Aufklärungsrüge haben m.E. in der Regel keinen Erfolg. Das liegt u.a. daran, dass gerade hier bei dieser Unterart der Verfahrensrüge die Hürden bei den Revisionsgerichten sehr hoch liegen. Daher ist es schon bemerkenswert, wenn man mal über eine erfolgreiche Aufklärungsrüge berichten kann (insofern passt das Bild nicht ganz 🙂 ). Und das ist mit dem BGH, Beschl. v. 13.07.2016 – 2 StR 116/16 – der Fall:
1. Ungeachtet bestehender Bedenken gegen die Beweiswürdigung des Landgerichts, der Angeklagte sei zumindest Mitbesitzer der auf dem Couchtisch seines Zimmers liegenden Betäubungsmittel, hat die Revision mit einer zulässig erhobenen Aufklärungsrüge Erfolg.
Der den Vorwurf bestreitende Beschwerdeführer beanstandet zu Recht, dass die Strafkammer nicht die bei der Durchsuchung in seinem Zimmer dort angetroffene H. zu den Besitzverhältnissen an dem aufgefundenen Marihuana vernommen hat. Das Landgericht hätte sich dazu gedrängt sehen müssen. H. war zum damaligen Zeitpunkt – wie sich dem Wohnungsdurchsuchungsbericht entnehmen lässt – seit drei Monaten die Freundin des Angeklagten und hielt sich wie der Angeklagte bei der Durchsuchung in dem Raum auf, in dem die Betäubungsmittel auf dem Couchtisch liegend aufgefunden wurden. Sie kam danach durchaus auch als alleinige Besit-zerin des Marihuanas in Betracht, auch wenn die Polizei sie in ihrem Durchsuchungsbericht insoweit nicht als tatverdächtig eingestuft hatte. Sie hätte – entsprechend dem Vorbringen in der Verfahrensrüge – Angaben zu den (unklaren) Besitzverhältnissen machen können. Dementsprechend ist sie in der Anklageschrift auch als Zeugin benannt, der dort ebenfalls als Zeuge aufgeführte Vater des Angeklagten, der sich auch in den von der Polizei durchsuchten Räumlichkeiten aufhielt, wurde im Übrigen von der Strafkammer in der Hauptverhandlung als Zeuge gehört.
Dass H. im Zeitpunkt der Durchsuchung über ihren Hinweis hinaus, sie sei die Freundin des Angeklagten, weitere Angaben nicht machen wollte und im weiteren Ermittlungsverfahren auch zu keinem Zeitpunkt als Zeugin vernommen worden ist, lässt die Aufklärungspflicht hinsichtlich der den Besitz an den Betäubungsmitteln begründenden Umständen nicht entfallen. H. stand kein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO zur Seite; Anhaltspunkte dafür, dass sie sich in einer Hauptverhandlung möglicherweise auf ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO berufen könnte, sind der Akte nicht zu entnehmen.
Schließlich steht auch der Umstand, dass ein entsprechender Beweisantrag des Angeklagten in der Hauptverhandlung nicht gestellt worden ist, dem Erfolg der Rüge nicht im Weg. Die Aufklärungspflicht besteht grundsätzlich unabhängig vom Prozessverhalten der Verfahrensbeteiligten, die Rüge einer Verletzung der Aufklärungspflicht kann deshalb nicht daran scheitern, dass der Beschwerdeführer die vermisste Aufklärung in der Hauptverhandlung nicht verlangt hat (BGH NStZ-RR 2002, 145); dies gilt insbesondere dann, wenn sich das Erfordernis weiterer Sachaufklärung – wie hier dargelegt – schon aus Umständen ergibt, die vom Vorbringen der Verfahrensbeteiligten unabhängig ist (vgl. Krehl, KK-StPO, 7. Aufl., § 244 Rn. 32; s. wohl auch Becker, LR-StPO, 26. Aufl., § 244 Rn. 362, dazu Fn. 1777).“
Also: Ohne „wenn und aber“ – noch nicht einmal der nicht gestellte Beweisantrag hat an dem Erfolg der Rüge gewackelt.
