Heute dann mal wieder ein Tag des materiellen Rechts, also StGB.
Und ich eröffne mit dem BGH, Beschl. v. 14.04.2020 – 5 StR 10/20 -, der einen Klassiker zum Gegenstand hat, nämlich die Abgrenzung von Diebstahl (§ 242 StGB) und Fundunterschlagung (§ 246 StGB). Das LG hatte den Angeklagten wegen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten führt zur Änderung des Schuldspruchs auf Unterschlagung, zu mehr aber nicht:
„1. Nach den Feststellungen des Landgerichts begegneten der Angeklagte und der freigesprochene Mitangeklagte H. am 1. März 2019 kurz nach Mitternacht auf der Straße dem Geschädigten. Nachdem dieser den Angeklagten gefragt hatte, ob er – der Angeklagte – ihm Drogen verkaufe, kam es aus nicht näher bekanntem Anlass zu einem Gerangel, bei dem niemand verletzt wurde. Im Zuge der Auseinandersetzung entschied sich der Geschädigte zu fliehen, dabei „verlor“ er „von ihm selbst zunächst unbemerkt“ sein Mobiltelefon im Wert von etwa 20 Euro. Dem Geschädigten war bei der Flucht klar, dass er Hab und Gut am Ereignisort zurückgelassen hatte und beschloss schon zu diesem Zeitpunkt, später zurückzukehren und die Sachen wieder an sich zu nehmen. Der Angeklagte und sein Begleiter setzten zunächst ihren Weg fort. Als sie auf ihrem Rückweg am Ort des Geschehens vorbeikamen, „fand“ der Angeklagte das Mobiltelefon des Geschädigten und entschloss sich, dieses an sich zu nehmen, um es für sich zu behalten.
2. Das Landgericht hat das Tatgeschehen als Diebstahl bewertet. Es liege nicht lediglich eine Unterschlagung nach § 246 Abs. 1 StGB vor, da der Gewahrsam des Geschädigten nur gelockert gewesen sei. Denn dieser habe gewusst, dass er das Mobiltelefon am Tatort zurückgelassen hatte, und von vornherein beabsichtigt zurückzukehren und es wieder an sich zu nehmen.
3. Dieser Schuldspruch hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Der Angeklagte hat bei der Ansichnahme des Mobiltelefons keinen für die Erfüllung des Diebstahltatbestandes vorausgesetzten fremden, auch keinen gelockerten Gewahrsam gebrochen.
Gewahrsam ist die von einem Herrschaftswillen getragene tatsächliche Sachherrschaft. Ein einmal begründeter Gewahrsam besteht fort, solange der Gewahrsamsinhaber noch Einwirkungsmöglichkeiten auf die Sache hat. Entscheidend für die Frage des Wechsels der tatsächlichen Sachherrschaft ist, dass der Täter die Herrschaft über die Sache derart erlangt, dass er sie ohne Behinderung durch den alten Gewahrsamsinhaber ausüben kann (BGHSt 16, 271, 273; BGH, Urteil vom 6. März 2019 – 5 StR 593/18, NStZ 2019, 613, 614)
und dieser über die Sache nicht mehr verfügen kann, ohne seinerseits die Verfügungsgewalt des Täters zu brechen. Ob die tatsächliche Sachvorherrschaft vorliegt bzw. wer sie innehat, bemisst sich nach den Umständen des Einzelfalls und den Anschauungen des täglichen Lebens (BGH, Beschluss vom 9. Januar 2019 – 2 StR 288/18, juris Rn. 5; Beschluss vom 21. März 2019 – 3 StR 333/18, NStZ 2019, 726, 727).
Gemessen daran hatte der Geschädigte hier zum Zeitpunkt der Mitnahme des Mobiltelefons durch den Angeklagten keinen Gewahrsam. Dieser war nicht am Ort des Geschehens und so tatsächlich nicht in der Lage, auf das im öffentlichen Raum liegende Mobiltelefon einzuwirken. Vielmehr konnte der Angeklagte ungehindert das Mobiltelefon an sich nehmen.
Zwar kann der Gewahrsam in gelockerter Form fortbestehen, etwa dann, wenn der Gewahrsamsinhaber durch eine Täuschung veranlasst scheinbar kurzfristig einen Gegenstand an den Täter übergibt (vgl. BGH, Urteil vom 12. Oktober 2016 – 1 StR 402/16, BGHR StGB § 242 Abs. 1, Wegnahme 16; BGH, Beschluss vom 24. April 2018 – 5 StR 606/17, juris; BGH, Beschluss vom 13. November 2019 – 3 StR 342/19, juris) oder eine räumliche Entfernung vorliegt, wenn beispielsweise ein Landwirt Geräte auf dem Feld zurücklässt (BGHSt 16, 271, 273; vgl. auch Schönke/Schröder/Bosch, StGB, 30. Aufl., § 242 Rn. 26; SSW-Kudlich, StGB, 4. Aufl., § 242 Rn. 19). Anderes gilt jedoch, wenn der Gegenstand – wie hier – in einem öffentlichen, mithin für jede Person zugänglichen Bereich liegt und der ortsabwesende Geschädigte nicht in der Lage ist, auf die Sache einzuwirken und so die Sachherrschaft gemäß seinem Willen auszuüben.
