Aus dem schier unerschöpflich erscheinenden Bereich/Reservoir der Entscheidungen zu Pflichtverteidigungsfragen weise ich dann hin auf den KG, Beschl. v. 02.09.2016 – 4 Ws 125/16. Es geht um die Umbeiordnung bzw. den einvernehmlichen Pflichtverteidigeraustausch. Dazu liegt das KG auf der Linie der h.M., wenn es dazu ausführt – so der Leitsatz 1 der Entscheidung:
„Ein Pflichtverteidigerwechsel ist auch ohne wichtigen Grund ausnahmsweise zulässig und aus Gründen der gerichtlichen Fürsorgepflicht dann auch geboten, wenn der bisherige Pflichtverteidiger damit einverstanden ist, die Beiordnung des neuen Verteidigers keine Verfahrensverzögerung zur Folge hat und mit dem Verteidigerwechsel keine Mehrbelastung für die Staatskasse verbunden ist.“
Insoweit nichts Neues aus Berlin. Aber der zweite Leitsatz. Auch der ist zwar nicht allgemein neu, aber dazu hatten wir länger vom KG nichts gehört. Nämlich zu der Frage, ob ein Gebührenverzicht des (alten oder neuen) Pflichtverteidigers zur Vermeidung einer Mehrbelastung für die Staatskasse zulässig ist oder nicht. Und das KG sagt/bleibt dabei: Ja, das geht/ist zulässig.
cc) Durch den Pflichtverteidigerwechsel entstehen auch keine Mehrkosten.
(1) Entgegen den Ausführungen in dem angefochtenen Beschluss steht dem bisherigen Verteidiger Rechtsanwalt Fl – unabhängig von der insoweit abgegebenen Verzichtserklärung – die Verfahrensgebühr nach Nr. 4124 VV RVG (die Benennung von Nr. 4142 VV RVG in dem Beschluss beruht ersichtlich auf einem Versehen) nicht zu, auch wenn er für den Angeklagten Berufung eingelegt hat. Die Gebühren Nr. 4124, 4125 VV RVG entstehen mit jeder Tätigkeit, die sich auf die Ausführung des Auftrags der Verteidigung in der Berufungsinstanz richtet (vgl. Hartmann, Kostengesetze 46. Aufl., VV [Anlage zu § 2 Abs. 2 RVG] Nr. 4124-4129 Rdn. 5). Soweit der Verteidiger bereits im ersten Rechtszug tätig war, gelten Nr. 4100 ff. VV RVG nach § 19 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 10 Hs. 1 RVG noch die Einlegung der Berufung nach § 314 StPO einschließlich der diesbezüglichen Beratung ab; die neue Gebühreninstanz beginnt für diesen Verteidiger also erst nach der Einlegung der Berufung (vgl. OLG Bamberg NJW 2006, 1536; Hartmann a.a.O.). So liegt es hier. Über die Rechtsmitteleinlegung hinausgehende Tätigkeiten im Berufungsverfahren hat Rechtsanwalt Fl noch nicht entfaltet.
(2) Auch in Bezug auf die – durch Rechtsanwalt Fl bereits verdiente – Grundgebühr nach Nr. 4100 VV RVG entstehen durch den Pflichtverteidigerwechsel keine Mehrkosten. Ob Rechtsanwalt Dr. Fi diese Gebühr im Berufungsverfahren zusteht, erscheint ohnehin fraglich, weil er sich bereits während seiner Tätigkeit als Wahlverteidiger im ersten Rechtszug in den Rechtsfall eingearbeitet hat – hierzu gehörten insbesondere die Akteneinsicht nach § 147 StPO und zwei Besuche des Angeklagten in der Haft – und die Grundgebühr bezogen auf die Person des Verteidigers nur einmal entsteht (vgl. OLG Frankfurt am Main NJW 2005, 377 – juris Rdn. 7; OLG Jena JurBüro 2006, 365 – juris Rdn. 21 [zu einer abweichenden Konstellation]; eingehend Burhoff in Gerold/Schmidt, RVG 22. Aufl., 4100, 4101 VV, Rdn. 6 ff.; Hartmann, a.a.O., VV Nr. 4100-4101 Rdn. 5 ff.). Jedenfalls aber hat Rechtsanwalt Dr. Fi auf die Geltendmachung der Grundgebühr – ebenso wie auf etwaige Auslagen – wirksam verzichtet.
