs gefährdender Erörterungsmangel nicht vor.

a) Nach § 23 Abs. 2 StGB kann der Versuch milder bestraft werden als die vollendete Tat. Ob eine Strafrahmenverschiebung wegen Versuchs gemäß § 23 Abs. 2 StGB in Verbindung mit § 49 Abs. 1 StGB in Betracht kommt, ist vom Tatgericht auf der Grundlage einer Gesamtschau aller Tatumstände und der Persönlichkeit des Täters zu entscheiden (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 2. August 2023 ‒ 4 StR 98/23 Rn. 5; Urteil vom 25. Januar 2023 ‒ 1 StR 284/22 Rn. 16; Beschluss vom 22. Oktober 2019 ‒ 5 StR 449/19 Rn. 8). Dabei ist zu beachten, dass das Vorliegen des vertypten Milderungsgrunds regelmäßig eine geringere Schuld indiziert (vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 922). Eine Versagung der Strafmilderung setzt deshalb erschwerende Umstände voraus, die in den Urteilsgründen im Einzelnen festgestellt und dargelegt werden müssen. Den wesentlichen versuchsbezogenen Umständen (Nähe der Tatvollendung, Gefährlichkeit des Versuchs und aufgewandte kriminelle Energie) kommt im Rahmen der erforderlichen Gesamtschau aller tat- und täterbezogenen Umstände besonderes Gewicht zu (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 15. September 1988 ‒ 4 StR 352/88, BGHSt 35, 347, 355). Eine sorgfältige Abwägung und umfassende Begründung ist insbesondere in Fällen geboten, in denen die Versagung der Strafmilderung wegen Versuchs die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Folge hat (vgl. BGH, Beschluss vom 21. November 2023 ‒ 4 StR 286/23 Rn. 12; Urteil vom 25. Januar 2023 ‒ 1 StR 284/22 Rn. 16; Beschluss vom 22. Oktober 2019 ‒ 5 StR 449/19 Rn. 8; Urteil vom 15. Juni 2004 ‒ 1 StR 39/04).

b) Den sich hieraus ergebenden Darlegungsanforderungen ist das Schwurgericht mit dem knappen, aber tragfähigen Hinweis auf die fehlende Vollendungsnähe gerecht geworden. Die hiergegen von der Revision erhobenen Einwände verfangen nicht. Eine weitere Begründung war unter den hier gegebenen Umständen von Rechts wegen nicht geboten.

2. Die Strafzumessung im engeren Sinne weist ebenfalls keinen Rechtsfehler zum Vorteil des Angeklagten auf. Insbesondere vermag der Senat den Urteilsgründen nicht zu entnehmen, dass das Landgericht ‒ rechtlich bedenklich ‒ die erlittene Untersuchungshaft strafmildernd berücksichtigt hat. Es hat vielmehr zugunsten des Angeklagten bedacht, dass er als Erstverbüßer besonders haftempfindlich ist. Dies begegnet keinen rechtlichen Bedenken (vgl. BGH, Urteil vom 4. Februar 2021 ‒ 4 StR 457/20 Rn. 12).“

Lösung zu: Ich habe da mal eine Frage: Welcher Gegenstandswert bei der Einziehungsgebühr?

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Und dann noch die Lösung des Rätsels vom vergangenen Freitag: Ich habe da mal eine Frage: Welcher Gegenstandswert bei der Einziehungsgebühr?

Es sind ein paar Antworten gekommen auf das ursprüngliche Posting. Ich hatte mich dazu wie folgt geäußert:

„Schauen Sie mal in BGH RVGreport 2019, 77 = AGS 2018, 558 = JurBüro 2019, 75; OLG Nürnberg, Beschl. v. 21.12.2021 – Ws 1149/21, AGS 2022, 185 = StraFo 2022, 175 = JurBüro 2022, 256: OLG Dresden, Beschl. v. 26.10.2023 – 3 Ws 66/23, AGS 2023, 550; LG Berlin, Beschl. v. 5.3.2024 – 511 Qs 5 u. 10/24.

Danach dürfte es mit den 50.000 EUR schwierig werden. Sie können es ja mal versuchen beim OLG (welches?). Dann aber bitte auch bedenken = vortragen, warum beim (dinglichen) Arrest kein Abschlag zu machen ist, da das ja von einem Teil der Rechtsprechung angenommen wird.“

KCanG II: „Drogenfahrt“ nun bis 3,5 ng/ml THC erlaubt?, oder: Das AG Dortmund als Gesetzgeber?

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Und im zweiten Posting zum KCanG dann das AG Dortmund, Urt. v. 11.04.2024 – 729 OWi-251 Js 287/24-27/24. Ich weiß nicht so recht, wie ich mit dem Urteil, das den Betroffenen vom Vorwurf einer Drogenfahrt (§ 24a Abs. 2 StVG) freigesprochen hat, umgehen soll.