4. Der Angeklagte hat sich vielmehr wegen einer (Fund-)Unterschlagung nach § 246 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.
Der Senat hat den Schuldspruch des angefochtenen Urteils entsprechend geändert; § 265 StPO steht dem nicht entgegen. Angesichts der vom Landgericht aufgeführten Strafzumessungserwägungen schließt der Senat aus, dass es bei zutreffender rechtlicher Bewertung eine noch mildere Strafe verhängt hätte.“
Wie gesagt: Klassiker, so dass mich die LG-Entscheidung schon ein wenig erstaunt.
Nach den Feststellungen wusste der Geschädigte, wo sein Telefon war bzw. „dass er Hab und Gut am Ereignisort zurückgelassen hatte“. Schaut man da unbefangen in den Kommentar ((BeckOK StGB/Wittig, 46. Ed. 1.5.2020, StGB § 242 Rn. 17), scheint das Ergebnis des LG gar nicht so erstaunlich:
„Die tatsächliche Sachherrschaft endet, wenn sie aufgegeben oder verloren wird. Verlorene Sachen, also solche, von denen der bisherige Gewahrsamsinhaber nicht weiß, wo sie sich befinden, werden, wenn sie außerhalb begrenzter Herrschaftsbereiche (zB auf der Straße) verloren werden, gewahrsamslos (Schönke/Schröder/Bosch Rn. 28). Bei Verlust innerhalb eines begrenzten Herrschaftsbereichs (zB in einem Wirtshaus) ist die Begründung neuen Gewahrsams durch einen Dritten an den verlorenen Sachen (zB durch den Wirt) möglich. Bei vergessenen Sachen, bei denen der bisherige Gewahrsamsinhaber weiß, wo sie sich befinden, besteht der Gewahrsam fort; innerhalb begrenzter Herrschaftsbereiche ist dann Mitgewahrsam zwischen dem alten und dem neuen Gewahrsamsinhaber möglich (Eisele BT II Rn. 37 mwN).“
Wenn Sie dann beim BGH sind, können Sie es ja anders machen.
Und wenn ich dann mal einen Blog betreibe, könnte ich sogar auf Leseranmerkungen eingehen und auf Unterschiede zu Ansichten in Literatur (z.B. Schönke/Schröder/Bosch, 30. Aufl. 2019, StGB § 242 Rn. 28) und Rechtsprechung hinweisen (z.B. auch BGH GA 62, 77: Gewahrsam an dem VOR dem Laden zurückgelassenen Diebesgut)
Kann ich sonst noch etwas für Sie tun? Ich bin doch kein Repetitor und betreibe hier keinen Online-Kommentar. Unfassbar.
Sie könnten etwas weniger schnippisch reagieren, wenn man Ihnen nach geäußerter Überraschung einen Hinweis gibt, _warum_ das LG möglicherweise entschieden hat, wie es entschieden hat ¯\_(ツ)_/¯
Ich reagiere, wie es mir gefällt. Und wenn Ihnen das nicht gefällt, werde ich es ertragen.
Es war doch auch gar nicht nach einer Erklärung für den Inhalt der BGH-Entscheidung (insoweit keine Repetitorenleistung erbeten) oder nach einer Darstellung der zum Thema vertretenen Ansichten (insoweit keine Kommentarleistung erbeten) gefragt. Vielmehr wurde indirekt danach gefragt, wie Sie persönlich Ihre Ansicht, dass die Entscheidung des LG vor dem Hintergrund der Klassikereigenschaft dieser Fallkonstellation „ein wenig erstaunt“, begründen. Ich finde, das kann von einem Blogbetreiber, der u. a. Gerichtsentscheidungen darstellt und diese anschließend – wenn auch kurz – kommentiert, erwartet werden. Sie ermuntern im Text rechts oben selbst zu Kommentaren. Wenn also Ihre Kommentierung im Blogbeitrag eine Diskussion auslöst (wie gerade geschehen), darf der Kommentarverfasser doch mit einer Reaktion Ihrerseits, die inhaltlich auf seinen Kommentar eingeht, rechnen. Die sind Sie aber leider noch schuldig geblieben. Mich würde dies auch interessieren, daher frage ich ausdrücklich: Warum meinen Sie, dass die Entscheidung des LG verwundert?
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