Der Verzicht ist zulässig (vgl. OLG Oldenburg NStZ-RR 2010, 210; OLG Karlsruhe NStZ 2016, 305; OLG Düsseldorf StraFo 2007, 156 – juris Rdn. 10; OLG Naumburg StraFo 2005, 73). Er widerspricht nicht dem in § 49b Abs. 1 BRAO normierten Verbot der Gebührenunterschreitung; denn dieses betrifft – wie sich aus den Gesetzesmaterialien (BT-Drucks. 12/4993 S. 31) ergibt – ausschließlich den Fall der vertraglichen Vereinbarung über die Höhe der Gebühren, die mit dem Mandanten geschlossen wird und vorsieht, dass ein geringerer Betrag als von der Gebührenordnung vorgesehen zu zahlen ist (vgl. OLG Braunschweig StraFo 2008, 428 und Beschluss vom 9. Juni 2011 – Ws 126/11 –; eingehend OLG Frankfurt am Main NStZ-RR 2008, 47; OLG Bamberg NJW 2006, 1536; Senat, Beschluss vom 11. Mai 2009 – 4 Ws 44/09 –; Hartmann, a.a.O., VV Nr. 4100-4101 Rdn. 9; Burhoff, RVG Straf- und Bußgeldsachen 4. Aufl., Teil A Rdn. 2013 ff., 2155 f., 948 ff.; a.A. OLG Naumburg OLGSt StPO § 142 Nr. 8; HansOLG Bremen NStZ 2014, 358 unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung; OLG Köln StraFo 2008, 348; OLG Jena JurBüro 2006, 365; Festhalten an dieser Rechtsprechung ausdrücklich offen gelassen in OLG Jena, Beschluss vom 11. März 2008 – 1 Ws 87/08 – juris; Kilian in Henssler/Prütting, BRAO 4. Aufl., § 49b Rdn. 19).
Dass ein Pflichtverteidiger auf die Geltendmachung von ihm zustehenden Gebühren gegenüber der Staatskasse verzichten kann, ist allgemein anerkannt (vgl. BVerfG, stattgebende Kammerbeschlüsse [Parallelentscheidungen] vom 4. Mai 2009 – 1 BvR 2251/08 und 1 BvR 2252/08 – jeweils juris, Rdn. 23) und ergibt sich bereits daraus, dass die Festsetzung der aus der Staatskasse zu zahlenden Vergütung nach § 55 RVG einen entsprechenden Antrag des Rechtsanwalts voraussetzt (vgl. OLG Bamberg a.a.O.; Burhoff, a.a.O., Teil A Rdn. 2155). Im Übrigen ist auch der – von der Gegenauffassung für die Unzulässigkeit des Gebührenverzichts angeführte (vgl. eingehend OLG Naumburg OLGSt StPO § 142 Nr. 8 und HansOLG Bremen NStZ 2014, 358; ferner OLG Köln StraFo 2008, 348; NStZ 2011, 654; StV 2011, 659; OLG Jena JurBüro 2006, 365) – Sinn und Zweck des § 49b Abs. 1 BRAO, einen Preiswettbewerb um Mandate in gerichtlichen Verfahren zu verhindern, bei der hier zu beurteilenden Situation nicht berührt. Da der Pflichtverteidigerwechsel nur im Einverständnis mit dem bisherigen Pflichtverteidiger erfolgen kann, ist nicht zu befürchten, dass dieser durch einen Gebührenverzicht des neuen Verteidigers einseitig aus dem Verfahren gedrängt wird (vgl. OLG Frankfurt am Main NStZ-RR 2008, 47; OLG Oldenburg a.a.O.; OLG Karlsruhe a.a.O.). Zudem findet ein Preiswettbewerb im Verhältnis zu dem früheren Verteidiger schon deshalb nicht statt, weil der Gebührenverzicht des neuen Verteidigers nicht zur Folge hat, dass durch seine Bestellung Gebühren eingespart werden; der Verzicht soll lediglich bewirken, dass nicht mehr Gebühren anfallen, als bei Fortführung des Mandats durch den bisherigen Verteidiger ohnehin zu zahlen wären.“