Ich eröffne die 47. KW. mit einem Beschluss des LG Görlitz, den mir in der vergangenen Woche der Kollege Israel aus Dresden übersandt hat mit der Anmerkung, dass es eine „bemerkenswerte“ Entscheidung sei. Dem stimme ich zu bezogen auf die (zutreffenden) Aussagen des LG. Nimmt man den zugrunde liegenden Sachverhalt, dann ist der Beschluss für mich nicht „nur „bemerkenswert“ sondern – ich weiß, manche Kommentatoren mögen diesen Ausdruch nicht – „unfassbar. Und zwar „unfassbar“ sowohl hinsichtlich der (Un)Tätigkeit des Amtsrichters alas aber auch hinsichtlich der der Pflichtverteidigerin.
Es geht nämlich in etwa um folgenden Sachverhalt:
Der Angeklagte war im Hauptverhandlungstermin vom o1.03. 2017 unentschuldigt nicht erschienen. Die zunächst angeordnete Vorführung des Angeklagten scheiterte, so dass auf Antrag der Staatsanwaltschaft bestimmungsgemäß ein Sitzungshaftbefehl gemäß § 230 Abs. 2 StPO erlassen wurde. Aufgrund des erlassenen Sitzungshaftbefehls wurde der Angeklagte am 07.04.2017 dem zuständigen Richter vorgeführt. Der Haftbefehl wurde in Vollzug gesetzt und dem Angeklagten gemäß § 140 Abs. 2 StPO eine Pflichtverteidigerin beigeordnet. Mit Verfügung vom 10.04.2017 wurden die Ermittlungsakten der Pflichtverteidigerin zur Akteneinsicht für drei Tage übersandt und die Wiedervorlage nach einer Woche angeordnet. Diese Verfügung wurde am 13.04.2017 ausgeführt. Die Akten gelangten aus der Akteneinsicht am 25.04.2017 wieder zurück zum Amtsgericht. Mit Verfügung vom 26.04.2017 verfügte der zuständige Richter „zur Terminierung“. In der Folgezeit unternahm die Pflichtverteidigerin nichts. Mit Schreiben vom 27.07.2017 stellte die Staatsanwaltschaft (!!) eine Sachstandsanfrage. Die Geschäftsstelle teilte daraufhin mit, dass ein für den 30.08.2017 abgestimmt gewesen sei, dieser aber aufgehoben werden müsse, da der zuständige Richter in der Woche vorn 28.08.2017 bis 1.09.2017 kurzfristig aus privaten Gründen Urlaub geplant habe.
Am 29.o9.2017 legte der inzwischen beauftragte Wahlverteidiger des Angeklagten Haftbeschwerde gegen Haftbefehl vom 01.03.2017 ein. Der wurde mit Verfügung vom 05.10.2017 von einem inzwischen anderen Richter – der ursprünglich war nach §§ 24 ff. StPO ausgeschieden – aufgehoben. Im neuen Hauptverhandlungstermin vom 26.09.2018 wurde der Angeklagte frei gesprochen. Ein Anspruch auf Entschädigung für die erlittene Sitzungshaft nach dem StrEG wurde verwehrt. Dagegen richtet sich die sofortige Beschwerde des Angeklagten, die mit dem LG Görlitz, Beschl. v. 25.10.2018 – 13 Qs 124/18 – Erfolg hatte.
Das LG schließt sich in seiner Entscheidung zunächst der h.M. in Rechtsprechung und Literatur an und sagt: Auch ein zu Unrecht ergangener Sitzungshaftbefehl nach § 230 StPO und die dadurch verursachte Haft des Angeklagten sind grundsätzlich entschädigungspflichtig nach dem StrEG. Das wird m.E. überzeugend begründet. Ich weiß auch nicht, warum man darum streiten sollte/muss.
Und dann zu § 5 Abs. 3 StrEG:
„Dieser Entschädigungspflicht steht § 5 Abs. 3 StrEG nach Ablauf von drei Wochen nicht mehr entgegen.
Danach ist eine Entschädigung ausgeschlossen, wenn und soweit der Beschuldigte die Strafverfolgungsmaßnahme dadurch schuldhaft verursacht hat, dass er einer ordnungsgemäßen Ladung vor dem Richter nicht Folge geleistet oder einer Anweisung nach § 116 Abs. 1 Nr. 1 bis 3, Abs. 3 StPO zuwider gehandelt hat.
Zwar ist festzustellen, dass die am 1. März 2017 durch den zuständigen Richter angeordnete Sitzungshaft nach § 230 Abs. 2 StPO ordnungsgemäß angeordnet wurde. Der Angeklagte war trotz Ladung unentschuldigt dem Termin ferngeblieben und eine zunächst angeordnete Vorführung blieb erfolglos.
