Pflichti I: Wenn alle Zeugen Polizeibeamten sind, dann gibt es einen Pflichtverteidiger

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Heute dann mal wieder ein „Pflichtverteidigungstag“, also drei Entscheidungen zu den §§ 140 ff. StPO, die mir in der letzten Zeit von Kollegen übersandt worden sind. Dafür besten Dank.

Ich starte mit dem LG München I, Beschl. v. 29.01.2019 – 28 Qs 5/19. Dem Mandanten des Kollegen Marquort aus Kiel wirdu.a. Körperverletzung vorgeworfen. Nach der Anklage soll er anlässlich der Durchsuchung seiner Wohnung am 24.11.2017 gegen 22:30 Uhr die Polizeibeamtin PMin pp. beleidigt und den Polizeibeamten PK pp., der ihn fixieren wollte, am Daumen verletzt habe. Als Zeugen für diesen Sachverhalt wurden seitens der Staatsanwaltschaft die bei dem Polizeieinsatz anwesenden Zeugen genannt. Bei diesen handelt es sich allesamt um Angehörige der bayrischen Polizei.

Der Kollege hat Beiordnung beantragt. Die Staatsanwaltschaft hat (natürlich) einen Fall der notwendigen Verteidigung nicht gesehen. Die Sach- und Rechtslage sei nicht schwierig. Allein der Umstand, dass der Geschädigte anwaltlich vertreten sei, genüge für das Vorliegen der notwendigen Verteidigung nicht. Ebenso das AG. Anders dann das LG München I:

1. Es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO vor.

a) Hat sich der Verletzte auf eigene Kosten oder im Wege von Prozesskostenhilfe eines anwaltlichen Beistands versichert, folgt aus diesem möglichen strukturellen Verteidigungsdefizits noch keine zwingende Beiordnungsnotwendigkeit. Notwendig aber auch hinreichend ist eine an den Umständen des Einzelfalls orientierte gerichtliche Prüfung der Fähigkeit des Angeklagten zur Selbstverteidigung, wobei namentlich die rechtlichen Befugnisse des Verletzten einerseits und das Verteidigungsverhalten des Angeklagten sowie die Komplexität von Anklagevorwurf und Beweislage andererseits einzustellen sind. Hierbei kommt insbesondere einer differenzierenden Betrachtung der dem Verletzten im Einzelfall konkret zustehenden rechtlichen Befugnisse besondere Bedeutung zu. Zu bedenken ist, dass der nebenklagende Verletzte mit den in § 397 StPO geregelten prozessualen Gestaltungsrechten sowie mit seinen weitreichenden Informationsrechten (vgl. § 406e Abs. 1 5, 2 StPO) eine mit der Stellung der Anklagebehörde korrespondierende Verfahrensrolle innehat (OLG Hamburg, 1 Ws 160/15, BeckRs 2016. 48, amtliche Leitsätze, vgl. auch § 140 Rdnr. 25 BeckOK StPO, vgl. BT-Drs. 17/6261, 11, wonach eine Einzelfallprüfung stattfinden muss). Dem hierdurch begründeten strukturellen Verteidigungsdefizit kann durch die gerichtliche Fürsorge für den in der Hauptverhandlung unverteidigten Angeklagten nicht in jedem Fall in geeigneter Weide begegnet werden, zumal bei vielfachen gerichtlichen Hinweisen an den Angeklagten erhebliche Verfahrensverzögerungen auch wegen hierdurch veranlasster Ablehnungsgesuche des anwaltlich vertretenen Verletzten zu besorgen sind. Daher begründet die dem anwaltlich vertretenen Nebenkläger gegebene Verfahrensmacht regelmäßig bereits für sich die Annahme eines die Beiordnung erfordernden strukturellen Verteidigungsdefizits, es sei denn die Sachlage ist ausnahmsweise rechtlich wie tatsächlich ganz besonders einfach gelagert (OLG Hamburg, 1 Ws 160/15, BeckRs 2016, 48, Rdnr. 12).

b) Im vorliegenden Fall kann von einer einfachen Sachlage nicht die Rede sein. Der Angeklagte ist nicht geständig. Ihm stehen die Aussagen von mindestens 5 Zeugen gegenüber, die alle wie die Geschädigten pp. und pp. als Polizeibeamte vor Ort waren und daher im Lager des Nebenklägers pp. stehen dürften. Dem Amtsgericht ist zwar zuzustimmen, dass anders als im Fall des LG Bielefeld die rechtliche Würdigung des Widerstands weniger Schwierigkeiten macht. Auch steht dem Angeklagten inzwischen ein umfassendes Akteneinsichtsrecht zu. Das Amtsgericht verkennt aber, dass im Fall des LG Bielefeld der Geschädigte nicht als anwaltlich vertretener Nebenkläger beigetreten war. Das Landgericht hatte bereits allein auf Grund der Vielzahl der Belastungszeugen aus dem Polizeidienst und der rechtlichen Problematik einen Fall der notwendigen Verteidigung angenommen, ohne dass der Geschädigte zusätzlich noch als Nebenkläger mit Anwalt auftrat.

Die oben unter l. 1. a. genannten Grundsätze auf den hiesigen Fall übertragen, führen hingegen zu folgendem Ergebnis: Auch mit umfassendem Akteneinsichtsrecht des Angeklagten liegt auf Grund der anwaltlich vertretenen Nebenklage und der damit einhergehenden Gestaltungsrechte sowie der anstehenden Vernehmungen von mehreren Angehörigen des Polizeidienstes, bei denen es für den Angeklagten gilt, Widersprüche in den Zeugenangaben herauszuarbeiten, ein strukturelles Verteidigungsdefizit und damit ein Fall der notwendigen Verteidigung vor.

c) Die Frage, ob die vom Verteidiger erwähnte Richtlinie, die zwar bereits in Kraft ist, deren Umsetzungsfrist aber noch nicht abgelaufen ist, etwaige Vorwirkungen auf Grund des im Europarecht bestehenden Frustrationsverbots entfaltet und deshalb bei der Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO zu berücksichtigen ist, kann letztlich dahinstehen. Ebenfalls unerheblich ist, dass der Geschädigte bereits eine Zivilklage erhoben hat, für die der Ausgang des Strafverfahrens keine Präjudizwirkung entfaltet.

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