Und eine weitere Besonderheit: Der BGH verweist nach § 354 Abs. 3 StPO an das Amtsgericht zurück. Sieht man auch nicht so häufig.
Für mich als nervigen Laien: Heißt dass jetzt, dass es prozeßtaktisch zum Standard werden wird, dass ein (potentieller) Entlastungszeuge, sofern er „bei den Akten“ ist und vom Gericht nicht befragt wurde, auch besser vom Verteidiger nicht befragt wird. Zumindest wenn es noch andere Entlastungszeugen könnte man sich dann so ja immer einen Weg zur Revision aufhalten. Klar, man wird auch darlegen müssen, warum der Zeuge denn hätte entlastend sein können, aber so grundsätzlich…
Ah, und noch was: Wenn man sich auf § 55 StPO beruft, kann einem das ja nicht (in einem späteren Verfahren z. B.) nachteilig ausgelegt werden (hoffe ich zumindest mal). Aber kann es dem Angeklagten hier zum Vorteil ausgelegt werden?
@WPR(…): Das dürfte wohl jedes mal zu einer „Zitterpartie“ führen, da der Amtsermittlungsgrundsatz auf Seiten des Gerichts mit dem Grundsatz der „möglichst effektiven Verteidigung“ auf Anwaltsseite konkurriert. Hier ist es jedenfalls mal „gut gegangen“ (jetzt ständige BGH-Rechtsprechung oder wieder einmal nur „Einzelfall“? 😉 ).
Und zum Thema § 55 StPO: wenn sich der Zeuge darauf beruft dürften zumindest „begründete Zweifel“ i.S.d. in-dubio-Grundsatzes gesäht sein.
@ WPR_bei_WBS: Prozesstaktisch zum Standard wird das sicher nicht, da – wie der Kollege Burhoff zu Recht anmerkt – an die Begründung einer Aufklärungsrüge in der Revision hohe formale und materielle Anforderungen gestellt werden. Der Revisionsführer muss zunächst lückenlos die Dokumente vorlegen, aus denen sich (ohne weiteren Blick in die Akte) ergibt, dass sich das Gericht von Amts wegen dazu hätte gedrängt fühlen müssen, den Zeugen im Interesse der Sachaufklärung auch ohne Beweisantrag zu vernehmen. Da der BGH hier sehr pingelig ist, scheitern solche Revisionsrügen oft schon daran, dass der BGH irgendeine Anlage an der Revisionsschrift vermisst. Ist die formale Hürde genommen, muss es dann der BGH auch noch genau so sehen wie die Verteidigung, dass nämlich der Zeuge zur ordnungsgemäßen Sachaufklärung wirklich nötig war. Auch hier sind die Hürden durchaus hoch und die Entscheidung ist im Einzelfall schwer vorherzusehen. Fazit: Wenn ich als Verteidiger gegen Ende der Beweisaufnahme nach deren bisherigem Verlauf noch mit einer Verurteilung meines Mandanten rechnen muss und auch nur den Hauch einer realistischen Chance sehe, dass eine Zeugenaussage dem Angeklagten nützen wird, dann stelle ich den Beweisantrag und spekuliere nicht auf den äußerst ungewissen Erfolg der Aufklärungsrüge. Den aktenkundigen möglichen Entlastungszeugen für die Revisionsrüge in Reserve halten ergibt allenfalls dann Sinn, wenn ich insgeheim weiß, das der Zeuge nicht zu Gunsten meines Mandanten aussagen wird (etwa, weil der Zeuge dem Angeklagten gesagt hat, was er ggf. vor Gericht aussagen würde), in allen anderen Fällen wäre es ein unverantwortliches Hasardspiel zu Lasten des Mandanten (und damit auch eine Haftungsfalle, wenn es schiefgeht).
Und hier haben wir m.E. auch noch die Besonderheit, dass der BGH es nicht am fehlenden Beweisantrag hat scheitern lassen