Aufgrund des bestehenden Sitzungshaftbefehls wurde der Angeklagte am 7. April 2017 dem zuständigen Richter vorgeführt und der Haftbefehl wurde in Vollzug gesetzt. An dieser Stelle ist wieder auf den Ansatz der Betrachtung, nämlich das grundgesetzlich geschützte Freiheitsrecht zu schauen. Ein Eingriff in dieses Freiheitsrecht bedarf zwingender Gründe und in allen Fällen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung. Die Inhaftierung nach § 230 Abs. 2 StPO darf ihrem Sinn nach nur auf eine zeitlich eng begrenzte Dauer angeordnet werden. Bei länger andauernden Unterbrechungen der Hauptverhandlung muss gegebenenfalls ein Haftbefehl nach § 112 ff. StPO erlassen werden. Dient der Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO jedoch nur dem Zweck der Gewährleistung der Anwesenheit des Angeklagten in einem neuen oder einem Fortsetzungstermin, so ist der zuständige Richter gehalten, einen solchen Termin unverzüglich anzuberaumen, um der Verhältnismäßigkeit der Mittel gerecht werden zu können. Nur dann, wenn ihm dies in der gebotenen Eile nicht möglich sein sollte, wird der zunächst angeordnete Sitzungshaftbefehl gegebenenfalls in einen Haftbefehl nach §112 ff. StPO umzuwandeln oder aufzuheben sein.
In Rechtsprechung und Literatur sind bisher keine gesetzlichen Höchstfristen für die Dauer der sogenannten „Sitzungshaft“ gemäß § 230 Abs. 2 StPO, noch Grenzen im Spannungsfeld zwischen der Anordnung eines Haftbefehls nach § 230 Abs. 2 StPO und eines Haftbefehls nach § 112 ff. StPO bestimmt worden. Im vorliegenden Fall handelt es sich jedoch um ein einfach gelagertes Strafverfahren, welches zudem bereits durch Verfügung vom 17. Januar 2017 vorbereitet war. Außer dem Angeklagten sind fünf weitere Zeugen geladen worden. Aufgrund der Haftsituation und des einfachen und überschaubaren Strafverfahrens erscheint eine Neuterminierung nach Inhaftnahme des Angeklagten innerhalb von drei Wochen zwingend angezeigt. Tatsächlich hat der zuständige Richter jedoch keinerlei Anstalten einer zügigen Terminierung erkennen lassen. Vielmehr hat er lediglich nach Inhaftnahme des Angeklagten am 7. April 2017 zwar eine Pflichtverteidigerin bestellt und dieser Akteneinsicht für drei Tage gewährt, jedoch keinerlei Terminierungen vorgenommen. Lediglich am 26. April 2017 lässt sich eine Verfügung den Akten entnehmen, nach Rücklauf der Akten aus der Akteneinsicht bei der Pflichtverteidigerin, dass nunmehr die Geschäftsstelle terminieren soll. Auch auf ein Schreiben des Angeklagten aus der Justizvollzugsanstalt Anfang Mai 2017, mit dem Antrag ihm einen Pflichtverteidiger zu bestellen, ergeht lediglich eine Verfügung, dass er bereits eine Pflichtverteidigerin habe und die Wiedervorlage zum Termin erfolgen solle. Der Richter hat in Kenntnis der Haftsituation keinerlei Bemühen erkennen lassen, zügig zu terminieren, noch hat er seine Geschäftsstelle dazu angehalten, was aus dem Umstand hervorgeht, dass ein Termin für den 30. August 2017 abgesprochen war, dieser jedoch wegen eines privaten Kurzurlaubes des Richters wieder aufgehoben werden musste. Die Terminierung selbst lässt sich aus den Akten jedoch nicht nachvollziehen und war in Anbetracht der Inhaftierung am 07. April 2017 deutlich zu spät.
Es ist nicht Aufgabe der Geschäftsstelle die Haftsituation zu erfassen und entsprechend zu reagieren, sondern originäre richterliche Aufgabe.“
Wenn man es liest, mag man es kaum glauben: Hauptverhandlungstermin mit Erlass des Sitzungshaftbefehls am 01.03.2017. Vorführung und Vollzug der Haft ab 07.04.2017 und dann? Nichts bzw. Untätigkeit des zuständigen Richters, der sich offenbar um nichts gekümmert hat und einen von der Geschäftsstelle (!!) für den 30.08.2017 abgesprochenen Termin dann wegen eines kurzfristigen Privaturlaubs wieder absagt. Ergebnis dann endlich, nachdem sich der Wahlverteidiger eingeschaltet hat – auch die Pflichtverteidigerin hatte ja nichts getan: Am 05.10.2017 wird nach fast sechs Monaten (!) die Haft nach § 230 Abs. 2 StPO aufgehoben.
Alles in allem ein Trauerspiel – sowohl für den zunächst zuständigen Richter, der übrigens wegen Besorgnis der Befangenheit zu Recht abgelehnt worden ist – als auch für die Pflichtverteidigerin, die ihren Mandanten in der Sicherungshaft hat sitzen lassen, ohne in der Haftfrage tätig zu werden. Wie gesagt: Unfassbar.