Zur Erläuterung vorab: § 44 KCanG enthält einen an eine vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr eingesetzte interdisziplinäre Arbeitsgruppe gerichteten Auftrag. Danach war bis zum 31.03.2024 der Wert einer Konzentration von Tetrahydrocannabinol im Blut vorzuschlagen, bei dessen Erreichen nach dem Stand der Wissenschaft das sichere Führen eines Kraftfahrzeugs im Straßenverkehr nicht mehr regelmäßig gewährleistet ist. In Umsetzung dieses Auftrags hat die Expertengruppe am 28.03.2024 vorgeschlagen, in § 24a StVG einen gesetzlichen Wirkungsgrenzwert von 3,5 ng/ml THC im Blutserum zu verankern. Zudem hat das Gremium unter Hinweis auf die besonderen Gefahren von Mischkonsum vorgeschlagen, für Cannabiskonsumenten ein absolutes Alkoholverbot festzuschreiben, entsprechend der Regelung für Fahranfänger in § 24c StVG.

Ob und wie der Gesetzgeber diesen Vorschlägen folgen wird, muss man mal sehen. M.E. wäre abzuwarten. Aber: Nicht so das AG Dortmund. Das hat den Betroffenen vom Vorwurf einer Drogenfahrt nach § 24a StVG aus tatsächlichen Gründen frei gesprochen. Festgestellt war eine Fahrt mit einem Pkw unter der Wirkung berauschender Mittel, nämlich Cannabis. Entnommen worden war eine Blutprobe, die eine THC-Konzentration von 3,1 ng/ml aufgewiesen hat. Das AG meint:

„Der Betroffene war aus tatsächlichen Gründen freizusprechen.

Der bisherige Grenzwert für § 24a Abs. II StVG lag für Cannabis bei 1,0 ng/ml.

Dabei ist die Situation derart, dass bislang lediglich der Wirkstoff THC in der Anlage zu § 24a StVG genannt ist, jedoch nicht der im Straßenverkehr maßgebliche Grenzwert. Dieser wurde in der Vergangenheit von der Rechtsprechung festgesetzt anhand rechtsmedizinischer Vorschläge.

Im Rahmen des Cannabis-Gesetzes und der Teillegalisierung von Cannabis hat der Gesetzgeber in § 44 KCanG ausdrücklich eine Regelung getroffen, wie weiter zu verfahren ist:

Hiernach sollte eine nach dem Bundesministerium für Digitales und Verkehr eingesetzte Arbeitsgruppe bis zum 31.03.2024 den Wert einer Konzentration von THC im Blut vorschlagen, bei dessen Erreichen nach dem Stand der Wissenschaft das sichere Führen eines Kraftfahrzeuges im Straßenverkehr regelmäßig nicht mehr gewährleistet ist. Diese Arbeitsgruppe hat – allgemein bekannt aufgrund einer Veröffentlichung durch das Bundesministerium für Digitales und Verkehr – den Grenzwert auf 3,5 ng/ml vorgeschlagen. In der Pressemitteilung des Ministeriums heißt es u.a.:

„…Die wissenschaftlichen Experten geben danach folgende Empfehlungen ab:

Im Rahmen des § 24a StVG wird ein gesetzlicher Wirkungsgrenzwert von 3,5 ng/ml THC Blutserum vorgeschlagen. Bei Erreichen dieses THC-Grenzwertes ist nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft eine verkehrssicherheitsrelevante Wirkung beim Führen eines Kraftfahrzeuges nicht fernliegend, aber deutlich unterhalb der Schwelle, ab der ein allgemeines Unfallrisiko beginnt….Bei dem vorgeschlagenen Grenzwert von 3,5 ng/ml THC im Blutserum handelt es sich nach Ansicht der Experten um einen konservativen Ansatz, der vom Risiko vergleichbar sei mit einer Blutalkoholkonzentration von 0,2 Promille. THC im Blutserum ist bei regelmäßigem Konsum noch mehrere Tage nach dem letzten Konsum nachweisbar. Daher soll mit dem Vorschlag eines Grenzwertes von 3,5 ng/ml THC erreicht werden, dass – anders als bei dem analytischen Grenzwert von 1 ng/ml THC – nur diejenigen sanktioniert werden, bei denen der Cannabiskonsum in einem gewissen zeitlichen Bezug zum Führen eines Kraftfahrzeugs erfolgte und eine verkehrssicherheitsrelevante Wirkung beim Führen eines Kraftfahrzeugs möglich ist….“

Das Gericht sieht hierin ein sogenanntes antizipiertes Sachverständigengutachten, dass auch nicht durch anderweitige Vorschläge/Kritik aus Politik, Justiz, Medizin oder dem Bereich der Polizei infrage gestellt wird. Dies gilt umso mehr, dass ausweislich des § 44 KCanG keinerlei weiterer Schritt vorgesehen ist, der die Umsetzung des Grenzwertes in die verkehrsrechtliche Praxis vorsieht. Die aus der Gesetzesbegründung sich insoweit ergebende Absicht einer Kodifizierung des gefundenen Wertes spricht nicht gegen die Anwendung des Wertes bereits zum jetzigen Zeitpunkt.