Ach so: Und der Beschluss des LG ist richtig.
Zur Vermeidung genau dieser Folgeprobleme habe ich neulich einen Nicht erschienenen Mandanten selbst von zu Hause abgeholt.
Auch hier war der Angeklagte zur Terminsstunde nicht erschienen. Der Richter erklärte, eine polizeiliche Vorführung würde bei ihm im Sprengel aus Personalnot im Sheriff´s Office eh nie funktionieren und hat meinen Kunden HB-fiziert.
Da der Angeklagte quasi um die Ecke wohnte bin ich dann selbst aktiv geworden.
Die verlorenen Gebühren wurden durch einen zufriedenen Mandanten mehr als aufgewogen.
Perfekt, klappt aber leider nur nicht immer 🙂
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Mal angenommen es wäre kein Freispruch sondern eine Haftstrafe ohne Bewährung rausgekommen. Wie würde das in so einem Fall dann mit der Anrechnung aussehen? Hätte der Mandant „regulär“ in U-Haft gesessen, wäre die ja auf die Strafe angerechnet worden.
„Unfassbar“ finde ich eher die lächerliche Haftentschädigung für den Betroffenen und die fehlende Handhabe gegen die Verantwortlichen.
Solche „Klopper“ passieren halt immer wieder. Ob nun in der freien Wirtschaft oder halt auch bei der Justiz. Letztlich ist es praktisch unvermeidlich. Verantwortliche müssen dann aber bitte auch zur Rechenschaft gezogen werden und Schäden zumindest ansatzweise wiedergut gemacht werden. Und das funktioniert bei der Justiz alles nicht einmal ansatzweisen.
Ich sehe das so: Wer unschuldig im Gefängnis saß, der war für die Zeit zwangsweise 24h am Tag für den Staat tätig. Entsprechend sollte für die Zeit wenigstens ein Mindestlohn gezahlt werden. Das wären dann wenigstens 212.16€ statt die 25€ pro Tag. Und selbst das halte ich noch relativ wenig. Bei einer so langen Haftzeit müssten zusätzlich auch Hilfen (Personell/Finanziell) zur Wiedereingliederung des Betroffenen bereitgestellt werden.
Außerdem haben hier die Pflichtverteidigerin und der Richter m.E. grob fahrlässig gehandelt. Dementsprechend sollte eine Haftentschädigung auch von diesen Personen persönlich getragen werden und nicht aus der Staatskasse. Alle anderen Berufsgruppen müssen für ihr Handeln gerade stehen. Gerade bei Richtern, welche stark in die Grundrechte der Betroffenen eingreifen gilt das nicht so richtig. Wenn man denen nicht genau nachweisen kann, dass sie absichtlich die Grundrechte einer Person eingeschränkt haben, dann passiert praktisch überhaupt nichts.
Und das ist beides „unfassbar“: Es ist ein unfassbar niedrige Entschädigung kombiniert mit einer unfassbar unzureichenden Handhabe gegen die Verantwortlichen.
Während ich den eigentliche Vorgang noch im Bereich des Möglichen sehe: Gegen grobe Fahrlässigkeiten und absichtliche Schadhandlungen hat man schließlich die Justiz erfunden!
Das hat mit dem Beschluss und den zugrunde liegenden Verfahrenstatsachen nur am Rande zu tun,.
Einfach im Volltext des Beschlusses lesen, da steht es…
Wenn ich es richtig entsinne wurden die regelmäßigen Haftprüfungen in der Weimarer Republik eingeführt, weil da mal ein Gefangener (Postminister Höfle) im Knast aus politischen Gründen vergessen wurde und regelrecht daran zugrunde ging. Da war es hier wohl nicht mehr weit von entfernt.
Totalversagen des Richters und insbesondere auch der Pflichtverteidigerin! Was wurde denn aus der? Wurde die zur Rechenschaft gezogen? Wer ein solche Verständnis von Beruf und Verantwortung an den Tag legt gehört in Pflichtsachen gesperrt! Man kann den Ball mehrfach hin und her spielen: Das Gericht hätte das totale Versagen der PfV erkennen müssen und aus Fürsorge entpflichten müssen. Und die PflV hätte ja nur einen zügigen Termin anstreben müssen. Das ist doch nun wirklich nicht so schwer, selbst wenn der Richter kurzfristig in Urlaub geht…
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Da frage mich, was für eine Wiedervorlage dieser Richter hat; wohl keine. Für jeden Anwalt ist funktionierende Fristenkontrolle elementar. Freiheitsentziehende Maßnahmen haben dabei die höchste Priorität. Insbesondere vor Urlaubsantritt ist die Wiedervorlage nochmals zu prüfen, ob es nicht unaufschiebbare Angelegenheiten gibt, die vor Urlaubsbeginn erledigt werden müssen. Sollte eigentlich für einen Richter eine Selbstverständlichkeit sein.
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