Die Situation ist nämlich in rechtlicher Hinsicht hinsichtlich des § 24a StVG gleichgeblieben. Lediglich die Risikobewertung hat sich hinsichtlich des Cannabis geändert, so dass der neue Grenzwert von 3,5 ng/l seit dem 01.04.2024 für gerichtliche Entscheidungen maßgeblich ist.“

M.E. zumindest mutig und nicht unbedenklich. Die „Empfehlung“ der Expertenarbeitsgruppe ist also ein „antizipiertes Sachverständigengutachten“ – den Begriff kennen wir aus dem OWi-Recht, wo ihn das OLG Frankfurt am Main bei Messverfahren eingeführt hat? Ach so. Ich sehe da nichts von einem Sachverständigengutachten, sondern zunächst mal nur eine Empfehlung, mehr nicht.

Und wie kommt diese Empfehlung, sorry, das „antizipierte Sachverständigengutachten“, ins Verfahren? Hat man ein Mitglied der Expertengruppe als Sachverständigen gehört? Nein, natürlich nicht, sondern es hat ein Zitat aus der Pressemitteilung (!!!) des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr gereicht. Auch da habe ich erhebliche Probleme. Das AG geht offenbar von „gerichtsbekannt“ oder „allgemein bekannt“ aus. Na ja, ob das stimmt und reicht?

Und es stimmt m.E. auch nicht, dass die Empfehlung nicht durch „Vorschläge/Kritik aus Politik, Justiz, Medizin oder dem Bereich der Polizei infrage gestellt“ wird. Zumindest ist schon mal das „Verkehrspolizeiliche Votum zur Legalisierung von Cannabis und zur
Festlegung eines THC- Grenzwertes“ wohl anderer Auffassung.  Und auch beim “ Bund gegen Alkohol und Drogen im Straßenverkehr“ scheint man anderer Auffassung zu sein. Jedenfalls hat man dort eine kritische „Stellungnahme von Prof. Dr. Daldrup zu dem Ergebnis der im Rahmen des Konsumcannbisgesetzes (KCanG) vom BMDV im Dezember 2023 eingerichteten unabhängigen, interdisziplinären Arbeitsgruppe mit Experten aus den Bereichen Medizin, Recht und Verkehr sowie dem Bereich der Polizei“ auf der Homepage eingestellt. Mehr habe ich dann nicht gesucht. Die beiden „Stellungsnahmen“ zur „Empfehlung“ waren einfach zu finden, wenn man sie finden wilöö. Das AG offenbar nicht.

Ich kann leider derzeit nicht feststellen, ob das Urteil rechtskräftig ist oder ob die StA den Gang zum OLG Hamm unternommen hat. Jedenfalls steht das Urteil ohne Hinweis auf „abgekürzt“ bei NRWE. Es würde mich schon interessieren, was das OLG Hamm dazu sagt, dass der AG sich zum Gesetzgeber aufgeschwungen hat.

Zumindest m.E. ein wenig voreilig. Ich würde mich auf dieses Urteil nicht unbedingt bei anderen AG berufen wollen.

KCanG I: Peinlicher Lapsus (?) beim BGH zum KCanG, oder: Neufestsetzung JGG-Weisungen/Jugendstrafe

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Und dann heute zum Beginn der 18. KW. wie immer besondere Kategorien, und zwar etwas zum KCanG.

Vorab ein kleiner (?) Nachtrag.: Ich hatte am vergangenen Montag über den BGH, Beschl. v. 18.04.2024 – 1 StR 106/24 berichtet (KCanG III: „Nicht geringe Menge“ bleibt bei 7,5 g, oder: Auch beim BGH: Neuer Wein in alten Schläuchen).  In dem macht der BGH ja erste Ausführungen zur „nicht geringen Menge“ bei BtM nach Inkrafttreten des KCanG.

So weit, aber nicht so gut. Denn, wer jetzt den Link in dem Beitrag anklickt, erhätl als Meldung: „Das gewünschte Dokument steht nicht zur Verfügung. Eventuell ist es nicht mehr oder noch nicht freigegeben.“ Nun, richtig ist wohl, dass der BGG das Dokument „nicht mehr …. freigegeben“ hat. Denn er hat es geändert, und zwar an entscheidenden Stellen (vgl. dazu hier bei de legisbus und auch bei LTO). 

Wer die Entscheidung jetzt sucht, findet den BGH, Beschl. v. 18.04.2024 – 1 StR 106/24  zwar auch noch auf der Homepage des BGH, allerdings mit dem Hinweis: „Ursprünglich war versehentlich eine nicht beschlossene Fassung eingestellt; 
siehe auch: Pressemitteilung Nr. 93/24 vom 22.4.2024„. Wer meint, in der PM eine Erklärung des BGH zu finden, ist enttäuscht. M.E. mehr als peinlich für den 1. Strafsenat und ohne weitere Worte.

Dies vorausgeschickt, dann jetzt der AG Eilenburg, Beschl. v. 18.04.2024 – 8 VRJs 144/23 jugzur Neufestsetzung drogenbezogener Weisungen nach Inkrafttreten des CanG bei tatmehrheitlichen Verurteilungen und Anwendung von Jugendstrafrecht. Die heranwachsende Verurteilte iwar im JGG-Verfahren u,a, angewiesen worden, sich in eine stationäre Entgiftungsbehandlung  zu begeben und von dort aus eine Langzeittherapie zu beantragen. Die Verurteilte hatte die drogenbezogene Weisung bislang nicht umgesetzt, was mit auch in einem Anhörungstermin thematisiert worden war. Das AG hat nach Inkrafttreten des KCanG von einer Neufestsetzung der ausgesprochenen Ahndung abgesehen:

„2. Unter Zugrundelegung der nunmehr einschlägigen Regelungen, wäre der rechtskräftig abgeurteilte Sachverhalt vom 24.11.2022 straflos geblieben. Obgleich sich das Verfahren noch in der Vollstreckung befindet, ist von einer Neufestsetzung der ausgesprochenen Ahndung abzusehen. Unter Beachtung des erzieherischen Gedankens im Jugendstrafrecht und der Einheitlichkeit der Rechtsfolgenentscheidung ist im vorliegenden Fall maßgebend, dass der zum Zeitpunkt der Tatbegehung unerlaubte Besitz des Betäubungsmittels Cannabis am 24.11.2022 nur einen nicht ins Gewicht fallenden Beitrag der erkannten Rechtsfolge ausmacht und die Verurteilte Mischkonsumentin auch härterer Drogen (Methamphetamin, GHB, etc.) war und ist. Nicht zuletzt ist dies, nachdem die Verurteilte bereits die angewiesene stationäre Entgiftungsbehandlung nicht angetreten hat, im Rahmen der Anhörung deutlich geworden.“

Und als zweite KCanG-Entscheidung ein weiterer AG-Beschluss, nämlich der AG Heinsberg, Beschl. v. 26.04.2024 – 42 VRJs 79/23 – zur Ermäßigung einer Einheitsjugendstrafe nach dem Inkrafttreten des KCanG. Das AG hat in ihm von einer Ermäßigung einer Einheitsjugendstrafe von 1 Jahr und 3 Monaten abgesehen:

„Eine Ermäßigung der Einheitsjugendstrafe kommt nicht in Betracht. Der Verurteilte wurde durch Urteil des Amtsgerichts Köln vom 23.03.2023, Az. 647 Ls 486/22 wegen Diebstahls in einem besonders schweren Fall in insgesamt 13 Fällen schuldig gesprochen, wobei es in 3 Fällen beim Versuch blieb. Einbezogen wurde das Urteil des Amtsgerichts Köln vom 11.07.2022, Az: 647 Ds 101/22. Dort wurde der Verurteilte wegen versuchten und vollendeten Diebstahls in einem besonders schweren Fall und illegalen Besitzes von Betäubungsmitteln in 3 Fällen schuldig gesprochen. In zwei Fällen ging es um den Besitz von Amphetamin, davon in einem Fall im Rahmen einer natürlichen Handlungseinheit mit einem Joint und damit keiner Tateinheit i.S.d. Art. 313 Abs. 3 EGStGB. Beide Fälle bleiben nach dem CanG auch weiterhin strafbar. In einem weiteren Fall des illegalen Besitzes ging es um den Besitz von nur 0,06g netto Marihuana sowie einen Joint. Angesichts dieser lediglich geringen Mengen und des Tatunrechts der Vielzahl an übrigen Taten war keine relevante Auswirkung auf das Strafmaß gegeben.“

Interessant in dem Zusammenhang ist ein weiterer Beschluss des AG vom gleichen Tag. In dem hat das AG (s. AG Heinsberg, Beschl. v. 26.04.2024 – 42 VRJs 79/23) dem Verurteilten einen Pflichtverteidiger bestellt. Das hat das AG allerdings – leider – nicht näher begründet. Im Beschluss heißt es nur: „§ 140 Abs. 2 SIPO analog„.